Das Herz hat seine Gründe, die die Vernunft nicht kennt - Teil 16

Autor: Anna :)
veröffentlicht am: 26.09.2011


Mary merkte, dass ihr Verlobter sehr unruhig war. Die Worte dieser Maggie schienen ihn hart getroffen zu haben. Obwohl er nicht versucht hatte ihr hinterherzulaufen, es beherrschte ihn eine gewisse Beunruhigung. Er aß in letzter Zeit nicht viel, und war oft draußen am See oder im Wald, um Holz zu holen. Der kleine Lagerraum quoll schon über davon. Mary bereute es, seine angebliche Schwester ins Haus gelassen zu haben. Aber auch sie blieb nicht vor dem Nachdenken verschont. Ein kleiner Teil in ihrem Herzen sagte ihr ständig, dass es nicht richtig gewesen war, was sie getan hatte. Wenn Maggie wirklich Tadghs Schwester sein sollte, hatte Mary zwei lang getrennte Geschwister wieder entzweit. Aber sie beruhigte sich immer wieder selbst und rief sich ihr Glück vor Augen, dass sie mit Tadgh hatte. Immerhin verdiente sie dies nach so vielen Jahren Alleinsein. Doch wenn sie Tadgh umarmte, blieb er seltsam abweisend. Er ging zwar darauf ein, aber Mary kannte ihn gut genug, um seine Gefühle deuten zu können. Maggie hatte ihr gesagt, sie würde nach Poteau gehen. Das war nicht unbedingt sehr weit entfernt, und sie hatte Angst, Tadgh könnte seiner Schwester, wenn es denn seine Schwester war, hinterherlaufen. Sein Gedächtnis konnte zu jeder Zeit wiederkehren.

Im Gegensatz zu Poteau war Idabel recht klein. Das merkten Archie und Cillian daran, dass sie bereits nach einer halben Stunde Marsch von einem Ende der Stadt bis zum anderen gelangten.
„Ist mir nur Recht“, brummte Archie, als die beiden schon eine ganze Weile wieder zu Fuß gelaufen waren. „Meine Füße tun schon weh.“
Cillian hingegen war voller Tatendrang. Er freute sich auf ein neues Leben mit seinem Freund.
Irgendwann kamen die beiden an der Grenze an. Cillian hatte noch nie eine gesehen, die große Mauer beeindruckte ihn. Archie winkte nur mit einer schnellen Handbewegung ab. „So etwas hab ich schon oft gesehen“, meinte er nur. „Ich komme viel rum.“ Aber mittlerweile fragte sich Cillian, ob sein Freund sich die ganzen fantastischen Geschichten nicht teilweise oder sogar ganz selbst ausdachte. Deswegen nickte er nur.
Das große Tor hatte eine kleine Tür, die aber verriegelt und gesichert war.
„Und dahinter liegt Texas?“, fragte Cillian staunend. Bevor Archie antworten konnte, ging die Tür des Wärterhauses auf und ein alter Mann trat mit einem Spaten in der Hand hinaus. Erst als Archie ihn ansprach, schien er die beiden Jungen zu bemerken.
„Natürlich, natürlich, dieses Tor ist nur zum Schutz“, lächelte er. „Ihr müsst nur einmal mit reinkommen und euch in meinem Buch eintragen. Ich denke, ihr versteht das. Heutzutage muss man für alles ein Buch führen.“ Er legte den Spaten beiseite und führte Archie und Cillian in das geräumige Wohnzimmer.
„Setzt euch“, wies er sie freundlich an. Eine nette alte Dame mit weißem Haar, wohl seine Frau, brachte ihnen zwei Gläser Milch.
„Ich bin Nancy“, sagte sie und setzte sich zu ihnen. „Mein Mann Winston und ich wohnen hier.“ Archie und Cillian fühlten sich sofort Willkommen.
„Danke Ma’am, das ist sehr nett von Ihnen“, meinte Archie.
Ihre Augen blitzten. „Nenn mich einfach Nancy, in Ordnung? Ich kann es nicht leiden, wenn man Ma’am zu mir sagt.“
Cillian lachte. Was für eine schrullige alte Frau.
„Und seid ihr junge Abenteurer, ja?“, fragte sie lächelnd. Die beiden wollten nicht unbedingt von ihren bemitleidenswerten Umständen berichten, also nickten sie einfach. Winston kam mit einem großen zerfledderten Buch zurück und schlug die letzte Seite auf. In den unterschiedlichsten Handschriften standen dort Namen, Geburtsdaten und Herkünfte geschrieben. Cillian fragte sich, was für einen Grund all diese Menschen hatten, Oklahoma zu verlassen. Winston reichte ihnen einen Bleistift. „Schreibt einfach nur wann ihr geboren seid, wie ihr heißt und ob ihr amerikanische Staatsbürger seid“, sagte er routiniert. Archie schrieb als erster. „Hast du keinen Nachnamen?“, fragte Winston.
Der Junge verneinte und kam mit der üblichen Waisenhausgeschichte. Cillian fragte sich wieder, ob er allen nur etwas vormachte. Aber der alte Mann fragte nicht weiter. Als auch Cillian fertig war, nahm Winston lächelnd das Buch und warf einen kurzen Blick auf das Geschriebene. Schlagartig verschwand das Lächelnd aus seinem runzligen Gesicht.
„Oh mein Gott“, hauchte er. „Nancy, schau dir das an!“
Auch die kleine Frau schien überrumpelt zu sein.
„Cillian O’Brian?“, fragte sie zittrig. Trotz ihres alten Gedächtnisses erinnerte sie sich genau an Maggies Worte, was ihre Familie betraf.
„Ja“, antwortete der Junge ahnungslos. Er konnte ja auch nicht wissen, was das alte Ehepaar wusste!
Winstons Gesicht hellte sich schlagartig auf. „Hast du eine Schwester namens Maggie?“
Cillians Augen weiteten sich. „Ja!“, rief er. „Woher kennen Sie-“
„Hurra!“, fiel Winston ihm ins Wort. Es sah so aus, als ob er gleich einen Herzinfarkt kriegen würde. Er packte Nancy an den Armen und fing an zu tanzen. „Wir haben ihren kleinen Bruder gefunden!“, rief er freudig. Nancy lachte mit ihm, aber sie merkte, dass Cillian auf eine Erklärung wartete.
„Cillian“, sagte sie. „Wir wissen wo deine Schwester Maggie ist. Sie kam vor einigen Wochen völlig erschöpft zu uns und ist schon am nächsten Tag wieder weggegangen, um dich und deine anderen Geschwister zu suchen!“
Cillians Überrumpelung wich langsam der Beglückung. „Maggie?“, vergewisserte er sich erfreut. „Sind Sie sich sicher, dass es meine Schwester war?“
„Ja, ja natürlich!“, rief Winston. „Verflixt und zugenäht, wir wissen sogar, wo sie hin will!“
„Und wo?“
„Nach Poteau!“
„Nach Poteau?“, schrie Cillian überrascht. „Da kommen wir doch gerade her! Hörst du das, Archie? Archie?!“ Doch der Stuhl auf dem sein Freund bisher gesessen hatte, war leer. Cillian, Winston und Nancy hatten gar nicht bemerkt, wie er sich während des Gesprächs davongemacht hatte.

Heute war wieder einer der Tage, an dem Jonathan und Joan Abigail nicht als Objekt ihrer auszulassenden Aggressionen sahen. Die meiste Zeit ließen sie das Mädchen arbeiten, nur manchmal erzählten sie wieder begeistert von Andrew, und dass er bald für einige Monate nach Hause kommen würde.
Insgeheim hoffte Abigail, dass der große Bruder nicht so nervig und unausstehlich wie die Zwillinge war.
Als sie sich mal wieder eine Lobeshymne der beiden anhören musste- sie war gerade dabei, die Wäsche aufzuhängen- tauchte der große schwarze, zottelige Hund wieder auf. Er schien durch das dichte Fell über seinen Augen nichts zu sehen und rannte prompt Joan um. Sie flog geradewegs in eine der wenigen Schlammpfützen, zu überrascht um zu schreien, während sich bereits Jonathan lachend den Bauch hielt. Abigail verkniff sich ein Grinsen, Joan war ohnehin sehr erbost. So eitel wie sie war, bedeutete es sicherlich das Schlimmste, wenn die Kleidung dreckig wurde.
Sie rappelte sich wieder auf und gab dem treu blickenden Hund einen Tritt.
„Dämlicher Köter!“, schrie sie. „Nun schau dir an, was du angestellt hast!“
Jonathan wälzte sich vor lachen auf der Erde. Der arme Hund aber winselte herzzerreißend und lief davon. Joan stapfte wütend und tropfend ins Haus. Nun schmunzelte Abigail auch, aber so, dass Jonathan es nicht sah. „Hat der Hund einen Namen?“, fragte sie, als er sich beruhigt hatte.
„Der Flohsack?“, kicherte der Junge. „Der verdient doch gar keinen, so dämlich wie er ist. Noch nicht einmal die Ratten erwischt er, was eigentlich seine Aufgabe ist.“ Immer noch feixend ging er davon.
Am Abend, als alle schliefen, schlich sich Abigail vor die Tür, wo der Hund schlief. In dem schwachen Mondlicht sah er aus wie ein Bündel alter Kleidung. Als er sie bemerkte, hing sofort seine Zunge raus und sein Schwanz wedelte. Abigail hoffte, dass er nicht bellen würde. Sie kniete sich vor ihm hin und zog eine Schere aus der Rocktasche.
„Psst, ganz ruhig“, flüsterte sie. Mit einer schnellen Handbewegung schnitt sie ihm das überschüssige Fell vor den Augen weg, was ihn fast blind gemacht hatte. Sie steckte es mit der Schere in die Tasche. Der Hund schaute sie immer noch hechelnd an und leckte ihr über die Hand. Vielleicht ein Zeichen von Dankbarkeit?
Abigail lächelte und streichelte ihn. „Na, Großer, wie nennen wir dich denn?“ Der Hund zeigte keine Regung.
„Er heißt Bobby.“
Das Mädchen sprang auf, denn die fremde Stimme hatte sie mächtig erschrocken. Sie kam aus der Dunkelheit vor der Veranda.
„Wer ist da?“, fragte sie, ihr Herz raste. Die Gestalt trat hervor. Es war ein großer junger Mann in der kennzeichnenden Armee Kleidung. Die schwere Last seiner Ausrüstung hielt ihn nicht von einem Lächeln ab. Einem Lächeln, das Abigail, zugegeben, attraktiv fand. Seine braunen Augen musterten sie.
„Ich bin Andrew Mackenzie“, begrüßte er sie. Als der große Hund ihn erkannte, wedelte er noch mehr mit dem Schwanz und sprang an ihm hoch. „Hallo Bobby, mein Großer!“, lachte Andrew und streichelte ihm übers Fell. Dann wandte er sich wieder Abigail zu.
„Du...du bist Andrew Mackenzie?“, wiederholte sie etwas perplex, denn sie hatte angenommen, dass der große Bruder der Zwillinge wesentlich unfreundlicher war und mehr dem Armee Stil entsprach. Kratzbürstig und nicht so herzlich, so hatte sie sich einen Soldaten vorgestellt. Und sie hatte erwartet, dass er später kam. Vielleicht in zwei, drei Wochen.
„Ja, ich bin Andrew. Und wie heißt du?“
Dieses Lächeln!, dachte Abigail. Irgendwie so gar nicht... kratzbürstig.
„Hausmädchen“, sagte sie aus einem Impuls heraus. In den letzten Tagen hatte sie ihren Namen nur selten benutzen müssen.
Andrew lachte. „Zugegeben, ein seltsamer Name für eine junge Frau“, sagte er. Abigail schluckte. Wie blöd konnte man nur sein? Die erste Begegnung verlief schon so peinlich. Sie antwortete unfreundlicher als gewollt (und auch etwas arroganter als gewollt): „Das ist ja auch nicht mein Name. Ich heiße Abigail. Abigail O’Brian.“
„Aha“, meinte Andrew. Er sah Bobby an. „Ganz schön hochnäsig für eine Angestellte, meinst du nicht?“, sagte er zu ihm. Dass er dies nicht wirklich ernst gemeint hatte, ging an Abigail vorüber. Sie wusste schon, dass sie sich selbst eine Grube gegraben hatte, aber auch ein Hausmädchen hatte ihren Stolz… jedenfalls Abigail O’Brian.
„Ich muss jetzt leider wieder ins Haus“, sagte sie etwas schnippisch. „Anständige Menschen treiben sich nun mal nicht nachts draußen herum.“
Andrews Grinsen wurde noch breiter, aber das bekam Abigail nicht mehr mit, denn sie drehte sich um und machte demonstrativ die Tür hinter sich zu. So, dachte sie, das war’s. Morgen werde ich entlassen, weil Andrew diese Frechheit sicherlich seiner Mutter erzählen wird. Wie kann man auch nur so blöd sein, so etwas zu sagen!
Erst als sie etwas ratlos im Wohnzimmer stand, fiel ihr ein, dass sie ja bei den Sklaven in der Scheune schlief. Leise schlich sie sich durch die Hintertür auf der anderen Seite des Hauses hinaus und schloss die Scheunentür sacht hinter sich. Sie würde Moses morgen sagen, dass sie leider weiterziehen mussten.






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