Théâtre Ombre de Lutèce

Autor: Ananas
veröffentlicht am: 05.08.2011


Hier ist der erste Teil meiner Geschichte. Kleiner Hinweis vorweg: Das ganze ist als richtig lange Geschichte angelegt und es wird sich um einen Mord drehen. Liebe aber wird natürlich immer wieder Auftauchen ;)
Hoffe es gefällt euch, viel Spaß beim Lesen



London, 1889

Die Droschke eilt unter Hufgeklapper durch die verwinkelten Straßen des Londoner East Ends, bis die schließlich an einem Hinterhaus zum Stehen kommt. Drei Gestalten steigen aus dem Wagen, zuerst eine männliche, die zwei Frauen die Hand reicht und ihnen aus der Droschke hilft. Das Rascheln von Röcken ist zu Hören, als die kleine Gruppe zu einer schmalen Treppe einer Hinterhauses läuft.
Von der Seite musste das geheimnisvoll aussehen. Ich raffe meinen Rock, als ich hinter Christel und ihrem Vetter hereilend die Treppe erklimme. Es war ein ziemlich hohes Gebäude, vielleicht eine ehemalige Lagerhalle.
„Du musst sie jetzt aufziehen,“ flüstert mir Christel ins Ohr und kichert, als wir oben sind.
Sie hat ihre Maske bereits auf. Eine farbenprächtige Komposition aus filigranen, glänzenden Verzierungen, Perlen, Federn und Seidenbändern, die perfekt auf Christels gelbes Kleid abgestimmt sind. Nur ihren braunen Augen sind darunter zu erkennen. Christel nimmt mir die Maske aus den behandschuhten Händen, weil ich zögere, und stellt sich hinter mich, um sie mir aufzusetzen. Als sie fertig ist, grinst sie schelmisch und umrundet mich.
„Eine Schönheit, nicht wahr William?“ fragt Christel lachend ihren Cousin und stupst ihn spielerisch mit dem Ellbogen in die Seite.
Leider bin ich mir meiner Erscheinung nicht halb so sicher. Das Kleid, was ich trage, ist von Christel und viel zu gewagt, als ich mich damit jemals ohne Maske sehen lassen könnte, die Schultern kaum bedeckt und der Ausschnitt erst! Ich fühle mich fast nackt. Und das im East End und ohne Anstandsdame! Man könnte mich glatt für eine Prostituierte halten! Wenn meine Tante das wüsste, würde sie mich wahrscheinlich enterben und für den Rest meines Lebens in mein Zimmer einsperren. Zum tausendsten Mal frage ich mich, wieso ich mich von Christel zu diesem „kleinen Ausflug“ habe überreden lassen. Ich riskiere hier nicht nur Unschuld und Ehre sondern auch im wahrsten Sinne des Wortes Kopf und Kragen, schließlich sind wir hier im East End in den tiefsten Slums.
Trotz der Maske erkennt Christel mein Entsetzen. „Es ist alles in Ordnung,“ sagt sie lächelnd und tätschelt auf mütterliche Weise meine Hand. „So fühlt sich jeder, wenn er das erste Mal herkommt. Es wird alles gut, ich verspreche es dir, ja?“ meint sie mit einer honigsüßen Stimme.
Langsam nicke ich und bekomme dafür ein strahlendes Lächeln von Christel geschenkt. Ihr Charme ist wirklich überwältigend. Christel Abbot ist ein gutes Stück älter als ich, vermutlich schon Mitte zwanzig und hat immer noch nicht geheiratet, was ihr langsam zum Problem wird. In ein paar Jahren findet sie überhaupt keinen Mann mehr – Charme hin oder her.
„Gehen wir rein,“ fordert Will und deutet auf eine schmale, vermoderte Holztür.
Darüber bin ich nur zu erleichtert, die Gasse stinkt entsetzlich nach Pferdeäpfeln, Urin und Abfall. William klopft mit dreimal an die Tür und wartet. Jemand antwortet von der anderen Seite mit ebenfalls dreimal Klopfen, dann sucht William nach etwas in seinen Taschen und holt schließlich einen alten, rostigen Schlüssel hervor, den er in ein für mich unsichtbares Loch in der Tür steckt, die sich kurz darauf knarrend öffnet. Lichtstrahlen fallen in die Gassen, ich kann Stimmen und leise Musik von drinnen hören.
„Schönen Abend,“ höre ich eine warme Frauenstimme grüßen.
„Guten Abend, Emma,“ grüßt William zurück und scheint der Frau etwas hinzuhalten, das ich nicht erkennen kann.
Wir warten noch eine Minute, dann betritt William – vermutlich auf ein Zeichen hin – das Gebäude.
„Willkommen, Miss Abbot. Die Vorstellung fängt gleich an,“ begrüßt Emma Christel, die ebenfalls eintritt und mir den Blick auf die Dame freigibt.
Sie ist schön. Auf den ersten Blick ebenso wie auf den zweiten. Ich stocke. Mit dem dunklen Haar, den grauen Augen und dem hellen Teint sieht sie mir fast ähnlich, würde ihr Gesicht nicht wie das in Alabaster gemeißelte Antlitz einer griechischen Göttin aussehen. Ihr Erscheinungsbild wird vor einem geheimnisvollen Lächeln und dem exotischem Kleid, das sie trägt, verfeinert. Es mutet asiatisch an, ist aufreizend, ohne den Betrachter des Spielraums der Fantasie zu berauben. Sie trägt Kirschblüten im Haar und ihre Lippen sind wahnsinnig rot geschminkt. Ich möchte guten Abend wünschen, doch ihr Anblick schüchtert mich ein.
„Das ist unsere Begleiterin, Miss Temple,“ stellt William mich vor.
Emma lächelt. „Willkommen in unserem bescheidenem Theater, dem Varieté Ombre De Lutèce, Miss Temple,“ sagt sie und neigt höflich den Kopf.
„Vielen Dank,“ erwidere ich höflich lächelnd und folge dann Christel und William ins Innere.
Wir folgen ein paar Meter lang einem schmalen, dunklen Gang, bis wir einen schweren, roten Samtvorhang an der rechten Seite erreichen erreichen. Dahinter sind Stimmen zu hören. Ich möchte Christel etwas sagen, bevor wir hindurch gehen, aber sie hat den Vorhang bereits geöffnet. Ich bin nervös, meine Hände schwitzen unter den Handschuhen.
Licht von Gaslampen dringt hindurch. Wir betreten einen kleinen Balkon, was ungewöhnlich ist. Normalerweise kommt man von unten in das Theater. Sind wir durch einen privaten Eingang gekommen?
Auf dem Balkon steht einem runden Tisch mit mehreren Stühlen. Unter uns ist der eigentliche Saal des Theaters. Vorne die große, von roten Vorhängen verborgene Bühne und davor der Zuschauerraum, in dem sich anstatt von Sitzreihen Tischgruppen und kleine Sofas finden. Alles ist in einem dunklen Rotton gehalten und von Gaslampen erleuchtet. Es wimmelt nur von feinen Damen und Herren, die das kleine Theater ausfüllen, alle tragen Masken und unterhalten sich angeregt. Eine erwartungsvolle Spannung liegt in der Luft.
„Beth, setz dich,“ meint Christel zu mir.
Anstatt ihrer Aufforderung zu folgen trete ich an den Rand des Balkons und beobachte die bunten, maskierten Gestalten, bis ein Mädchen, das ein Kleid trägt, das Emmas sehr ähnlich ist, herumgeht und diese löscht, sodass Kerzen das Gaslicht ablösen. Die Gäste – Herren in Anzügen und Damen in Korsetts, Reifröcken und bunten Kleidern, die nicht weniger gewagt wirken, als meines – setzen sich langsam hin. Die Masken machen es unmöglich die Träger zu erkennen und nun empfinde ich meine Maske auch als Schutz. Ich fühle mich immer noch fast nackt, doch so weiß zumindest niemand, dass ich es bin – vor allem nicht, solange wir hier oben auf dem Balkon sind.
Ich drehe mich zu Christel und Will um, die beide ebenfalls sitzen und beschließe, es ihnen gleichzutun. Der Rock raschelt und ich spüre Christels gespannten Blick auf mir.
„Das wird dir gefallen,“ meint sie und grinst schelmisch, während die Deckenlampen erlöschen. Sie blickt kurz nach oben und fängt dann an, an den Schnüren ihrer Maske zu ziehen, bis sie sich öffnen und Christels Gesicht wieder zum Vorschein kommt. Sie legt die Maske auf den Tisch und nickt mir aufmunternd zu.
Unsicher sehe ich ihre Maske, die auf dem Tisch liegt, an. Ich will meine nicht abnehmen, sodass jeder mein Gesicht sehen kann.
„Komm schon,“ sagt Christel mit forderndem Blick. Ich zögere weiter. „Jetzt nimm sie schon ab und sei nicht so störrisch,“ drängt sie.
Ich gebe seufzend nach, auch wenn meine Hände etwas zittern. Ich fühle mich unwohl, aber ich will nicht vor Christel dastehen wie eine ängstliche, dumme Gans. Sie sieht mich als ihren Schützling, auch wenn sie mich an einen noch so verbotenen und sicherlich sündhaften Ort nimmt und sie wird ungern enttäuscht. Ich schlucke, als ich mein Gesicht entblöße und sehe zuerst nervös zu dem Vorhang, durch den wir reingekommen sind und dann in den Zuschauerraum.
Christel lächelt milde. „Süße,“ sagt sie mit zuckersüßer Stimme und streichelt meinen Arm zur Beruhigung. „Es kommt hier niemand rein außer Freunden und die da unter können dich nicht sehen, vertrau mir,“ versichert sie und lächelt amüsiert.
Es beruhigt mich nicht und ich würde mir zu gerne ein Jäckchen überwerfen, auch wenn das Licht fast gelöscht ist. Doch dann lenkt mich der sich öffnende Vorhang ab. Das Licht auf der Bühne fällt so, dass wir nur die Silhouette der Frau erkennen können, die dort steht, aber ich bin sicher, es ist Emma. Nach einer Minute drehen die Scheinwerfer und da steht sie, wunderschön und strahlend im Lichtkegel. Eine knisternde Spannung ist zu spüren, das Publikum ist gebannt von ihr, ebenso wie ich. Wie kann ein einzelner Mensch so eine Wirkung haben? Bewunderung und Neid regen sich in mir und alle hängen an ihren Lippen, als sie spricht.
„Meine Damen und Herren,“ grüßt sie mit glänzenden Augen. „Ich heiße sie im Namen des Theaters im Varieté L'Ombre de Lutèce herzlich willkommen!“ Applaus ertönt im Saal, ich starre gespannt auf die Bühne.
„Erneut freuen wir uns darauf, unseren Gästen eine Vorstellung jenseits des Möglichen zu präsentieren und wünschen einen unvergesslichen Abend,“ fährt Emma fort, gewinnt das Publikum mit einem reizenden Lächeln für sich. Sie macht einen Knicks auf der Bühne und als sie wieder hoch sieht, scheint der ganze Raum im Bann ihres Blickes zu stehen.
Und dann geschieht alles ganz langsam. Ich höre von irgendwoher einen Knall. Emmas berauschend roter Mund öffnet sich, doch ihre Stimme geht in dem Geräusch eines Schusses unter. Ihre Augen hören auf, Funken zu sprühen und werden weit vor entsetzen. Auf dem dunkelblauen Kleid erscheinen drei dunkle Flecken, die langsam größer werden. Emma hält sich die Hand an den Bauch. Etwas rotes tropft zu Boden, dann bricht Emma zusammen. Der Vorhang fällt.





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