Théâtre Ombre de Lutèce - Teil 3

Autor: Ananas
veröffentlicht am: 13.08.2011


„Verlassen Sie sofort mein Haus!“
„Madam, sie könnte eine Zeugin sein, wir müssen mit ihr sprechen!“
„Ich habe gesagt, Sie sollen verschwinden!“
Ich liege in mindestens zwanzig Decken gehüllt in meinem Bett und lausche, wie sich meine aufgebrachte Tante mit ihrer schrillen Tauben-Stimme mit der Polizei streitet. Es ist früh am Morgen und ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan. Nachdem die Männer mich aus dem Fluss gefischt haben, brachten sie mich in das Stadthaus meiner Tante Cassandra, wo ich während meines Aufenthaltes in London wohne. Die halbe Nacht habe ich sie sorgenvoll durchs Haus laufen und mit den Dienstmädchen reden hören, nachdem sie mich aufgewärmt und ins Bett gesteckt hat. Noch nie habe ich sie so aufgebracht erlebt wie in den letzten Stunden. Und nun sind die Polizisten hier, um mich nach dem gestrigen Abend zu befragen. Wohlhabende Mädchen landen nicht einfach so in Flüssen und stoßen dann zufällig auf Leichname von Bekannten.
Gott, wie das klingt. Leichnam. Ich fühle mich wie betäubt, wenn ich daran denke. Simon... Mein Verstand wehrt sich dagegen, zu glauben, dass er tot ist. Unbewusst schüttele ich den Kopf und drehe mich auf die andere Seite.
Das Ereignis des Abends, dass ich am deutlichsten in Erinnerung habe, erscheint mir am unmöglichsten. Emmas Tod, unsere überstürzte Flucht aus dem Theater. Christels blutige Haarnadel, das eisige Wasser. Alles verblasst vor dem Hintergrund von Simons totem Gesicht. Ich kann es einfach nicht fassen.
Ich erinnere mich an den Ball im Spätsommer, wo wir uns kennen gelernt haben, als ich frisch nach London gekommen war. Wie wir getanzt haben, wie er mir beim Spazieren den Arm anbot. Seine Augen, als er mein Haar berührte. Das Kribbeln in meinem Bauch dabei.
Ich schließe die Augen und versuche weitere Erinnerungen zu vertreiben. Mein Gesicht verzerrt sich, doch ich schaffe es nicht zu weinen. Ich war in Simon verliebt gewesen, aber dann ließ er mich fallen. Natürlich musste er das, seine Eltern hatten für ihn lange zuvor eine Verlobte vorgesehen. Eine Französin. Ich verstand es. Er erklärte es mir, wir redeten und trennten und als Freunde. Ich verstand es wirklich, so ist das in der Gesellschaft nun mal, aber Simon war – so kitschig der Gedanke sich für mich anhört – meine erste Liebe. Und jetzt ist er tot.
„Madam, wir werden nicht eher gehen, als dass wir Ihre Nichte gesprochen haben!“ beharrt der Polizist.
Eine kleine Pause folgt. Schließlich lenkt meine Tante ein. Zumindest ein wenig. „Sie haben zehn Minuten, meine Herren. Danach werden Sie sich zum Teufel scheren und nie wieder hier blicken lassen.“
„Mehr als zehn Minuten werden wir nicht brauchen, Ma\'am,“ entgegnet der Mann.
Ich höre meine Tante verächtlich schnauben und etwas über Unverschämtheiten murmeln, während sie die Tür aufschließt. „Zehn Minuten,“ wiederholt sie. „Und wehe, Sie zerren das arme Mädchen aus dem Bett.“
„Danke,“ erwidert eine zweite Männerstimme.
Dann öffnet sich die Tür. Ich drehe den Kopf in die Richtung und sehe zwei Uniformierte eintreten.
„Guten Morgen, Miss Temple,“ grüßt der erste. Er wirkt riesig in dem kleinen Zimmer.
Ich deute im Liegen ein Nicken an.
„Wir müssen Ihnen einige Fragen zu den Geschehnissen der letzten Nacht stellen, Miss. Das Ganze ist von äußerster Dringlichkeit, andernfalls würden wie Sie nicht so früh am Morgen damit damit belästigen,“ fährt er fort. „Dürfen wir uns setzen?“ Er deutet auf die beiden Stühle neben meinem Bett.
„Sicher,“ antworte ich leise.
Der erste wirkt auch im Sitzen noch riesig und kommt mir kalt vor, irgendwie verbissen. Ich kann mir bildlich vorstellen wie er sich selbst in seinen Tagträumen, sofern er sich jemals welche gestattet, als einen berühmten Marineadmiral sieht, der durch ein Meer von Verbrechen segelt und sein Regiment von inkompetenten Matrosen mit eiserner Hand zu führen versucht. Er allein, hartgesotten und gegen einen finsteren Sturm.
Erst, als er sich setzt, sehe ich den zweiten Mann. Er trägt eine Aktentasche, die er, nachdem er sich hingesetzt hat, auf dem Schoß öffnet und Papier und Schreibzeug hervorholt. Ich erkenne ihn, es ist der Mann mit dem feuerrotem Haar, der mich aus dem Wasser geholt hat.
„Mein Name ist Thomas Davis, ich bin Chef Inspektor und ermittele in diesem Fall,“ stellt sich der Admiral vor, nicht ohne einen gewissen Stolz über den Titel. „Mein Kollege ist Inspektor Daniel Connor. Er wird Ihre Aussage protokollieren. Haben Sie irgendwelche Einwände? ...Nein? Gut. Ihr voller Name Lautet Elizabeth Temple, ist das korrekt?“
Ich schüttele den Kopf. „Elisabeth Marie Temple.“
„Connor, berichtigen Sie bitte.“ Davis räuspert sich kurz und scheint nachzudenken, während der Rothaarige schreibt.
„Danke, Madam. Nun weiter, wir kommen zur eigentlichen Befragung, um Ihnen möglichst wenig Ihrer kostbaren Zeit zu rauben. Sind Sie einverstanden?“ fragt er höflich.
„Selbstverständlich, Herr Inspektor,“ willige ich in ebenso förmlichem Tonfall ein.
„Nun, zuallererst stellt sich die Frage, wie Sie letzte Nacht in den Fluss gelangt sind?“ will er wissen.
Ich blicke hoch zur Decke, die beiden Männer warten auf meine Antwort. „W-wie ich in dem Fluss gelandet bin?“
„Ja, Madam, wenn es Ihnen nichts ausmacht.“ Admiral Davis bleibt ausgesprochen höflich, doch ich merke, dass seine Geduld sehr begrenzt ist.
Ich kann meine Nervosität nicht völlig verbergen. Den Inspektoren die Wahrheit zu erzählen ist überhaupt keine Option. Nach allem, was gestern Nacht geschehen ist, bin ich mir völlig sicher, dass Diskretion das oberste Gebot ist.
„Verzeihen Sie, Mister Davis, doch leider kann ich mich nicht mehr daran erinnern. Ich... habe eine Beule am Kopf, ich muss ihn mir gestoßen haben...“ improvisiere ich. Zum Teil stimmt das sogar.
Davis Augen werden schmal. „Ich verstehe, Miss Temple,“ sagt er resigniert. Kurz überlegt er und setzt neu an. „Dennoch muss ich Sie fragen: Wie wir gesehen haben, trugen Sie... Abendkleidung. Sind Sie ausgegangen, ohne dass Ihre Tante davon wusste?“
Schamesröte steigt mir ins Gesicht. Ich räuspere mich. Was für eine vulgäre Anschuldigung. „Mister Davis, bei allem Respekt, Sie erwarten doch wohl nicht, dass ich auf eine solche...“ beginne ich.
„Entschuldigen Sie mich bitte vielmals, Miss Temple,“ sagt er schnell, bevor ich meinen Satz beenden kann. Er sucht schnell nach den richtigen Worten, offensichtlich nicht gewöhnt an umständliche Höflichkeiten. „Ich wollte Sie keineswegs beleidigen. Uns ist allen klar, dass eine anständige junge Dame wie Sie...“
„Ja,“ sage ich.
„Gibt es vielleicht jemand anderen, der an dem Abend...“
„Mister Davis!“ unterbreche ich ihn nun fast schon ungehalten und leicht schockiert, wie er es einfach weiter versucht. „Wie ich bereits erwähnte, kann ich mich nicht mehr an den Verlauf des Abends erinnern.“
„Mit Verlaub, Miss Temple, an irgend etwas müssen Sie sich doch erinnern können.“ Er beugt sich ein wenig vor. Langsam ist seine Geduld am Ende und er glaubt mir kein Wort.
„So leid es mir tut, Inspektor, das kann ich nicht. Ich bin im Moment sehr erschöpft,“ sage ich in einem besänftigenden Tonfall, und es tut seine Wirkung. Schließlich habe ich ihn gerade darauf verwiesen, auf wie schamlose Weise er meine Ruhe gestört hat.
„Natürlich, verzeihen Sie uns,“ sagt er hastig und macht eine beschwichtigende Geste.
Ich erwidere nichts.
„Miss Temple, wir haben noch eine letzte Frage an Sie,“ beginnt er mit mehr Feingefühl. Jetzt kommt er zum heiklen Thema. „Nachdem man Sie gefunden hatte, haben Sie durch eine Unachtsamkeit unsererseits – wer würde so einen Anblick einer Dame zumuten wollen – einen Blick auf den eigentlichen Grund unserer Anwesenheit am Fluss erhascht.“
Abwesend nicke ich.
„Nun, leider konnten wir... keinen Hinweis auf die Identität des... Verstorbenen finden. Sie jedoch schienen ihn erkannt zu haben. Wir möchten Sie keineswegs mit einem Thema belästigen, dass Ihnen unangenehm sein könnte – vor allem nicht in Ihrem...jetzigen... Zustand. Jedoch sehen wir uns gezwungen, Sie nach dem Namen zu fragen, um seine Angehörigen informieren zu können. Es wäre uns wirklich eine große Hilfe, wenn Sie...“ Schließlich bricht er ab.
Irgendwie habe ich den Eindruck, er spricht nicht oft mit Frauen, oder um genauer zu sein mit Damen. Das Umgehen unangenehmer Wörter oder Ausdrücke und die notwendige Höflichkeit scheinen dem Admiral große Mühe zu bereiten.
Ein dicker Kloß sitzt in meinem Hals, als ich antworten möchte. Wenn ich an Simons totes Gesicht denke, fühle ich mich wie gelähmt. Ich räuspere mich so gut es geht und bringe seinen Namen hervor: „Simon Doyle.“
„Vielen Dank, Miss Temple,“ sagt Davis nach kurzem Schweigen. „Sie waren uns wirklich eine große Hilfe. Wir werden Sie jetzt nicht weiter belästigen und Sie Ihrer wohlverdienten Ruhe überlassen. Auf Wiedersehen.“ Mit diesen Worten steht Davis auf und macht zwei Schritte Richtung Tür. Connor packt schnell das Papier, auf dem er Protokoll geführt hat, in die Aktentasche und folgt Davis.
„Warten Sie!“ raune ich.
Die beiden Inspektoren bleiben stehen und sehen sich kurz an, dann wendet Admiral Davis sich wieder zu mir und blickt mich fragend an.
„Was ist mit ihm passiert?“
Davis lässt sich lange Zeit damit, zu antworten. Er scheint mit sich selbst zu hadern. „Wollen Sie das wirklich wissen?“ fragt er mit grimmigem Tonfall.
Schnell nicke ich. Ich höre Davis seufzen. „Das ist wirklich nichts, womit ich eine junge Dame wie Sie belasten möchte.“
„Bitte, Mister Davis.“
Er seufzt erneut, sieht zu Boden. „Gut, wenn Sie es so wollen, Miss Temple. Darf ich ganz offen zu Ihnen sprechen?“
„Nur zu,“ sage ich nach kurzen Zögern
Als der Admiral mich nun wieder ansieht, sind seine Augen raue See, kein Mitleid darin. „Der Junge hat sich erschossen, Miss.“





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