Der verwunschene Brunnen

Autor: Bernd Bernard
veröffentlicht am: 13.06.2011


Ein Mädel trat zum Brunnen mit seinem Mütterlein, sie trugen große Krüge und pumpten Wasser rein. - Das Mädel wollte blicken; doch sprach das Mütterlein: „Dat Watter it zum Trinke, da schaut man nit hinein!“
Das Mädel wurde älter und lief jetzt ganz allein, sie füllte dem Behälter das kühle Nass hinein. - Das Mädel wollte blicken; doch dacht‘ ans Mütterlein: „Dat Watter it zum Trinke, da schaut man nit hinein!“
Das Mädel konnt’s nicht wehren, die Neugier war zu groß, sie tat die Mutter ehren; doch dacht‘: Was meint die bloß? - Und hört‘ noch aus der Ferne das liebe Mütterlein: „Dat Watter it zum Trinke, da schaut man nit hinein!“
Das Mädel stand am Brunnen im silbern Spiegelschein, sie wiegte und sie hauchte der Tränke Leben ein. - Vergebens blieb das Mahnen des lieben Mütterlein: „Dat Watter it zum Trinke, da schaut man nit hinein!“
Da schaute sie den Ring, der durch ihr Abbild schwang; sie wähnte süß den Drang, der zaubernd sie bezwang. - Vergessen war das Warnen des lieben Mütterlein: „Dat Watter it zum Trinke, da schaut man nit hinein!“
Das Mädel fühlt‘ den Mund auf ihren Lippen tasten und aus dem tiefen Grund zwei Arme, die sie fassten. - Verzweifelt hallt‘ das Rufen des lieben Mütterlein: „Dat Watter it zum Trinke, da schaut man nit hinein!“
Das Mädel schmolz im Bilde des Jünglings zart und fein; sie mocht‘ in dem Gefilde ihm seine Liebste sein. - Verloschen war die Stimme des lieben Mütterlein: „Dat Watter it zum Trinke, da schaut man nit hinein!“
Das Mädel war ertrunken, als man sie endlich fand; so tief zum Grund gesunken, dass niemand es verstand. - Und bei dem alten Brunnen steht heut‘ auf einem Stein: „Dat Watter it zum Trinke, da schaut man nit hinein!“

Geistiges Eigentum, lg Fleder.







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