Das Herz hat seine Gründe, die die Vernunft nicht kennt - Teil 10

Autor: Anna :)
veröffentlicht am: 19.08.2011


Als Abigail erwachte, hatte sie einen Muskelkater in ihrem Allerwertesten und fühlte sich von einem Mantel aus Unsauberkeit umhüllt. Sie wusste zwar nicht, wie spät es war, doch sie fühlte, dass das Wetter es nicht gut meinte. Es war warm und schwül, die Luft schien sie erdrücken zu wollen.
Bevor sie überhaupt bemerken konnte, dass Moses verschwunden war, kam er bereits wieder. Er hatte das übliche Grinsen auf dem Gesicht und einen gefüllten Leinensack in der Hand. „Guten Morgen, Miss! Haben Sie gut geschlafen?“
Abigail schwitzte fürchterlich, obwohl es dem Stand der Sonne nach zu urteilen noch relativ früh am Morgen war. Sie sah Moses an.
„Wo warst du? Und warum schwitzt du kein bisschen?“
Moses hielt den Sack hoch. „Frühstück besorgen, Miss“, sagte er und legte ihn auf den Tisch. „Und von meiner Heimat bin ich ganz andere Temperatur gewöhnt.“ Das Mädchen runzelte die Stirn.
„Was hast du da?“
Der junge Mann öffnete den Sack und holte einige Maiskolben heraus. „Die habe ich von dem Feld am Ende vom Wald. Musste sehr weit laufen dafür.“
„Du hast sie gestohlen?“ Sie blickte argwöhnisch auf die Kolben.
Moses lachte kurz. „Nein, nein. Ich habe die genommen, die auf dem Boden lagen.“ Er hörte auf, ständig in den Sack zu greifen und leerte kurzerhand den Inhalt auf dem Tisch aus. Zum Vorschein kamen verschiedene Beeren und Nüsse. Darunter wieder die Abigail verhassten Bucheckern. Bevor sie noch etwas sagen konnte, hob Moses die Hand. „Ich habe schon alles sauber gemacht“, grinste er. Abigails Hunger war zu groß, als das sie sich darüber gesorgt hätte. Anfangs zupfte sie noch etwas skeptisch die einzelnen Maiskörner ab, doch nach einer Weile siegte ihr Verlangen nach Nahrung und sie aß sogar die Bucheckern und die Beeren, von denen sie nicht wusste, ob sie giftig waren. In diesem Fall musste sie Moses Erfahrung vertrauen. Der junge Mann sah mit Freude, dass die Misses endlich was aß und er überlies ihr auch bereitwillig den größten Teil seiner Beute. Nachdem sie fertig war, sagte sie, ohne aufzuschauen: „Danke.“
Moses sah sie überrascht an, grinste, sagte aber nichts.
Er räumte alles ordentlich auf, um möglichen Wanderern keine schmutzige Hütte zu hinterlassen. „Wir werden bestimmt in zwei Stunden in der Stadt sein“, sagte er aufmunternd, als er merkte, wie das Wetter Abigail zu schaffen machte.
„Das hoffe ich“, meinte sie nur. Sie hatte noch nie einen so langen Marsch gemacht. Als die beiden gegen Mittag bereits in der Ferne die Stadt sahen, lag ein kleiner Hoffnungsschimmer in Moses Augen. „Ich werden mich nach Arbeit umsehen“, sagte er zuversichtlich. „Bestimmt brauchen die Farmer in Poteau Arbeiter.“ Abigail rümpfte nur die Nase. „Und was soll ich dann machen?“
„Nun ja, wenn wir Glück haben, können Sie im Haus arbeiten, Miss.“ Er sagte das nicht ohne ein kleines, verstohlenes Grinsen, denn er wusste, wie Abigail reagieren würde. Tatsächlich sah ihn das Mädchen empört von der Seite an. „Ich soll arbeiten? Bei fremden Leuten, die ich nicht kenne?“
Moses griente. „Natürlich. Aber wenn Ihnen das angenehmer ist, können Sie auch mit mir auf dem Feld arbeiten. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang in der Hitze Baumwolle pflücken. Und das ist noch die einfachste Aufgabe für die Frauen.“ Er sah sie vielsagend an. Seine Worte wirkten. „Wenn es sein muss, arbeite ich im Haus“, meinte sie mit einem etwas trotzigen Ausdruck im Gesicht. Moses lachte laut und schritt kräftig aus. Die große Stadt zu den Grenzen Texas kam immer näher.

Die beiden Jungen schlenderten auf den Markt zu. Cillian hatte seine Kleider mittlerweile gegen eine braune, etwas zu große Hose und ein weites Baumwollhemd getauscht. Um die Hüfte wickelte er ein Seil, sonst wäre sie ihm sicherlich runter gerutscht. Von den paar Pennys, die er für die Kleider bekam, hatte er sich einen kleinen braunen Schlapphut gekauft, der ihn endgültig wie einen Straßenjungen aussehen lies.
„Siehst gut aus“, grinste ihn Archie an. Er selbst hatte einen extra großen Mantel mit geräumigen Taschen für sein Diebesgut.
Cillian grinste zurück. Auf dem Markt war viel los, die einzelnen Stände quollen über von Gemüse, Obst, Brot, Fleisch und Fisch. Hier hatte Archie keine Sorge, in dem dichten Getümmel von einem Schutzmann entdeckt zu werden. „Komm, wir holen uns ein paar schöne Äpfel“, sagte der große Junge nach einer Weile. Doch Cillian hatte etwas anderes entdeckt. Eine etwa ein Meter hohe Tribüne war aufgebaut worden und am Rand verkündete gerade ein gut gekleideter Mann, dass eine neue Ladung Sklaven gekommen war. Sogleich erschienen die gefesselten Männer und Frauen auf die Tribüne. Ihre Zahl betrug drei Frauen und sechs Männer. Eine verhältnismäßig kleine Lieferung, aber der Sklavenhändler lockte mit seinen lauten Rufen viele Menschen an. Hauptsächlich Plantagenbesitzer oder Angestellte der Plantagenbesitzer, die für ihren Master die Sklaven kaufen sollten. Archie hatte bemerkt, dass Cillian sich mehr für die Versteigerung interessierte und ging mit ihm bis zum Rand der Tribüne.
„…erstklassige Arbeitskräfte, gut genährt…“, verkündete der Sklavenhändler gerade und deutete auf die sehr unglücklich aussehenden Männer und Frauen.
„Oh mein Gott!“, wisperte Cillian plötzlich. Archie packte ihn am Arm. „Was? Was ist? Hast du einen Schutzmann gesehen?“
„N-nein“, stotterte der Junge und deutete auf eine der drei Frauen, die nicht ganz so ausgemergelt aussah. „Das ist Aneesa!“
Archie schaute in die gezeigte Richtung. Seine Augen weiteten sich. „Was willst du jetzt machen?“
„Wir müssen sie kaufen!“, entgegnete Cillian aufgebracht. „Du hast doch so viele Uhren und Ketten.“
„Rede nicht so laut“, sagte Archie gepresst und schaute sich um. Dann beugte er sich zu dem kleinen Jungen runter. „Ich kann sie nicht kaufen. Wie stellst du dir das vor? Die buchten uns doch glatt beide ein, wenn die sehen, was wir für Sachen haben! Möglicherweise erkennt jemand aus der Menge noch irgendetwas, was ich mal gestohlen habe.“
Cillians Hoffnung verblasste, Verzweiflung machte sich in ihm breit. Währenddessen war zu allem übel auch noch einer der Farmer auf die Tribüne gestiegen und sah sich Aneesa näher an. Als ob sie ein Objekt wäre, betastete und grapschte er an ihr herum, hob ihren Arm, lies ihn wieder fallen, drehte ihren Kopf und begutachtete sie von allen Seiten. Auch vor den Intimbereichen machte er keinen Halt. Zu Cillians Ärger schien ihm die junge Frau nur allzu gut zu gefallen. „Kräftig und jung“, brummte er zufrieden. „Genau das, was ich brauche. Ich biete zehn Cent.“
Aus dem Publikum erklang ein Ruf. „Fünfzehn Cent.“
„Zwanzig Cent“, parierte der Farmer mit lauter Stimme und hielt Aneesa dabei am Oberarm, als ob sie bereits ihm gehören würde. Sie schaute bedrückt auf den Boden. Cillian sah, wie sehr ihr die Gefangenschaft und das Alleinsein zugesetzt hatten und es brach ihm fast das Herz. Hektisch schaute er umher, nach einem Ausweg suchend, als dieselbe unbekannte Stimme aus dem Publikum dreiundzwanzig Cent bot. Zwischen ihr und dem Farmer entbrannte ein Wettstreit der sich Centweise erhöhte, bis schließlich der kräftige Mann auf der Tribüne mit dreiundachtzig Cent gewann. Er hielt Aneesas Arm immer noch umklammert und reckte stolz das Kinn. Cillian wusste in diesem Augenblick, dass die junge Frau bei diesem Mann nicht gut behandelt werden würde. Mit den unterwürfigsten Beglückwünschungen dem Farmer gegenüber schloss der Sklavenhändler die Ketten um ihre Hände und Füße auf. Dieser ging die Tribüne hinunter, Aneesa folgte ihm gehorsam. Sie hatte ihr Schicksal mit stillem Leid hingenommen.
„Los, komm!“, zischte Cillian und zog Archie mit sich. „Wir müssen sehen, wohin er fährt.“
„Um was zu tun?“, antwortete Archie verständnislos. „Sie ist doch schon verkauft!“
„Ich will wissen, wo er wohnt, damit ich sie befreien kann.“ Cillian sah, wie der Farmer selbstzufrieden auf eine schäbige Kutsche stieg, Aneesa saß angekettet, damit sie nicht fortlaufen konnte, hinten auf dem Wagen. Mit einem Pfiff, der den beiden Pferden galt, setzte er sich in Bewegung und fuhr aus dem Viertel hinaus, die Landstraße entlang. Cillian rannte verzweifelt hinterher, Archie folgte ihm. Doch irgendwann, nach zahlreichen Biegungen und Wendungen hatte er das Gespann verloren und sank erschöpft auf die staubige Straße. „Nein!“, rief er seine Hoffnungslosigkeit laut heraus. „Ich habe sie aus den Augen verloren.“ Eine Träne rann ihm über die Wange. Archie legte ihm einen Arm um die Schulter. „Komm schon, Kleiner“, meinte er tröstend. „Wir kriegen bestimmt raus, wo der Kerl wohnt.“ Doch Cillian schüttelte nur den Kopf und verbarg sein Gesicht in den Händen. „Ich finde sie nie! Und dabei war ich so nah dran…“
Archie konnte nichts anderes tun, als mit dem weinenden Jungen wieder zurück in die Stadt zu gehen.






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