Das Leben ist wertvoll - Teil 4

Autor: Anna :)
veröffentlicht am: 31.05.2011


Das Gel war wie immer kühl und angenehm auf der Haut. Doch Morgana entging nicht das angespannte Verhalten des Doktors, als er den Schallkopf mit unruhiger Hand bediente. Als das Baby schließlich zu sehen war, schaute er einen Moment auf den Bildschirm und senkte dann hoffnungslos den Kopf. Morgana stutzte. Was war denn da nicht in Ordnung? Sie sah nichts Auffälliges. Der Fötus hatte Arme, Beine, alles. Keine Missbildungen, keine Schieflage, sofern sie es beurteilen konnte.
„Sagen Sie schon, was Sie so bedrückt“, drängte sie Griffin in ungewohnt unhöflicher Weise. Er hob traurig den Kopf, ging zur Tür und winkte Dave herein. Er verschränkte die Arme auf dem Rücken, fuhr sich über die trockenen Lippen und seufzte.
„Ich habe schlechte Nachrichten“, begann er und zeigte auf den Bildschirm. „Sehen Sie den Femur?“
Als er ihre fragenden Blicke sah, räusperte er sich. „Der Oberschenkelknochen. Er ist bei diesem Fötus vergleichsweise kurz, was mich auch zum Nachdenken angeregt hat.“
„Was ist denn daran so schlimm, Doktor?“, fragte Morgana. Sie konnte sich daraus noch keinen Reim machen.
Ein Moment Stille entstand. Griffin seufzte.
„Ich möchte nicht lange um den heißen Brei reden. Mr. Evans, Mrs. Evans…ich fürchte, ihr Baby leidet an einer schweren Chromosomstörung, auch Trisomie 13 oder Pätau – Syndrom genannt.“
Morgana schlug die Hand vor den Mund. Sie hatte schon etwas darüber gehört. Bei der partiellen Trisomie 13 liegen die Chromosomen 13 zwar wie üblich zweifach in allen Körperzellen vor, allerdings ist ein Teil eines der beiden Chromosomen 13 verdoppelt, wodurch eines der Chromosomen 13 etwas länger ist als das andere.
Sie sah zu Dave hinüber, der bei der Erwähnung des Syndroms scharf Luft eingesogen hatte. „Die Erbinformationen liegen dreifach vor“, sagte er tonlos. Griffin nickte traurig und wandte sich zu Morgana, die mit weit aufgerissenen Augen dalag und geistesabwesend ihren Bauch streichelte.
„Ich fürchte, Ihr Kind wird schwer behindert sein“, sagte er. „Das Pätau – Syndrom ist äußerst selten, doch es beeinträchtigt das Leben immens.“
Die ersten Tränen kamen für Morgana langsam. Die Schmerzen jedoch nicht. Sie weinte lautlos, den Kopf in die Hände gestützt. Griffin wandte sich ab, doch Daves niedergeschlagener Anblick war auch nicht viel ermutigender. Diesen Teil seines Jobs hasste er zutiefst. Er konnte ohne Probleme Frauen die Gebärmutter entnehmen, Kaiserschnitte durchführen und zwölf Stunden durcharbeiten, aber beim Anblick einer weinenden Mutter versagte er. Doch sosehr Morgana Evans schon gelitten hatte musste ihr Griffin das Wichtigste noch sagen.
„Ich fürchte, das ist noch nicht mal das Schlimmste an der ganzen Sache“, sagte er langsam. Seine Zunge wollte ihm nicht gehorchen und ihm selbst widerstrebte es zutiefst, auch noch diesen schmerzvollen Teil seines Jobs auszuführen.
Morgana schaute auf. Ihre Augen waren tränenverschmiert. Dave nahm sie nicht in den Arm, er tröstete sie auch nicht. Er saß einfach nur da, das Gesicht in den Händen vergraben und gleichmäßig atmend.
„Was denn noch, Doktor?“, flüsterte sie ruhig.
„Nun, das Pätau – Syndrom kommt selten ohne Nebenwirkungen“, sagte der Arzt. „Manchmal ist auch eine kleine Schieflage des Fötus da, welche jedoch eine große Auswirkung auf die Geburt hat. Die Mutter…“ er schloss die Augen und zwang sich schließlich, weiter zu reden. „Die Mutter stirbt in den meisten Fällen.“ Im selben Moment sprang Dave auf und sah Griffin entgeistert an. „Nein“, hauchte er.
Der Doktor nickte und deutete auf den Bildschirm. „Leider…leider ist bei ihrem Baby dieselbe Schieflage zu sehen.“
Er fuhr sich mit der Hand über die Augen. Das hatte er noch nie zu einem Paar sagen müssen. Es war schrecklich. Morgana bewegte sich nicht. Sie war wie gelähmt. „Was raten Sie uns“, fragte sie leise. Ihre Stimme war anders, wie die einer Fremden.
Griffin räusperte sich. „Sie haben noch eine große Hoffnung bei einer- Spätabtreibung.“
Sie fasste sich an den Bauch und starrte den Arzt ungläubig an.
Abtreibung. Das schlimmste Wort für eine Schwangere. Morgana hätte nie gedacht, dass sie mal in eine solche Situation geraten könnte. Es war wie ein Traum…ein Alptraum, der über sie hinwegrollte wie eine Welle des Bösen. Doch ihre Gedanken waren nicht ausreichend vernebelt, um die aufsteigende Wut in ihr zu stoppen. „Nein!“, sagte sie laut und entschlossen.
Dave sah sie an. „Was?“
„Ich sagte: Nein!“, wiederholte sie, schwang die Beine über die Kante und begann, sich anzuziehen.
„Was soll das heißen?“, fragte Dave mit einem leicht aggressiven Unterton.
Morgana verlor allmählich die Geduld. Sie stand auf und baute sich vor ihrem Mann auf. „Das soll heißen, dass ich mein Baby nicht umbringen werde!“, presste sie wütend hervor. Dr. Griffin legte seine Hand auf ihre Schulter. „Mrs. Evans, sein Sie doch vernünftig“, sagte er. „Das ist eine durchaus mögliche Lösung. Sie werden keinen Schaden davontragen…“
Morgana riss sich los und schaute abwechselnd von Dave zu dem Arzt.
„Ihr habt doch keine Ahnung, wie es ist, beinahe neun Monate ein Kind in sich zu tragen.“ Ihr kamen erneut die Tränen. „Ich schon. Und ich werde mein Mädchen nicht verlieren, nur weil Sie…“, sie wandte sich an Griffin. „…Behauptungen aufstellen, deren Sie sich noch nicht einmal sicher sind!“
Mit diesen Worten drehte sie sich um und verlies wütend das Untersuchungszimmer. Doch draußen wurde sie sich ihrer ganzen Hilflosigkeit bewusst. Ihre Beine wurden weich und gaben, als sie bereits im Fahrstuhl war, endgültig nach. Sie hielt sich den Bauch und sank zu Boden. Weitere Tränen rannen über ihre Wange. Einige tropften auf den Boden, andere blieben an ihrem Kinn hängen.
Das Baby bewegte sich leicht. Ob es den Kummer seiner Mutter bemerkte?
Als die Fahrstuhltür sich öffnete, schnaufte Morgana kurz und wischte sich über die verweinten Augen. Sie raffte sich auf. Schwankend trat sie aus dem Krankenhausgebäude, von dessen Geruch ihr schlecht wurde, und machte sich auf den Weg nach Hause.






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