Das Herz hat seine Gründe, die die Vernunft nicht kennt - Teil 9

Autor: Anna :)
veröffentlicht am: 08.08.2011


Nancy McLoy griff nach den Stricknadeln und setzte sich schwerfällig auf den bequemen Schaukelstuhl. Für ihre einundsiebzig Jahre war sie noch recht rüstig und für ihre hervorragenden Kochkünste bekannt, doch der Rücken machte ihr zu schaffen. Das einfache, aber hübsche Haus stand am äußersten Rande Idabels und nur noch wenige Meilen weiter nach Süden, und man wäre an der Grenze zu Texas angelangt. Nancys Mann Winston war sozusagen der Grenzbeamte. Er passte auf, wer aus Idabel hinausging und vor allem, wer hineinwollte. Doch Winston war auch Bauer und nach langen anstrengenden Tagen wie diesem kam er völlig verschwitzt und fertig nach Hause.
„Nancy“, keuchte er. „Ich bin alt geworden.“
Seine Frau lachte als sie die gebeugte Gestalt von dreiundsiebzig Jahren sah, die sich auf einem der Sessel im Wohnzimmer niederließ.
„Mein Ischias schmerzt“, stellte er fest und stand wieder auf. „Wollte jemand durch, während ich weg war?“
Nancy schüttelte den Kopf, ihr weißer Dutt wippte.
„Es wäre sowieso niemand durchgekommen“, sagte sie, ohne von der Strickarbeit aufzusehen, womit sie recht hatte. Niemand kam an dem gut drei Meter hohen Tor vorbei, ohne von Winston gesehen zu werden. Viele, die nicht wussten, dass der alte Mann nur die Namen und das Alter verlangte, machten sich die Mühe, hinüber zu klettern, was in fast allen Fällen scheiterte.
Nancy hielt bei ihrer Arbeit inne und schnupperte kurz. Dann stand sie auf.
„Pfui! Du stinkst ganz fürchterlich, Winston“, sagte sie, nicht ohne ein gutmütiges Lächeln auf dem rosigen Gesicht. „Komm, ich lasse dir ein Bad ein.“ Winston gehorchte mit einem kurzen Lachen und folgte seiner Frau die Treppen hinauf. Nachdem ihr Mann mit einem heißen Bad versorgt war, ging Nancy hinunter in die Küche, um nach ihrem Rindereintopf zu sehen. Er war bei den Bewohnern so beliebt, dass sie Nancy sogar manchmal Bestellungen zu besonderen Anlässen gaben. Gerade, als sie die Platte löschte- der Eintopf sah fabelhaft aus- hörten ihre trotz des Alters außergewöhnlich guten Ohren ein zaghaftes Klopfen an der Tür. Nach einigem Zögern ging Nancy durch den Flur. Wer sollte zu so später Stunde noch kommen? Das Klopfen wiederholte sich, nun stärker.
Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch öffnete die Frau die Tür. Sie hatte eben noch Zeit, die junge Frau aufzufangen, sonst wäre sie mit dem Kopf gegen die Scheibe geprallt. „Was...“, brachte die alte Frau hervor und stützte instinktiv das offensichtlich geschwächte Mädchen. Sie schloss die Tür und lehnte sie gegen die stabile Wand.
„Bitte“, hauchte die Frau. „Ich…Hunger…essen, bitte.“ Dann brach sie zusammen.
„Oh mein Gott, gütiger Gott“, keuchte Nancy entsetzt. Die Frau hatte auf den ersten Blick keine schwerwiegenden Verletzungen. Die kleinen Schürfwunden und Blutergüsse waren sicherlich nicht der Auslöser für den augenscheinlichen Schwächeanfall. Doch ihr Kleid war völlig zerrissen und verdreckt, die Haare zerzaust und das Gesicht voller Schmutz. Nancy beschloss, das arme Geschöpf erst einmal auf das Sofa im Wohnzimmer zu legen. Sie schaffte es ganz alleine und wunderte sich wieder einmal, wie viel Kraft in ihrem kleinen alten Körper steckte. Kaum lag der Kopf der Frau auf dem Sofakissen, schlug sie die Augen auf. Nancy war in die Küche gegangen, um der Fremden etwas zu essen zu holen. Sie hatte einen gehörigen Schock bekommen, doch die robuste alte Frau hatte schon zu viel gesehen, als das eine bewusstlose Frau ihr ernsthaft zugesetzt hätte. Sie füllte den Teller randvoll mit dem berühmten Rindereintopf und legte noch einige Brotscheiben dazu. Dann nahm sie ein Glas Wasser und ging zurück ins Wohnzimmer. Als sie sah, dass die junge Frau wach war, lächelte sie und stellte das Essen auf den Tisch. Die Frau sah sie einen Moment lang überrascht an, dann erwiderte sie das Lächeln.
„Was ist bloß mit dir passiert?“, fragte Nancy nun besorgt. Von oben drang Winstons singende Stimme aus der Dusche zu ihnen herab.
Doch Nancy konnte im Moment keine Antwort erwarten, denn die Blicke der jungen Frau hatten bereits den Teller gefunden. „Das ist für dich“, bestätigte Nancy und sah lächelnd zu, wie sie den Eintopf gierig verschlang, bis nichts mehr davon übrig war, auch das Glas blieb nicht lange voll. Sie warf Nancy einen dankbaren Blick zu, doch als die alte Frau sah, dass sie fror, legte sie ihr eine Decke um die Schultern und schaute sie gutmütig an. „Also, Kindchen, wie heißt du? Und was ist mit dir passiert?“ Sie rieb ihr mit der Hand über den Rücken, um der jungen Frau ein Gefühl von Geborgenheit zu geben.
„Ich bin Maggie O’Brian“, sagte sie mit etwas zittriger Stimme. Als sie sah, wie aufmerksam die nette alte Frau ihr zuhörte, sprudelte die ganze Geschichte aus ihr heraus und am Ende lag sie weinend in Nancys Armen.
„Das ist ja furchtbar“, sagte diese erschüttert. „Armes Mädchen.“
Maggie schluchzte leicht, als sie sich beruhigt hatte. „Ich bin neunzehn und damit fast die Älteste. Ich hätte besser auf meine Geschwister aufpassen sollen.“ Dass sie sich selbst die Schuld gab, verwunderte die alte Frau nicht sonderlich.
„Gib dir doch nicht die Schuld für das, was andere getan haben“, sagte sie warm.
„Ich muss sie suchen“, entgegnete Maggie. „Sie sind vielleicht noch am Leben.“
Nancy schüttelte energisch den Kopf. „Nein, in deinem Zustand gehst du mir nirgendwo hin. Du bist völlig erschöpft und du brauchst neue Kleider.“ Sie griff nach der Hand der jungen Frau und schaute ihr in die rostbraunen Augen. „Bis es dir wieder besser geht, werden Nancy und Winston McLoy für dich sorgen.“ Maggie schaute sie dankbar an und widersprach nicht. Sie hatte so das Gefühl, dass diese alte Dame nicht von ihrem Entschluss abzubringen war. Die kräftige Singstimme ihres Mannes drang wieder zu ihnen herab und Nancy musste lächeln.
„Ich erzähle Winston später davon“, sagte sie und stand auf. „Nun komm erst einmal, du musst dich waschen. Ich zeige dir dann dein Zimmer.“
Als Maggie dieser äußerst liebenswerten Frau, wie sie fand, die Treppen hinauf folgte, war sie ihr unendlich dankbar für das, was sie tat.

In der Nacht bekam Tadgh wieder heftiges Fieber und Mary, die auf dem Stuhl neben dem Bett eingeschlafen war, wurde von den rasenden Fieberträumen des jungen Mannes aus dem Schlaf gerissen. Dank ihrer ärztlichen Kenntnisse, die sie wegen ihrer abgebrochenen Krankenschwesterausbildung hatte, wusste Mary genau, was zu tun war. Sie hatte einen derartig heftigen Fieberkrampf zwar noch nie hautnah miterlebt, doch ihr theoretisches Wissen half hier weiter. Die kalten Umschläge und Wadenwickel sorgten zunächst dafür, dass dem Körper der Überschuss an Wärme entzogen wurde und sich das Fieber etwas senkte.
„Zuerst ist er unterkühlt und nun hat er Fieber“, murmelte sie, während sie ihr bewährtes Hausmittel, abgekochter Zwiebelsaft, in einen Becher füllte. Sie machte sich Sorgen, es stand nicht gut um ihren Schützling. Du magst ihn sehr. Die Stimme kam irgendwo aus ihrem Inneren. „Natürlich mag ich ihn“, nuschelte sie. „Sonst hätte ich ihn doch nicht bei mir aufgenommen.“ Sie rüttelte sanft an Tadghs Schulter, um ihn aufzuwecken. Er schlug dann nach einer Weile auch die Augen auf, die Lider flatterten leicht. „Mary, was…?“
„Ganz ruhig“, beruhigte sie ihn. „Ich messe nur dein Fieber.“ Damit legte sie sanft das altmodische Fieberthermometer in seine Achselhöhle und setzte sich auf die Bettkante. „Trink das hier“, flüsterte sie, während sie den Becher mit dem Zwiebelsud an seine Lippen hob. Er kostete davon und verzog daraufhin den Mund. „Das schmeckt schrecklich“, sagte er leicht grinsend. Doch Mary war nicht zum Spaßen zumute. Sie griff nach seinem Handgelenk und fühlte den Puls. Zu ihrem Erschrecken jagten sich die Schläge förmlich. Auf seiner Stirn standen Schweißperlen, doch er gab nicht zu, dass es ihm miserabel ging. „Ich weiß. Trink es trotzdem aus.“
Als sie auf das Thermometer sah, sackte ihr das Herz um einige Schritt tiefer. Vierzig Komma vier Grad Celsius waren eindeutig zu viel. „Mein Gott“, dachte sie verzweifelt. Tadgh schlürfte mit verzogenem Mund weiterhin gehorsam den Zwiebelsud, Mary legte noch einige kalte Wickel und Umschläge auf. Sie nahm ihm den halbleeren Becher energisch weg.
„Was…?“ machte Tadgh.
„Du brauchst Ruhe und Schlaf“, unterbrach sie ihn, ernsthaft besorgt.
„Und zwar sehr viel.“
Tadgh gehorchte ein wenig zerstreut und legte sich flach hin, den Kopf auf die Kissen gebettet. Mary stand leicht zitternd an der Spüle, die Hände auf die Arbeitsplatte gestützt. „Bitte, Gott…“, hauchte sie leise. „Lass ihn nicht sterben.“ Und als er endlich eingeschlafen war und nicht mehr von den schrecklichen Fieberträumen geschüttelt wurde, setzte sie sich neben ihn, hielt seine Hand und sang ein Lied.

Freu mich immer wieder über Kommis und Kritik :) <(\")






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