Liebe mich

Autor: Vivienne Rau
veröffentlicht am: 10.07.2011


Ein Punkt für ihn, dachte ich, als er mir verkündet hatte, dass er an Krebs litt. Natürlich war ich sprachlos und wütend auf mich selbst. Ich wollte mit ihm am selben Tag ein paar Stunden später Schluss machen, doch er kam mir mit dieser Nachricht zuvor. Jetzt würde er mich wohl eher verlassen, dachte ich. So fühlte ich mich wieder von ihm unterdrückt. Nicht einmal die Chance, vor ihm zu gehen, ließ er mir und wie so oft blieb mir nichts anderes übrig als uns beide zeitgleich zu bemitleiden.
Seine Augen waren glasig, als er es mir gesagt hatte. Die Sonne brannte auf meine Haut, es war Hochsommer, doch sie brannte ebenso auf seine hinunter. Vor ein paar Sekunden sagte er „Stella, ich habe Hautkrebs“ und ich reagierte nicht. Ich registrierte es nicht einmal. Wahrscheinlich stand ich bereits seit Ewigkeiten vor ihm und starrte ihn an. Ja, seine Augen waren glasig, als er es mir gesagt hatte. Die Sonne brannte auf seine Haut, es war Hochsommer, -
„Geh sofort aus der Sonne!“ Ich schrie plötzlich, ohne schreien zu wollen. Ich wollte es ruhig sagen, aber es fühlte sich so an, als würde ich mich vor lauter Sorge mit Worten übergeben wollen. Krebs?! Er stand verängstigt da und plötzlich waren auch seine Augen wieder normal und nicht so leer. Ich packte ihn am Oberarm und zerrte ihn zu mir in den Schatten. Ich hatte ihn anfassen müssen, um ihn zerren zu können und das, genau das, machte mich wahnsinnig. Ich wollte seine Nähe vermeiden, denn sie würde nur meiner rationalen Entscheidung, uns schließlich zu trennen, im Weg stehen. Sein Körper war mir trotz aller Streitigkeiten sehr vertraut geblieben und erweckte bei jeder Berührung Sehnsucht. So wie in jenem Augenblick, als er im Schatten direkt vor mir stand und auf mich herabblickte und ich meine Hand noch auf seinem Oberarm verweilen ließ.
Er küsste mich sanft. Ich erwiderte, ich Dummerchen. Er lächelte und sagte: „Das wird schon gutgehen. Ich werde abwarten, was die Chemotherapie bringt.“ Ich war überrascht, dass er es so locker hinnahm. So wie ich ihn kannte, hätte er durchdrehen müssen und sollte weinen. Es beunruhigte mich und ich überlegte still und leise ob er nicht vielleicht nur noch ein paar Wochen zu leben hätte, so ernst schien mir die Situation. Doch auf die Frage, wie weit der Krebs schon fortgeschritten wäre, antwortete er nur mit „noch nicht wirklich weit“. Ich hatte Angst, weitere Fragen zu stellen, da ich merkte, dass die Fragen eine Kettenreaktion auslösen würden und dass das alles meinem Dilemma, in dem ich steckte, nicht weiterhelfen würde. Er hielt meine Hand und schaute mich mit seinen großen Hundeaugen an, als wollte er sich hungrig in meine Seele fressen.
An diesem Nachmittag waren nicht viele Leute im Park unterwegs, solange man diesen grünen Fleck als Park bezeichnen konnte. Es gab weder einen Spielplatz noch irgendwelche übertrieben großen Brunnen oder gepflegte Sträucher. Es war praktisch nur eine Allee zwischen zwei Häuserketten, an denen entlang der Gehsteige große Ahornbäume wuchsen. Keine Autos, wenige Menschen und eine kleine „grüne Insel“ fast in der Mitte dieser Straße machten diesen Ort zu einem unserer Lieblingsplätzchen, als wir damals noch richtig verliebt waren. Er wohnte ja genau daneben, in einem der Häuser aus den Reihen. Ich schaute in die Ferne und überlegte kurz.
„Jens, lügst du mich an, damit ich bei dir bleibe?“ Die Frage klang vorwurfsvoll. Er wehrte ab.
„Danke, dass du meinem Zustand mit Fürsorge und Taktgefühl begegnest. Es war nicht anders zu erwarten.“ Er ließ meine Hand los und verschränkte seine Arme. Er fuhr fort: „Muss sich immer alles nur um dich drehen? Soll ich dir erst ein ärztliches Dokument bringen, das es dir bestätigt? Herr Doktor soll einen extra Zettel für meine Freundin erstellen, die mir nicht glaubt, dass ich Krebs habe?“ Innerlich lächelte ich. „Extra Zettel für meine Freundin“? Seine sarkastischen Fragen, die er immer wie auswendig gelernt herunterredete, stellte er immer nur, wenn er sich angegriffen fühlte. Ich unterbrach ihn: „Ich habe es verstanden. Ich komme einfach das nächste mal zum Arzt mit und höre mir auch gleichzeitig an, was er dir zu sagen hat. Ich werde dich unterstützen.“
Natürlich klang ich nicht begeistert aber auch nicht abweisend. Ich hatte mir in diesem Augenblick fest vorgenommen, auch wenn später nur freundschaftlich, trotzdem an seiner Seite zu stehen und ihm ein wenig unter die Arme zu greifen.
Er war sichtlich gerührt und fing, wie so oft in letzter Zeit, zu weinen an. Er begann immer mit einem Kopfschütteln und einem Zukneifen der Augen, dann richtete er den Kopf nach unten und begann leise an zu schluchzen. Dann entwickelte es sich, je nach dem wo wir gerade waren, entweder in eine Hysterie oder aber es hörte nach wenigen Minuten wieder auf. Ich versuchte mir schnell etwas einfallen zu lassen, womit ich eine Hysterie verhindern könnte, doch er hörte schlagartig auf zu heulen und sah mich an. Ich bekam Angst. Er ging vor mir auf die Knie und fragte: „Stella, willst du meine Frau werden?“
Ich glaube, dass ich in diesem Augenblick einen Nervenzusammenbruch erlitt und deswegen für eine halbe Stunde nicht aufhören konnte zu lachen. Ich lachte so laut und so angsteinflößend, dass sogar einige Hausbewohner aus ihren Fenstern schauten. Ich klang ein wenig wie eine alte, bösartige Hexe, die Kinder zum Weinen bringen konnte. Kinder oder eben dumme, verliebte Jungs. Während dieser halben Stunde hatten wir uns schon auf eine Bank gesetzt und er, offenbar mehr genervt als verletzt, rauchte sich eine Zigarette an. Er wusste noch nicht die Chemotherapie zu schätzen, dachte ich mir. Trotzdem ließ ich ihn machen.
Irgendwie war ein unausgesprochener Schlussstrich gezogen worden.
Wir redeten nicht mehr viel, denn er hatte verstanden, dass meine Antwort sicherlich „nein“ gewesen wäre. Also fragte er auch nicht mehr großartig danach. Natürlich tat er mir leid, in jeder Hinsicht aber ich hatte es einfach satt seine Aufpasserin zu spielen. Ich freute mich nur, dass wir nicht zusammengezogen waren, so wie wir es damals wollten, sonst wäre diese ganze Trennungsaktion noch um einiges schlimmer gewesen.
Die Sonne fing an unterzugehen und im Schatten wurde es kalt. Das Wochenende war bis zu diesem Tag recht angenehm gewesen und ich hatte keine Angst, mich endlich wieder unter Leute zu begeben. Ich habe mich nicht nur hübsch angezogen, nein, ich ging als hungriges Vamp aus dem Haus und hatte mich mit meinen Freundinnen in die Besinnungslosigkeit getrunken.
Meine Freundinnen waren allesamt Single und genauso wild durch ihr Studentenleben unterwegs wie alle anderen. Sie haben mich immer gezwungen auf alle möglichen Feste in der Stadt zu gehen und dabei verrückte Geschichten durchzumachen. Irgendwie war mir aber nicht nach Abenteuern zumute. Seit dem Schulabschluss war ich in einer undefinierbaren Zwischenwelt, in der ich von meiner Unentschlossenheit geplagt wurde. Die Unentschlossenheit begann beim Aufstehen und endete beim Einschlafen. Klarerweise plagten mich Existenzfragen, aber sie waren einfach nicht der wahre Grund für meine innere Abwesenheit. Ich fühlte mich unerfüllt und nutzlos. Wie Jennifer, eine meiner Freundinnen, sagen würde: „Du brauchst einfach mal richtigen Sex.“ Doch langsam befürchtete ich, dass ich asexuell geworden war, denn sogar das interessierte mich kein bisschen. Trotzdem blieb mir ein Augenpaar seit dem letzten Abend in Erinnerung. Es war ein sinnlicher Blick eines Wirtschaftsstudenten, der nur ganz kurz andauerte. Ich schaute vor lauter Nervösität weg und als ich wieder versuchte, ihn zu finden, ihn mit meinem naiven und hektischen Augenpaar zu orten, war er nicht mehr da. Vielleicht war es besser so.
„Ich gehe jetzt“, sagte ich. Jens blickte zu mir, dämpfte seine Zigarette am Boden aus und nickte ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. Es war alles gesagt worden und ich verabschiedete mich mit einer Umarmung und mit den Worten „ruf mich an, wenn du etwas brauchst“.
Die Bäume applaudierten mit dem Rauschen der Äste für meine schauspielerische Leistung, als ich wegging.

Alles, einfach alles in dieser Stadt, wirkte auf mich wie in einer Zeitlupe. Die Tauben, die Autos, die Menschen und ihre verlangsamten Emotionen, die ich so gerne bestaunte. Doch dann, wenn ich meinen Kopf drehte, wirkte alles so viel schneller als sonst. Es war die Droge der Großstadteile, die mir diese neue Sicht verlieh. Ich war nämlich auf Entzug und hetzte nicht wie alle anderen durch die Straßen auf der Suche nach etwas. Meine Suche beschränkte sich lediglich auf mein Handy, welches in meiner Hosentasche kitzelte. Es brummte genauso laut wie die Stadt selbst, als ich es herausnahm. Ich ging ran. Ich hörte laute Musik und Jennifers noch lauterere Stimme: „Du musst herkommen, es ist extrem geil!“ Sie war schon in der nächsten Wohngemeinschaft. Und zwar gliederte sich der Ablauf des Abends meistens in vier Phasen, wenn es um eine Feier ging. Phase Nummer 1: Jennifer ruft an. Anna und Nadine sind bereits bei ihr, da Jennifer sie vor mir telefonisch erreichen konnte. Jennifer überredet mich gekonnt ihnen anzuschließen. Phase Nummer 2: Ich komme auf die Feier, nehme mir ein Bier und setze mich auf eine Couch während Jennifer, Nadine und Anna sich mit irgendwelchen Typen aufführen. In dieser Phase ist es möglich, dass ich ebenfalls dasselbe wie sie mache. Phase Nummer 3: Ich werde betrunken, wir bauen Mist. Und mit Mist meine ich jede Menge richtigen Mist. In dieser Phase sind Verhaftungen möglich. Phase Nummer 4: Ich schwöre mir am nächsten Morgen mich nie wieder von Jennifer überreden zu lassen.
So kam also Phase Nummer 1: „Komm her.“ - „Ich will nicht.“ - „Du bist scheiße.“ - „Weiß ich?“ - „Hör auf damit.“ - „Womit denn?“
Ich blickte schnell auf die Anzeigetafel. Noch acht Minuten bis zur nächsten Straßenbahn.
„Bist du in der Innenstadt?“ - „Ja.“
Pause.
Laute, nervige Musik die aus meinem Handy dröhnte.
„Wieso willst du nicht herkommen?“ - „Jennifer, bitte. Ich habe Kopfschmerzen.“ Ich bekam sie wirklich. Ich hörte, wie sie in ihr Handy pustete. Sie war wohl gerade am Rauchen.
„Hast du mit dem Blödmann endlich Schluss gemacht?“ Mein Gebiss verkrampfte und ich spürte, wie sich mein Magen zusammenzog. Die Worte mussten mühsam in meinen Mund vom Herzen hinaufgezogen werden: „So gut wie, denke ich.“
Jennifer lachte mich bösartig aus. Trotz der Bosheit oder gerade deswegen? klang sie sexy. Ich seufzte in mich hinein und malte mir aus, wie sie gerade etwas betrunken und mit äußerst hautengen Klamotten irgendwo in einer Ecke stand und noch dazu lachend irgendeinem heißen Typen zuzwinkerte. Wäre sie ein Mann gewesen, hätten ihr Frauen den Penis abgeschnitten.
„Er ist daha. Ich sehe ihn“, hörte ich sie mit einem Lächeln auf den Lippen singen. Ich wurde hellwach in der Birne.
„Wer?“ - „Dein süßer, liebenswürdiger Wirtschaftsstudent. Ich zwinkere ihm gerade zuhu“, sang sie weiter. „Scheiße, Jennifer, hör auf! Du gehst doch nicht gerade auf ihn zu, oder?“ Oder etwa doch? Ich wartete ganze fünf Sekunden, bis ich Luft holte, um ihr noch einmal etwas lauter zu sa – Jennifer unterbrach, bevor ich anfing.
„Ich stehe gerade vor ihm.“ Die Luft in meiner Lunge blieb stecken. Ihre Stimme wurde ruhiger und tiefer. „Er riecht verdammt gut.“ Ich hätte schwören können, dass ich ihren erregten Atem über das Telefon hörte, ebenso wie den Atem eines Mannes, kurz bevor sie einfach auflegte. Ich verharrte in einer emotionalen Mischung aus Wut, Verzweiflung und irgendwie auch Geilheit auf der Straße und bewegte mich nicht. Mein Blick richtete sich nach vorne. Ich starrte auf eine imaginäre Theaterbühne, wo es Jennifer und der Unbekannte mit den schönen Augen leidenschaftlich und lautstark miteinander trieben. Kurz bevor mir mein Wahnsinn Jennifers Orgasmus vortäuschen wollte, fuhr die Straßenbahn den dünnen Hauch meiner Fantasie platt und öffnete mit fast schon menschlichen Absichten die Türen. Es war, als würde mir dieses leblose Metall zurufen: „Los! Spring auf! Ich rette dich vor deinen eigenen Gedanken!“ und ich gehorchte augenblicklich.






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