Liebe mich - Teil 3

Autor: Vivienne Rau
veröffentlicht am: 20.07.2012


"Auf uns!" hallte es in meinem Kopf wieder.
"Auf uns!" Ich sah Annas Lächeln.
"Auf uns!" und die Musik wurde immer lauter und lauter und es fühlte sich so an, als wären die Töne in diesem Raum ein riesiger See gewesen. Und ich, ach, ich Glückliche, durfte in diesem See schwimmen und dort meine Seele baumeln lassen! Ein kalter See, der sich von all diesen unangenehm lauten Frequenzen ernäherte. Er verschluckte alle Schreie, auch die von meinem Geist. Denn mein Geist schrie, dass er keinen Sinn in meinen Exzessen sah. Der See verschluckte seine leidenden Laute.
Schwarz.
Für einen kurzen Moment dachte ich, dass ich aufhörte zu leben.

Ich öffnete meine Augen und erwachte langsam. Ich lag bei mir im Bett, in meinem schönen warmen Bett und hörte, wie aus einem anderen Zimmer mein Handy läutete. Die Sonne ließ ihr Licht durch meine offenen Fenster fallen. Vogelzwitschern. Ein wunderschöner Morgen.
War das alles nur ein Traum gewesen?
Ich zog meine Decke zur Seite und sah auf meinen Körper hinunter. Ich war nackt und hatte eine winzige Verbrennung auf dem Bauch, an die ich mich nicht erinnern konnte. Allerdings konnte ich mich auch an die Socken, die ich trug, nicht erinnern. Sie waren mir viel zu groß gewesen und rochen nach Lagerfeuer. Meine Fingerspitzen wanderten kurz über meinen Bauch, streichelten die kleine Verbrennung und fühlten die verwundete Haut. Seltsam, dachte ich mir.
Ich hüpfte auf, zog mir mein Schlabbershirt an und eilte zum Handy. Ich konnte gerade noch rangehen.
"Hallo?"
"Stella, wo bleibst du denn?"
Die Stimme klang wie die von meiner Chefin. Erschrocken blickte ich auf das Handydisplay. Mein Handy war aus der Steinzeit und hatte einige Kratzer und nicht einmal einen Farbdisplay (manchmal zeigte es auch gar nichts an), doch diesmal zeigte es tatsächlich den Namen meiner Chefin an. Ich zuckte zusammen.
"Ich habe verschlafen. Es tut mir wirklich, wirklich leid, ich weiß nicht wie - "
"Ist schon in Ordnung, aber beeile dich jetzt! Hopp!", hörte ich sie leicht gereizt sagen.
"Jaa! Bin schon unterwegs!"
"Bis gleich!"
"Bis gleich..,"
Sie legte auf. Gott sei Dank waren wir inzwischen sehr gute Freundinnen gewesen und ich musste mich nicht ganz so arg vor ihr als Chefin fürchten. Zumindest mit meinem Job war ich zu dieser Zeit mehr als zufrieden. Irgendwo musste ich ja Glück haben.

Wie fast jeden Tag betrat ich ihr Geschäft, das den charmanten Namen "Love Me" trug.
Wenn Kleinkinder an den Vitrinen vorbeischlenderten und einen Blick auf unsere Auslagen wagten, riefen sie oftmals begeistert "Fasching! Sie verkaufen Faschingskostüme!" und wurden im selben Moment von ihren entsetzten Eltern weitergezerrt.
"Love Me" war kein ordinärer Laden, nein, es war für die meisten Menschen in unserem christlichen Land ein vulgäres Geschäft. Martha, die Besitzerin und eine gute Freundin von mir, verkaufte dort gewisse Artikel, die eher für den Gebrauch im Schlafzimmer vorgesehen waren. Grob gesagt: Es war ein Sexshop mit einer langen Geschichte.
Ich ging durch die Tür und sah ihr unzufriedenes Gesicht.
"Stella, schon das zweite Mal in diesem Monat!"
Martha sah mit ihren fast fünfzig Jahren noch verhältnismäßig jung aus und fühlte sich lebendiger, als so mancher Teenager. Sie war eine stürmische, impulsive und starke Frau, die jedoch ein richtig großes Herz unter ihren vom Schönheitschirurgen korrigierten Brüsten versteckte. Sie war ein charismatischer, starker Mensch und eine Überlebenskünstlerin. Solche Eigenschaften kriegte man in meinem Studium nicht beigebracht.
Ich nickte schuldbewusst.
Ich war leicht außer Atem und es war mir wirklich, ehrlich unangenehm. Vor allem, weil ich wusste, dass ich heute ganz alleine hätte das Geschäft aufsperren sollen und den ganzen Tag darin arbeiten müssen. Martha musste nämlich Vorbereitungen für eine Fashionshow am Ende des Monats treffen. Jawohl, eine sexuell angehauchte Fashionshow! Sie war stolze Mit-Veranstalterin der siebten Erotikmesse in unserer Stadt und war schon sehr aufgeregt, weil der Stargast des ohnehin reizenden Spektakels ein internationaler Pornostar werden sollte.
"Kind, was ist los mit dir?", fragte sie mich mütterlich. Sie kam auf mich zu und legte eine Hand auf meine Schulter und fragte mich direkt: "Nimmst du Drogen?"
Ich schreckte auf: "Nein! Natürlich nicht!" Doch so richtig sicher war ich mir nicht, was mein Blick vielleicht auch ein wenig verriet.
Sie nickte, beobachtete mich weiter mit ihrem durchbohrenden Blick, bevor sie sich umdrehte, zur Kassa ging und sich wieder mit einer Brille im Gesicht irgendwelchem Papierkram zuwandte. Ich hatte ein schlechtes Gewissen und überlegte mir, wie ich mein Verhalten wiedergutmachen konnte. Sie bemerkte jedoch leise, wie als hätte sie mich laut denken gehört, dass sie mir vertraue und wisse, dass ich in Zukunft, oder zumindest in nächster Zeit wieder pünktlicher und konzentrierter zur Arbeit erscheinen würde. Auf diese Weise hatte ich aber blöderweise noch mehr Schuldgefühle, die ich vorerst runterschlucken musste, um mich dem Sortieren neuer Lieferungen zu widmen.
Die Zeit verging nur sehr langsam, wir redeten nicht so viel miteinander, wie sonst immer. Martha war in letzter Zeit schließlich sehr beschäftigt und mit dem Kopf immer bei irgendwelchen organisatorischen Sachen. Ab und zu kam ein Kunde hereinspaziert, doch ansonsten blieb es eher ruhig.
Von Zeit zu Zeit gönnte ich mir einen kurzen Moment, um über die vergangene Nacht zu rätseln. Es war alles so mysteriös, so verschwommen, dass es mich faszinierte. Ich verstand absolut gar nichts. Ich konnte weder sagen, ob es ein Traum war, noch hatte ich irgendwelche Anrufe in Abwesenheit von meinen Freundinnen, die, wenn irgendetwas gewesen wäre, schon längst von ihren verrückten Geschichten im Internet erzählt hätten. Immerhin konnte ich mich daran erinnern, wie ich in der Wohnung war. Oder? Und wir haben etwas eckliges, undefinierbares Getrunken, oder? Oder? Aber warum bittesehr hatte ich dann keinen Kater? Was für ein Zeug muss das gewesen sein?
Mein Handy vibrierte kurz. Eine SMS. Mein Herz blieb stehen. Ich fühlte mich, als würde ich ein Überraschungsei öffnen, als ich das Handy in die Hand nahm und die SMS öffnete und es war...
Es war Jens. Jens schickte mir ein Gedicht, das sich weder reimte, noch persönlich war. Ich vermutete, dass es sich um den Songtext einer super-alternativen Band (die niemand kennt, die aber genau deswegen cool wäre) handeln würde. Irgendwas mit "dark room, filled with sound", Einsamkeit bla bla.
Es machte mich irrsinnig wütend.
"Blöder, dummer Jens mit seinem... blöden,... DUMMEN Krebs!!!", fluchte ich laut und unkontrolliert, während ich mit mörderischer Kraft den Knopf für das "Löschen" betätigte. Martha horchte auf.
"Hat Jens schon wieder eine neue, ausgefallene Haustier-Idee?"fragte sie mich mit einem Grinsen, als sie von ihren Unterlagen zu mir hochblickte. Ich klatschte mit der Handfläche gegen meine Stirn.
"Martha, das weißt du ja noch gar nicht!"
Sie schaute mich fragend an.
"Jens hat Krebs..."
"Waas?" Sie nahm ihre Lesebrille runter und legte ihren Kugelschreiber auf den Tisch.
"Aber ich glaube ihm irgendwie nicht. Das kann nicht wahr sein, oder?"
Martha starrte mich mit offenem Mund an. Ich fuhr fort:
"Naja, er hat ja schließlich auch übertrieben, als er damals dachte, dass er einen Tumor in seinem Gehirn hat, weil er dauernd Kopfschmerzen hatte..."
Martha schien langsam wieder Worte zu finden: "Das ist ja furchtbar, er ist doch noch so jung! Was genau hat er denn?"
Ich schaute sie grimmig an.
"Hast du mir überhaupt zugehört? Der lügt - Ich bin mir fast sicher!"
Martha schien etwas traurig zu werden. Sie sagte:
"Schätzchen, wenn ein Mensch dir so etwas mitteilt, dann darfst du das nicht einfach so als Lüge abstempeln! Was, wenn er wirklich Krebs hat? Und was hat er denn überhaupt?"
Mein Zorn wuchs mit jedem mitfühlenden Satz, der aus ihrem Mund kam.
"Ach was, ich habe keine Ahnung! Ich will auch gar nicht darüber reden! Der soll mir erstmal irgendeine Bestätigung bringen!"
Ich schnaubte und verschränkte meine Arme. Innerlich wusste ich, dass sie Recht hatte. Und irgendwo in meinem Unterbewusstsein liebte ich Jens noch immer stark genug, um nicht wahrhaben zu wollen, dass ihm so etwas Fürchterliches zustoßen konnte.
Plötzlich klingelte das Türglöckchen. Unsere Köpfte drehten sich blitzschnell zur Tür. Ein großer, wohlhabend aussehender, sagen wir "reifer" Mann stand mitten im Geschäft und wirkte etwas eingeschüchtert. Wir schauten natürlich sofort wieder weg, um ihn nicht bei der Begutachtung unseres Angebots zu verwirren. Ich dachte mir, dass ich ihn irgendwo schon mal gesehen hatte. Schwarzes Haar mit einzelnen grauhaarigen Strähnchen, markantes Gesicht, tiefgehender Blick -
Er schmiss ein Fläschchen Gleitgel vor meine Augen, während ich gerade mit meinem Handy herumspielte und versuchte, ihn mit meinen Blicken in Ruhe zu lassen. Ich sah seine Hände. Man konnte den Abdruck eines Eheringes erkennen, ohne Ehering, selbstverständlich. Entweder geschieden oder ein untreuer Bastard, dachte ich mir. Außerdem hatte er viel zu schnell gefunden, wonach er gesucht hatte.
Martha blickte stur auf irgendwelche Listen und würdigte unseren Besucher keines Blickes. Währenddessen kassierte ich das Geld, legte in die Plastiktasche das Gleitgel mit einer Visitenkarte vom "Love Me", und der Mann ging wieder, ohne auch nur ein Wort zu verlieren.
Die Visitenkarten hatte ich selbst entworfen. Meine künstlerische Ader war zwar nicht mehr so stark ausgeprägt, wie während der Schulzeit, aber sie erwies sich im Alltag als praktisch anwendbar.
Ich verteilte sie auch einfach so, in meiner Freizeit. Ich verteilte die kleinen Kärtchen sogar an meine Eltern.
Meine Mutter fand es irgendwie lustig von mir, in einem Sexshop zu arbeiten. Aber sie fand in den letzten zwei Jahren, die sie in der psychiatrischen Klinik verbrachte, alles lustig.
Meinem Vater verging jedes Mal aufs Neue das Lachen, wenn es um meinen Job ging. Ich versuchte ihm immer wieder verzweifelt zu erklären, dass ich mich weder ausziehen musste, noch Kontakt mit irgendwelchen suspekten Kunden hätte, aber es nutzte nichts.
In Wirklichkeit mochte ich meine Chefin und auch ihren Ehemann Andi (, der eigentlich Andrej hieß und gebürtiger Russe war).
Vor ungefähr zwanzig Jahren hatten sie das "Love Me" eröffnet. Zwei Gassen weiter befand sich dummerweise eine katholische Kirche, die zu ihren Stammgästen Überlebende des Zweiten Weltkrieges zählte. Es kam zu einem Streit: Ältere Pensionisten aber auch junge Religionsfanatiker versammelten sich mit schlecht gebastelten Protestschildern vor dem "Ort der Sünde" und "beteten für die Seelen der Besitzer". Potenzielle Kunden wollten nicht im Rampenlicht stehen und gingen deswegen in andere Läden. Das Eröffnungsjahr war somit eine pure Katastrophe gewesen. Am Ende des besagten Jahres zahlte Martha eine bis heute unbekannte Summe an die Kirche und ließ einen zweiten Eingang von einer anderen Straße aus einbauen. Die Katholiken hatten es schwer, "um die Ecke zu denken" und ließen den Laden in Ruhe.
"Der war jetzt aber schnell wieder weg," sagte Martha. Ich nickte.
Und schon war ein weiterer Arbeitstag vergangen.
Es war noch immer hell, als wir den Laden zusperrten und uns voneinander verabschiedeten. Martha hat Jens und seinen "blöden Krebs" nicht mehr angesprochen. Ich hatte ohnehin bereits verstanden, was sie mir sagen wollte.
Das warme Abendlicht, das durch die riesigen Vitrinenfenster des Ladens fiel, ließ einige ausgefallene Liebesspielzeuge in den Regalen glänzen und versetzte mich in eine müde aber durchaus zufriedene Stimmung. Ich fühlte mich nicht wirklich ausgeschlafen und konnte es kaum erwarten, daheim anzukommen und in Ruhe Jennifer oder Anna oder Nadine anzurufen. Ich hatte erstaunlicherweise keine Angst, irgendetwas Blödes angestellt zu haben. Stattdessen ließ ich mich einfach von den Geschehnissen überraschen. Ich ließ mich in diesem See treiben.
Martha umarmte mich, tätschelte meinen Kopf und sagte selig "bis morgen", woraufhin sich unsere Wege trennten.
Als ich daheim ankam und meinen Laptop einschaltete, bekam ich aus einem unerklärlichen Grund eine Gänsehaut. Aber nein, dachte ich mir, es wird schon nichts Schlimmes sein. Ich machte das Fenster zu, um noch mehr Gänsehaut und komische Gedanken zu vermeiden, ließ meine E-Mails abrufen und hatte tatsächlich eine Neue von Anna. Ich öffnete sie und hielt den Atem an: Darauf war Jennifer mit dem unendlich gutaussehenden Wirtschaftsstudenten zu sehen. Nackt. In einem Zimmer. Während er seine Zunge in ihren Hals steckte.
Ich nahm einen Sicherheitsabstand vom Laptop, bevor ich meiner Wut und Trauer freien Lauf ließ.
"JENNIFER, DU WIRST STERBEN!" schrie ich so dermaßen laut, dass ich fast schon einen Tinnitus von meinem eigenen Geschrei bekommen hätte.
Wenige Sekunden später, probierte ich erneut zu schreien, aber es kamen nur affenähnliche Laute aus meinem Mund. Richtige Sätze konstruieren konnte ich auch nicht, da ich blöderweise Krämpfe im Gesichtsbereich von zu viel Hass und Wut bekommen hatte. Wenn jemand zu diesem Zeitpunkt in meiner Wohnung gewesen wäre, dann würde er denken, dass ich vom Teufel besessen wäre und jeden Menschen auf der Welt töten würde.
Ich stand auf und sang die Melodie von "Eine kleine Nachtmusik" mit "Nein nein nein!" als Songtext. Dabei variierte ich die Lautstärke meiner Stimme, um den richtig bösen "Neins" mehr Raum für Entfaltung zu geben. Zwischendurch heulte ich manchmal auf, zerrte an meinen Haaren und lachte dann vier Takte später wieder. Es war sogar für mich im Nachhinein angsteinflößend.
Nachdem ich meinen Auftritt beendet hatte und die letzten "NEINS" vom grandiosen Finale aus meinem Leib geschrien hatte, machte ich mich auf den langen Weg zum Kühlschrank.
Der Weg war wirklich lang, denn wenn man am Boden liegt und Heulkrämpfe hat, während man versucht, wie ein Regenwurm weiter nach vorne zu kriechen, dann hat man vielleicht nicht gerade die lustigsten Minuten seines Lebens. Aber später, als ich mindestens vier Vodka Shots intus hatte und nur noch benommen grinste, beschloss ich Jennifer einen Besuch abzustatten.
Alles zwischen meinem Aufenthalt bei mir daheim und ihrer Wohnungstür fühlte sich ungefähr wie ein Schlag mit einem riesigen Hammer gegen meine Stirn an. Also ja, die Zeit dazwischen merken Leute, die kurz vor einem Zusammenbruch stehen, nicht wirklich.
Whuuusch, ich stand also vor ihrer Tür.





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