Das Herz hat seine Gründe, die die Vernunft nicht kennt - Teil 5

Autor: Anna :)
veröffentlicht am: 21.07.2011


Sie beugte sich so tief wie es ging hinunter und zog zu ihrem Überraschen und auch Erschrecken ein mit Algen behangenes Gewehr heraus. Sie legte es etwas ehrfürchtig neben sich ins Gras. Doch sie war sich sicher, dass sie nicht die Flinte gesehen hatte und griff noch einmal ins dichte Seegras.
Etwas Weiches schlich sich unter ihre Finger und Mary zuckte instinktiv zurück. Sie dachte an aufgedunsene Wasserleichen und schob diesen Gedanken schnell beiseite. Nach einigem Zögern griff sie wieder ins Gras, wenn auch widerstrebend, und zog an dem runden weichen Ding. Zum Vorschein kam zunächst ein brettähnlicher halb verrotteter Holzstamm. Nach dem Bruchteil einer Sekunde erkannte sie die bewusstlose Gestalt eines jungen Mannes, der darauf lag. Sein blondes Haar verdeckte zum größten Teil das Gesicht, doch Mary bemerkte eine leichte Atmung. Sie war zwar nicht ausgelernt im Bereich der Medizin, doch sie erkannte auf den ersten Blick, dass dieser Mensch unterkühlt war. Sie fragte sich, wie lange er wohl schon bewusstlos auf diesem Baumstamm den Little River entlang getrieben war. Bei der Strömung hätte sie sich nicht gewundert, wenn er den gesamten River in zwei Nächten geschafft hätte. Er hatte bereits bläuliche Lippen und auch seine Kleidung bot keinen großen Schutz vor der nächtlichen Kälte.
Mary überlegte nicht lange und sie dachte auch nicht daran, wo dieser halberfrorene junge Mann womöglich herkommen könnte. Entschlossen griff sie nach seinem Arm und zog ihn mit einigem Kraftaufwand die Uferböschung hinauf.

Nachdem Moses mit viel Mühe die Leichen begraben hatte- in den Überresten der Scheune hatte noch eine Schaufel das Feuer überlebt- steckte er vor jedes Grab zwei quergelegte Stöcke, sodass sie aussahen wie Kreuze. Er sprach noch ein kurzes Gebet, dann ging er zu Abigail, die das Begräbnis auf Distanz beobachtet hatte.
„Warum hast du das getan?“, fragte sie nun. Sie hatte für das Handeln des Sklaven kein Verständnis.
„Das ist eine Zeichen von Respekt und Anerkennung, Miss“, antwortete Moses. Abigail runzelte die Stirn. „Es sind doch nur Sklaven“, murmelte sie, aber so leise, dass er sie nicht hören konnte. Bei all ihrer Abneigung gegen die Schwarzen war sie dennoch nicht dumm. Und einen Neger wütend zu machen, vor allem, wenn man allein mit ihm war, wäre sehr dumm gewesen. Doch Abigail konnte sich nicht vorstellen, dass Moses, dieses sanfte Lamm, ihr etwas antun könnte.
„Kommen Sie, Miss Abigail“, sagte Moses. „Hier gibt es nichts mehr zu tun. Vielleicht kann ich in der Stadt Arbeit finden.“
„In Poteau? Das ist viel zu weit weg!“, protestierte Abigail.
„Ja, eine zweitägige Fußweg am Fluss entlang.“
„Das schaffe ich nicht.“ Abigail nahm einen trotzigen Gesichtsausdruck an.
Moses kannte ihn, er hatte ihn bereits fünfzehn Jahre lang gesehen. Der junge Mann seufzte. „In Ordnung, Miss. Dann gehen ich allein und Sie bleiben hier.“ Er wandte sich ab und ging. Abigail stemmte die Hände in die Hüften. Er würde wieder zurück kommen, da war sie sich sicher. Er hatte nicht den Mut, sich ihrem Willen zu widersetzen. Doch Moses kam nicht zurück, er drehte sich nicht einmal um. Im Gegenteil, er wurde immer kleiner und kleiner. Das merkte auch Abigail voller Unglauben. Sie verstand zwar nicht, warum er nicht zurückkam, doch sie wusste, dass sie auf keinen Fall allein hier bleiben wollte. Es dämmerte bereits und hier draußen gab es niemanden. Schließlich raffte sie ihr Kleid zusammen und lief mit einem letzten Blick auf ihr einstiges Heim hinter Moses her.

Mary befeuchtete den Umschlag erneut mit warmem Wasser und legte ihn auf die Stirn des jungen Mannes, den sie aus dem Fluss gezogen hatte. Seine Lippen begannen, wieder eine normale Farbe anzunehmen und er fühlte sich nicht mehr so kalt an. Sie legte noch einige Holzscheite in den Ofen und schaute hinaus, in den sich zum Ende neigenden Tag. Sie setzte sich auf die Bettkante neben ihn und legte eine Hand auf seine Stirn. Ohne es zu bemerken, begannen ihre Finger leicht, die blonden Haare zu streicheln.
„Wer bist du?“, murmelte sie. In diesem Moment schlug er die Augen auf. Mary erschreckte nicht, sie hatte erwartet, dass er im Laufe des Tages aufwachen würde.
Seine Augen, deren Farbe von einem tiefen Blau war, wanderten blicklos im Raum umher, bis sie Mary fanden. Sofort fuhr er hoch und schaute sich verwirrt um. „Wo bin ich?“
Mary lächelte leicht. „Ich habe dich auf dem Fluss gefunden“, sagte sie, machte aber keine Anstalten aufzustehen. Der junge Mann fasste sich kurz an den Kopf.
„Auf dem Fluss?“
„Ja. Du bist dort entlanggetrieben. Bewusstlos. Ich habe dich rausgezogen.“
Das musste er wohl erst verarbeiten, denn er zog seine Stirn kraus und fasste sich erneut an den Kopf.
„Ich kann mich an nichts mehr erinnern“, sagte er. „Außer an meinen Namen. Ich heiße Tadgh. Tadgh O’Brian.“
Mary stand auf. „Ich bin Mary Baker. Und du kannst dich wirklich an nichts mehr erinnern? Deine Eltern, Geschwister?“
Tadgh schüttelte den Kopf, was er sofort bereute. Sein Schädel schmerzte unerträglich. „Ich weiß nur noch, dass ich in den Fluss gesprungen bin. Davor ist ein großes Loch.“
Mary musterte ihn. „Du siehst noch zu jung aus, als dass du selbstständig sein könntest, aber zu alt, um ein Kind zu sein“, sagte sie nachdenklich.
Tadgh schien kurz nachzudenken, dann sagte er: „Ich bin zwanzig Jahre alt…glaube ich.“








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