Insel des Vergessens - Teil 7

Autor: Jana
veröffentlicht am: 12.08.2011


Tut mir leid, dass es so ewig lang gedauert hat! Ich selbst bin mit dem Teil (mal wieder) nicht wirklich zufrieden, wollte ihn allerdings trotzdem einfach mal einsenden und auf eure Kritik warten und ihn anschließend nochmals überarbeiten :)

Also; freue mich auf eure Kommentare!


Sechstes Kapitel
Es vergingen Tage und Wochen, in denen Catherine im Alltag schwelgte. Morgens besuchte sie die Schule, mittags verbrachte sie ihre Zeit in der Stadt und vor allem in den zahlreichen Bibliotheken der Umgebung. Sie suchte nach Hinweisen, Erklärungen dafür, was sie eigentlich war, wie etwas wie sie überhaupt existieren konnte. Halb Mensch, halb... ja halb was? Wolf oder Bestie?
Mit jedem Tag fühlte sie sich mehr und mehr zerrissen. Weder in ihrer menschlichen Gestalt noch im Körper des Wolfes fühlte sie sich vollkommen. In jeder Form fühlte sie sich, als würde ein Teil fehlen. Etwas, was ihr niemand geben konnte, etwas was man nicht ergänzen konnte.
Und das war der Grund, weswegen sie sich immer und immer mehr verloren fühlte. Verloren in dieser Welt, verloren in sich selbst. Einsam. Verlassen.
Tiefe Traurigkeit legte sich wie eine Klaue um ihr Herz und zerdrückte es von Tag zu Tag immer wieder ein kleines Stück mehr. Nicht einmal Freddy, an dessen ständige Begleitung sie sich langsam gewöhnte, der sie wie ein zweiter Schatten begleitete, konnte ihre Einsamkeit vertreiben. Nicht einmal ihre beste Freundin, nicht einmal ihr Bruder. Niemand. Sie fühlte sich zerrissen, so unglaublich unvollkommenen, ohne jegliches Ziel, ohne Aussichten auf eine Besserung, Veränderung.
Sie vegetierte in einem Art Trancezustand dem Tag ihres achtzehnten Geburtstags entgegen, an dem sie aufhören würde zu altern – genau wie ihr Bruder, der schon seit fünf Jahren keine Veränderung seiner Äußerlichkeiten feststellen konnte. Sie redete nur, wenn sie musste, aß nur so viel, bis ihr Bruder mit einem frustrierten Seufzen aufgab, ihr eine Gabel nach der anderen aufzuzwängen.
William selbst verschwand zwei Wochen vor ihrem Geburtstag. Er meinte, er müsse auf eine wichtige Geschäftsreise, was Catherine gerade recht war. Sie hasste seine Gesellschaft und genoss seine Abwesenheit.
Einige Tage vor ihrem Geburtstag spürte sie schließlich, wie sich ihr Körper ein letztes Mal veränderte. Ihre schwarzen, struppige Haare gewannen nach und nach einen gepflegten Glanz, fielen selbst am nächsten Morgen noch in leichten Wellen bis über ihre Brust. Jegliche pubertätsbedingten Unreinheiten verschwanden aus ihrem Gesicht und von jeder anderen Hautpartie. Ihre Haut wurde weicher, einen Tick heller. Um ihre tiefschwarzen Pupillen bildete sich ein goldener Kranz, das Weiß ihrer Augen wurde klarer. Die Wangenknochen traten noch ein Stück hervor, betonten ihre schmale Gesichtsform und ließen sie älter wirken als sie war.
Das einzige, das sich nicht ins positive veränderte, war ihre Seele, ihr Inneres. Die Zerrissenheit blieb.

„Catherine“, Jason bedachte seine Schwester mit einem sanften Blick, als sie am Tag ihres Geburtstages in die Küche trat, um zu frühstücken. Langsam kam er auf sie zu, streckte seine Arme nach ihr aus und lächelte. „Heute ist ein besonderer Tag“, sagte er schlicht und drückte sie liebevoll an sich.
„Danke“, meinte Catherine und ließ ihren Blick über den Tisch gleiten, auf dem ein Teller mit Pfannkuchen, frischgebratener Speck, Eier, Käse und Wurst und eine Packung Orangensaft standen. Auf ihrem Platz lag noch ein kleines Päckchen von ihrem Bruder. Sie lächelte. „Das wäre nicht nötig gewesen“, meinte sie.
„Allerdings“, entgegnete Jason sanft. „Die kleine Aufmerksamkeit hast du an diesem Tag verdient. Setz dich.“ Sie tat wie ihr befohlen und ließ sich geschmeidig auf einen Stuhl sinken. Neugierig huschte ihr Blick zu dem Päckchen, das in grüngelbem Papier vor ihr lag.
„Pack aus“, forderte ihr Bruder sie auf. Vorsichtig nahm sie es in die Hand, schüttelte es und horchte, ob es raschelte. Es blieb still.
Mit flinken Fingern riss sie das Papier auf, ohne es dabei zu zerfleddern. Langsam fiel es zu Boden und landete lautlos, während Catherine eine längliche, braune Holzbox in der Hand hielt. Fragend schaute sie auf. „Mach schon auf“, ermunterte Jason sie und nickte ihr lächelnd zu.
Zögernd hob sie den Deckel an und lugte hinein. Als sie nichts erkennen konnte, öffnete sie es vollständig und starrte schweigend auf das Armband, das in blauen Saum gewickelt vor ihr lag. Es war aus dunkelbraunem Leder angefertigt und war etwas breiter als drei Zentimeter. Es bestand aus zwei geflochtenen Strängen, jeweils links und rechts eines geraden Bandes, das sich in der Mitte befand. Zum Ende hin wurden die drei Stränge immer dünner, bis sie zusammen in einer dünnen, ledrigen Schnur endeten, mit der man das Armband zusammenband.
Die Stränge lagen nah beieinander. Der gerade, mittlere der dreien war mit einer lateinischen Inschrift und einem grünen Smaragd am unteren Enden verziert. „Vivere militare est“, las Catherine und strich langsam über die kursive, eingeritzte Schrift.
„Zu leben heißt zu kämpfen“, übersetzte ihr Bruder. „Eine sehr alte Redewendung.“ Schweigend beobachtete er seine Schwester, die ebenfalls still das Geschenk betrachtete. „Gefällt es dir nicht?“, fragte er nach einer Weile vorsichtig.
„Es ist wunderschön“, sagte sie schließlich und erwiderte seinen Blick. „Es ist ein Traum, es gefällt mir wirklich sehr. Es ist nur... der Stein... ich bin sicher, es war nicht gerade billig...“
„Catherine...“, unterbrach er sie sanft. „Mach dir um den Preis keine Sorgen. Ich habe es... aus sicherer Hand. Mach dir keine Gedanken.“
Unsicher wollte sie ihm etwas entgegnen, fragen, was er unter „einer sicheren Hand“ verstand. Doch dann überlegte sie es sich anders. „Danke“, sagte sie stattdessen. „Hilfst du mir, es anzulegen?“

Sie trug das Armband an ihrem rechten Handgelenk, genau über dem Mal, das mittlerweile ein klares Dreieck bildete. Durch das lederne Band war es kaum zu sehen, nur zu erahnen und für jeden, der davon nichts wusste, war es unsichtbar.
„Es ist wunderschön“, bestätigte ihre beste Freundin in der ersten Schulstunde des Tages. „Es wirkt sehr einzigartig. Dein Bruder scheint sich wirklich viele Gedanken darüber gemacht zu haben, was er dir schenken sollte.“ Sie lächelte Catherine zu und wandte ihr Gesicht wieder nach vorne, um den kompliziert wirkenden Zahlen und Formeln an der Tafel zu folgen. „Sag mal... im ernst, verstehst du den Mist der da vorne steht?“
Catherine lachte leise auf. „Du wirst es kaum glauben, aber ja, ich verstehe zum ersten Mal, was unsere nette Miss von uns will.“
„Wahnsinn“, entgegnete Jenny sarkastisch. „Dann kannst du es mir ja gleich heute Nachmittag erklären. Morgen steht schon die Prüfung an und ich brauche mindestens die Hälfte der Gesamtpunktzahl um zu bestehen. Wenn ich durchfalle, nageln mich meine Eltern kopfüber ans Kreuz und lassen mich dort verrotten. Und ganz ehrlich, dafür bin ich definitiv zu jung.“
Beschwichtigend legte Catherine ihre Hand auf den Arm ihrer besten Freundin. „Keine Sorge. Ich werde dir helfen und dann wird die Prüfung ein Kinderspiel für dich. Du wirst sehen.“

Es war zehn Uhr dreiunddreißig, als Catherine begann, sich unwohl zu fühlen. Es war nicht das normale Unwohlsein, das sie aufgrund ihrer innen Zerrissenheit und gespürten Unvollkommenheit kannte. Es war ein Kribbeln und Ziehen dicht unter ihrer Haut, das sich bis hin zu ihren Zehn- und Fingerspitzen entlangschlängelte. Ihr Puls war höher als gewohnt, ihre Temperatur minimal erhöht. Ihre Lunge füllte sich nur rasselnd mit Sauerstoff und ihre Hände zitterten unkontrolliert.
Doch sie machte sich darum keine großen Sorgen. Sie schob es darauf, dass heute ein besonderer Tag war, der Tag, an dem sie aufhören würde, zu altern. Sie stempelte die Symptome als eine Nebenwirkungen ab und versuchte das Ziehen und Drücken zu ignorieren.
Doch schon bei Beginn der vierten Schulstunde, um vier nach elf, konnte sie ihren Körper nicht mehr ausblenden. Ohne zu wissen warum, wurde sie von Minute zu Minute nervöser: Zu den anfänglichen Symptomen gesellte sich das ihr nun wohl bekannte Brennen ihrer Muskeln hinzu, das sie von ihren üblichen Verwandlungen kannte.
„Sag mal, Catherine, was ist eigentlich mit dir los? Du rutschst auf deinem Stuhl hin und her, als hättest du Hummeln im Arsch“, bemerkte Jenny und musterte sie ausführlich. „Bist du irgendwie auf Drogen? Deine Pupillen sehen echt gruslig aus. So seltsam geweitet und so...“
Ohne ihre beste Freundin ausreden zu lassen, sprang sie auf und rannte ungeachtet ihres stocksaueren Lehrers auf die Tür des Klassenzimmers zu. Sie musste sich zügeln, um ihre Beine zu kontrollieren und nicht im Bruchteil einer Sekunde den Raum zu durchqueren, sondern wie ein gewöhnlicher Mensch im gewöhnlichem Tempo zu laufen.
Doch sobald sie sich draußen auf dem menschenleeren Gang befand, raste sie mit geschmeidigen Bewegungen zum Mädchenklo.
Dort stützte sie ihre Hände auf dem Waschbecken ab und beobachtete sich im Spiegel. Jenny hatte recht. Ihre Pupillen waren ungewöhnlich geweitet und ihre Augen hatten mittlerweile ein leichtes, goldenes Leuchten. Mit gerunzelter Stirn betrachtete sie ihr Spiegelbild und kniff die Augen zusammen, als ihr Zahnfleisch anfing zu schmerzen.
Sie riss sich von ihrem Anblick los und drehte den Wasserhahn auf. Hastig spritzte sie sich das kalte, modrig riechende Wasser ins Gesicht. Als sie wieder aufblickte, waren ihre Augen normal, ihr Körper stand still. Ihr Puls und Herzschlag setzte für Sekunden aus, ihre Atmung stockte ungewollt und ihre Glieder erfroren zu Eis.
Und auf einmal, brachen ihre Beine unter ihr weg. Mit einem Aufschrei stürzte sie zu Boden und knallte mit dem Kopf ans Waschbecken. Ihr wurde schwarz vor den Augen. Es schien, als würde sich alles um sie drehen und ein furchtbarer, nicht enden wollender Schmerz stach in ihren Beinen. Sie stöhnte und versuchte sich in eine sitzende Haltung zu befördern, was ihr allerdings erst nach einiger Zeit gelang.
Als sich ihre Sicht klärte und das schwarz vor ihren inneren Augen verschwand, fiel ihr Blick sofort auf ihre seltsam verdrehte Beine. Bewegungsunfähig starrte sie auf das untere Chaos ihres Körpers. Erst als sie Schritte aus weiterer Entfernung wahrnahm, schrak sie zusammen und schaute sich hastig um. Man durfte sie hier so nicht finden. Sie musste sich verstecken. Die einzige Möglichkeit boten ihr die Toilettenkabinen, die allerdings einige Meter von ihr entfernt waren. Doch sie raffte sich zusammen und schaffte es, sich mit einer mehr als schmerzhaften Bewegung auf den Bauch zu legen, sodass sie sich mit den Armen nach vorne schleppen konnte. Nur langsam, erreichte sie die vorderste Kabine, zog sich an der Toilette hoch, drehte sich schnaufend und unter starken Schmerzen um und schloss hinter sich die Tür.
Keine Sekunde später kam eine Person in das Bad gestürmt. „Catherine? Alles in Ordnung? Ich weiß, dass du hier bist“, hörte sie Jenny\'s nervöse Stimme.
Sie biss die Zähne zusammen und antwortete ruhig. „Mir geht es gut. Mir ist nur etwas schlecht, deswegen bin ich nach draußen gestürmt.“
„Lass mich rein“, bat Jenny.
„Das geht nicht.“
„Komm schon, Catherine, lass mich rein! Ich will dir nur ein Schluck Wasser geben und im Fall der Fälle kann ich deine Haare halten. Lass mich dir eine Freundin sein!“
Doch Catherine konnte nicht mehr antworten, denn im darauf folgenden Moment verbogen sich mit einem lauten Knacken die Finger ihrer rechten Hand, spreizten sich gegen ihren Willen auseinander und brachen aus ihren Gelenken. Sie konnte ein gequältes Stöhnen nicht unterdrücken.
„Was ist denn los? Catherine!“ Jenny trommelte mit den Fäusten gegen die Toilettentür. „Langsam mache ich mir echt Sorgen! Du klingst überhaupt nicht gut und es ist nicht gut, wenn du dich da alleine einsperrst. Lass mich endlich rein!“
„Es... geht nicht“, brachte sie hervor und umklammerte ihre Hand. Sie war solche ewig anhaltenden Schmerzen nicht gewohnt. Natürlich brachen bei ihrer üblichen Transformation auch sämtliche Knochen und wuchsen neu zusammen. Allerdings war das ein Vorgang von nicht einmal einer Sekunde.
Doch das hier war etwas anderes. Ihre Knochen brachen und verdrehten sich, so langsam, dass jeder Mensch es mit eigenen Augen hätte verfolgen können. Und es tat höllisch weh. Schmerz war nicht einmal ein Ausdruck dafür, was sie in empfand.
Als sie spürte, dass sich ihre Muskeln gegen ihren Willen verschoben, was ebenfalls Wellen des Schmerzes durch ihren wunden Körper jagte, wusste sie, dass sie dagegen ankämpfen musste. Ihr Körper schien sich ohne ihre Aufforderung verwandeln zu wollen. Und das konnte sie nicht zulassen. Nicht hier, nicht an diesem Ort und nicht in diesem Moment.
Sie atmete tief durch, legte den Kopf in den Nacken und tastete in ihren Körper hinein, auf der Suche nach ihrem Ich, das sich ihrer Meinung nach sicherlich unter der schwarzen Seele des Wolfes verbarg, der aus ihr herausbrechen wollte.
Als sich etwas in ihr rührte und sie es mit ihren unsichtbaren Fingern ertasten konnte, schrak sie zurück und riss die Augen auf. Die Bestie fühlte sich anders an. Stärker. Stärker als je zuvor.
Panik übermannte sie. Sie schnappte nach Luft, sodass ihr Atem schneller und schneller ging, versuchte einen Punkt in der Kabine zu finden, um sich mit ihren Blick daran zu klammern und die Fassung zurückzugewinnen.
Der Lärm, der ihre panikvollen, erstickende und schmerzerfüllte Atmung verursachte, musste angsterfüllend klingen, denn Jenny raufte sich verzweifelt die Haare und wurde fast verrückt vor Sorge.
„Catherine!“, krisch sie und rüttelte an der Tür. „Das ist echt nicht lustig! Was ist mit dir? Du klingst FURCHTBAR!“
Doch Catherine konnte nur stöhnen und rutschte von dem Toilettendeckel runter auf den eiskalten Boden. Im selben Moment brach ihr Handgelenk und begann sich zu drehen und zu winden, versuchte sich selbst in die richtige Position zu bringen.
Mit gesamter Macht versuchte sie gegen die Vorgänge ihres Körpers anzukämpfen, was allerdings nur noch größere Schmerzenswellen auslöste. Doch sie gab nicht nach, gab ihrem eigenen Körper nicht nach. Sie durfte die Transformation nicht zulassen. Wer weiß, was dann passieren würde. Vielleicht würde sich der Wolf auf sämtliche Schüler stürzen, sie verletzen oder gar töten, unschuldige Menschen ermorden. Vielleicht würde er auch sie aus dem Körper verdrängen oder einnehmen. Vielleicht würde er sie für immer verbannen.
Einen Moment blieb sie still liegen. Ihr Körper schien eine Pause zu machen, denn sie spürte nichts mehr. Keinen Schmerz, kein Brennen, kein Reisen.
Doch plötzlich bestand alles nur noch aus pulsierender, stechender und mörderischer Qual. Alles stach und brannte. Keine Stelle ihrer Haut stand nicht in Flammen, kein Muskel war nicht vollkommen verkrampft, als nun auch ihre Wirbelsäule zerriss.
Sie konnte einen gequälten Schrei nicht länger unterdrücken. Sie stöhnte und gluckste, spuckte Blut und wand sich auf dem Boden hin und her, versuchte das Schwarz vor ihren Augen zu verdrängen, nicht in Ohnmacht zu fallen und vollständig die Kontrolle ihrer selbst zu verlieren.
Doch das war nicht alles. Sie konnte zusätzlich Jennys Gefühle spüren, ihre Panik, ihre Verzweiflung und Ratlosigkeit. Und sie konnte ihre Gedanken hören. Konnte hören, dass sie sich auf den Boden gleiten ließ, um durch den Ritz unter der Tür hindurch zu lugen.
Um nach ihr zu schauen.
Im selben Moment, als Jenny ihre Hände auf den Boden legte, um sich abzustützen, und ihren Kopf senkte, wurde die Badetür ein weiteres Mal aufgerissen. Schwere Schritte näherten sich. Jenny wurde nach oben gerissen und einige Meter weggeschoben. „Ist sie da drin?“, hörte Catherine eine maskuline, bekannte Stimme.
„J-a-a-a“, stotterte ihre beste Freundin. „Ja, aber... das hier ist das Mädchenklo...“
„Verschwinde!“, befahl die Stimme. „Raus aus dem Bad, ich kümmere mich um sie.“
„Aber...“, wollte sie widersprechen, doch der Mann unterbrach sie. „Du wirst hier verschwinden, zu deinem Lehrer gehen und sagen, dass alles in Ordnung und Catherine nach Hause gegangen ist. Ihr ist schlecht und möchte sich ausruhen, daher wirst du sie heute auch nicht besuchen. Verstanden?“
Ohne ein Widerwort verschwand Jenny aus dem Bad.
„Verschwinde... William“, stöhnte Catherine und versuchte sich irgendwie hochzustemmen. „Ich komme klar... ich brauche... ich brauche nur etwas... Zeit... Zeit und Ruhe.“ Sie schnappte nach Luft und keuchte. „Verschwinde“, fauchte sie gequält und unterdrückte einen Schrei.
Doch statt zu verschwinden trat William ohne weiteres die Tür ein, sodass sie aus den Angeln hing und er sie ohne Anstrengung beiseite heben konnte.
Catherine spürte seinen Blick auf ihren verkrüppelten Körper. Und auf einmal stieg furchtbare Wut in ihr auf. Wut, dass er gegen ihren Willen noch hier war, dass er nicht verschwunden war und dass er nun von oben auf sie hinab sah. Von oben auf sie hinab!
Im selben Moment merkte sie, wie sich ihre Beine mit einem furchtbar lauten Knacken wieder richteten, ihre Muskeln zusammenwuchsen und dafür Zähne aus ihrem Kiefer stießen. Mit einer geschmeidigen Bewegung erhob sie sich.

Sie sah wunderschön aus. Ihre Beine und Arme hatten sich wieder gerichtet, die Krallen waren wieder in ihrer Haut verschwunden und ihre Wirbelsäule war nicht mehr seltsam verdreht. Sie stand und funkelte ihn aus zornigen, grünen Augen an. Aus ihrem Kiefer waren lange Reiszähne gewachsen, die sie nun bleckte, um ihm gegebenenfalls die Kehle zu zerfetzen. Ihr Gesicht war verzerrt, doch nicht entstellt. Sie sah nicht nur gefährlich aus, sie war es auch.
Er konnte es riechen.
Er wusste nicht, was sie war, und warum und was genau sie gerade im Moment durchmachte. Doch er ahnte, dass sie nicht lange stehen würde. Bald würden ihre Beine aufs neue brechen, der Schmerz würde zurückkehren und sie würde dasselbe wie vor einigen Minuten ein weiteres Mal durchmachen.
Und das nicht nur einmal. Wieder und wieder würden ihre Knochen heilen und wieder brechen, sich verschieben und ihr Höllenqualen verursachen.
Und er sollte Recht behalten. Bevor sie auch nur ein Wort sagen konnte, brachen ihre Beine ein weiteres Mal unter ihr weg und sie sackte mit einem Stöhnen zusammen. Mit einer raschen Bewegung fing William sie auf und hob sie ohne zu zögern auf seine Arme.
Sie musste hier weg. Niemand sollte sie so sehen und er wusste nicht, was passieren würde, wenn erst einmal das beendet war, was mit Catherines Körper vor sich ging.
Er schob seine große Gestalt aus der engen Toilettenkabine, lief am Spiegel vorbei und hinaus auf den Flur.

Dank seiner Geschicklichkeit und Schnelligkeit, gelang es William sich und das Mädchen ungesehen aus dem Schulgebäude zu manövrieren und in dem angrenzenden dichten und dunklen Wald unterzutauchen.
Auf einer kleinen Lichtung, kilometerweit von jeglicher Zivilisation entfernt, legte er das Mädchen auf den Boden. Schweigend beobachtete er das rhythmische Zucken ihrer Muskeln, das Flimmern ihrer Augenlieder, als würde sie sie jeden Augenblick aufschlagen. Ihr Brustkorb hob und senkte sich nur selten, als würde sie kaum atmen.
Es vergingen Minuten, bis Catherine endlich die Augen aufschlug. Ihr Blick war starr nach oben gerichtet, war so leer wie das Auge eines Toden.
Sie nuschelte etwas.
William beugte sich weiter zu ihr, um zu verstehen was sie ihm mitteilen wollte, doch er verstand sie nicht. Stattdessen richtete er seinen Blick gen Himmel, und entdeckte das, was Catherine fixierte.
„Vollmond“, murmelte er. Im selbem Moment wurde er durch einen gewaltigen Schlag gegen einen Baumstamm geschleudert.





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