Sommerregen - Teil 3

Autor: Yaksi
veröffentlicht am: 16.05.2011


Eiskaltes Wasser traf mein Gesicht und prustend richtete ich mich auf. Mein ganzer Körper schmerzte und in meinem Kopf hämmerte ein kleiner Giftzwerg gegen meinen Schädel. Ich stöhnte.
Das erste was ich sah, war ein klarer Sternenhimmel mit einem wunderschönen Halbmond, der mir verschwörerisch zuzwinkerte. Ich musste blinzeln und sah mich genauer um. Wo war ich?
Doch sofort überschwemmten mich die Erinnerungen vom Abend. Kaylee war schwanger. Sie war sauer auf mich. Ein Gesicht tauchte vor mir auf: Derick und seine glasigen Augen. Ich erinnerte mich daran, wie er mich packte, mich küsste und schließlich von jemanden weggerissen wurde – Oh Gott, mein erster Kuss.
Ich war verwirrt durch die Straßen gelaufen. Zwei Scheinwerfer leuchteten mich an. Jemand hat mich gerettet.
Aber was war danach passiert? Mein Blick blieb an einem See hängen, den ich vor ein paar Stunden erst besucht hatte. Zusammen mit Kaylee. Hat sie mir vielleicht geholfen? Nein, ich hatte eine Jungenstimmte gehört. Außerdem war Kaylee sauer auf mich und lag wahrscheinlich gerade nichtsahnend in ihrem Bett und träumte zufrieden von ihrer Zukunft mit Sasha und Klein-Kaylee.
Als ich zu meiner Rechten schaute, sog ich scharf die Luft ein. Da war er, dicht neben mir. Mit einem entschuldigenden Lächeln auf seinen Lippen. Seine braunen Haare hingen ihm wirr ins Gesicht, was ihn trotz seiner markanten Gesichtszüge freundlich aussehen ließ. Unsere Blicke kreuzten sich und für einen kurzen Moment hatte ich das Gefühl, er würde mit seinen hellbraunen Augen meine tiefsten Wünsche und Geheimnisse sehen können.
Instinktiv rückte ich von ihm ab und starrte meinen Retter geschockt an. Ja, mein Retter. Ich hätte aber niemals gedacht, dass ausgerechnet Ivan Shiver mein Held sei. Nie.
Und da tauchten auf einmal meine Gedanken auf, die ich gehabt hatte, als Kaylee mich nach meinem Traummann gefragt hatte. Damals hatte ich gedacht, dass sich jedes Mädchen einen Jungen wünschte, der groß, muskulös und heldenhaft war. Und welcher Typ von Jungs stand gerade vor mir?
Ich machte den Mund auf, um irgendetwas sagen zu können, doch es ertönten nur peinliche unpassende Laute, also schloss ich den Mund wieder. In meinem Kopf ratterte es und auf einmal beschlichen mich wieder irgendwelche Horrorvorstellungen. Wieso war ich mit Ivan allein am See? In einer finsteren Nacht. Ich hoffte, dass er nicht auf merkwürdige Gedanken kam.
„Wie geht es dir?“, fragte er und schien den Abstand zwischen uns nicht überschreiten zu wollen. Ich musterte ihn genauer, um eventuelle Waffen zu erkennen, doch unter seinem schwarzen T-Shirt zeichneten sich nur schwach ein paar Muskeln ab und an seinem Hosenbund war auch nichts Gefährliches zu erkennen. Ich atmete erleichtert aus.
„Hm. Ganz okay“, antwortete ich heiser und räusperte mich schnell. „Aber was mache ich eigentlich hier? Das letzte woran ich mich erinnern kann, war ein Lastwagen, der mich fast überfahren hätte, aber…“
„…ich habe dich weggezogen“, beendete er den Satz und bestätigte somit meine letzten Vermutungen, dass er mir tatsächlich geholfen hatte. Ich schauderte. „Ich habe dich hierher gebracht, weil du ihn Ohnmacht gefallen bist und ich nicht weiß, wo du wohnst. Dieser Ort schien mir einleuchtend zu sein, da ich dich dank dem Wasser wecken konnte“, erklärte Ivan und lächelte mich an. Es war kein spöttisches oder hochnäsiges Lächeln, wie ich erwartet hatte, sondern es war warm und verständnisvoll. Er kannte also auch den See.
„Aber…“, begann ich und wusste nicht wie ich anfangen sollte. Mein ganzer Kopf schwirrte vor lauter Fragen, die ich am liebsten alle gleichzeitig gestellt hätte. „Was ist mit deinem zu Hause? Wieso hast du…mich nicht dahin gebracht?“
Er zögerte. „Ich habe zur Zeit eine kleine Auseinandersetzung mit meinen Eltern“, erklärte er. „Und möchte einfach so spät wie es geht nach Hause. Eigentlich wollte ich mich auch mit Derick treffen, doch anscheinend hat er es vergessen oder andere Dinge zu tun gehabt, zum Beispiel sich mit Drogen vollzupumpen. Keine gute Idee von ihm. Tja und dann hab ich euch gesehen. Zuerst dachte ich, er würde sich wieder mit seiner Ex-Freundin treffen, doch als ich das Fahrrad sah und dich dann schließlich erkannt habe…“ Er brach ab. Den Rest kannten wir beide.
Eine kurze Schweigeminute entstand zwischen uns und jeder hing noch seinen Gedanken nach. Ich bemerkte, wie ich zitterte, da mich das kalte Wasser und der kühle Wind nicht gerade wärmten.
„Ich bin dir was schuldig, Ivan“, sagte ich nach einer langen Pause. Seinen Namen auszusprechen war seltsam und klang irgendwie unpassend in meinen Ohren. „Und ich bin dir so dankbar, dass–“
„Nein, bitte. Ich möchte das nicht hören“, unterbrach er mich und hob abwehrend die Hände hoch. „Ehrlich gesagt bin ich nicht stolz darauf meinem besten Kumpel ins Gesicht geschlagen zu haben, damit er sich nicht mehr wehren kann“ Ich nickte. Was hätte ich auch sonst tun sollen? „Und ich glaube, dass du so langsam nach Hause gehen solltest. Es ist schon spät“
Bei diesem Gedanken baute sich ein kleiner Widerstand in mir auf, als ich daran dachte, wieder allein durch die Nacht laufen zu müssen. Anscheinend konnte Ivan Gedanken lesen, denn sofort fügte er hinzu: „Ich werde dich begleiten. Keine Sorge“
Ich machte mir aber Sorgen. Doch tapfer schüttelte ich diese ab und kam wankend auf die Beine. Ivan stützte mich, wobei ich bei seiner Berührung kurz zusammenzuckte. Dennoch versuchte ich meine Angst hinunterzuschlucken.

Es kam mir vor, als würden wir Ewigkeiten durch die Nacht laufen. Immer wieder überfiel mich die Müdigkeit, doch krampfhaft versuchte ich sie wegzuscheuchen und war unendlich erleichtert, als wir schließlich vor der Haustür ankamen, wo mich schon meine aufgelöste Mutter empfing. Sie weinte, nahm mich in die Arme, schimpfte und weinte wieder. Ivan erklärte meiner Mutter, was passiert war, wobei der Griff von Mom um meine Schulter immer fester wurde. Irgendwann lag ich dann im Bett, immer noch ein wenig geschockt, aber froh in Sicherheit zu sein.

- Der nächste Tag / Freitag -
Ich war heute Morgen nicht zur Schule gegangen. Ich wusste, dass meine Freundin schon die ersten Gewissensbisse plagten, da sie mir gegen Schulende eine SMS geschrieben hatte. ‘Wieso warst du nicht in der Schule?‘ und zwei Minuten später: ‘Ist es wegen gestern?‘
Doch diesmal würde ich es ihr nicht so einfach machen und stellte mein Handy aus, damit ich nicht jede Minute diesen nervigen Klingelton hören musste.
Ich packte meine Sachen, da wir heute Nachmittag zu der kleinen Strandparty meiner Cousine fahren würden. Zur Trauung wollten Mom und Grama nicht gehen, wobei ich zuerst ein wenig protestiert hatte, aber schließlich aufgab. Da wir noch eine Nacht in einem gemieteten Ferienhaus des Brautpaares übernachten würden, packte ich in einem Extrarucksack meine Schlafsachen und den geliebten Zeichenblock ein. Als ich mich ein paar Minuten später im Spiegel betrachtete, nickte ich mir zufrieden zu. Das champagnerfarbende Cocktailkleid ging mir bis zu den Knien und besaß eine weiße Schleife unter meiner Brust. Als Schuhe hatte ich mir cremefarbende zwei-Zentimeter-Absatz-Schuhe ausgesucht, die perfekt zum trägerlosen Kleid passten. Meine blonden Haare hatte ich zu einer Art Seitenzopf gebildet, so dass sie mir in sanften Wellen über meine rechte Schulter fielen. Meine Lieblingskette mit dem silbernen Schmetterling hatte ich mir auch noch umgelegt, während an meinen Ohren zwei Silberkugeln blitzten. Das Gesicht hatte ich nur ganz dezent geschminkt. Am meisten hatte ich meine blauen Augen betont, während sich meine schmalen Lippen mit Lipgloss zufrieden geben mussten und meine Haut von Puder bedeckt wurde. Ich war bereit für den Abend.

Meine Cousine bekam von mir eine stürmische Umarmung, als sie endlich mit ihrem Ehemann am Strand eintraf. All die Gäste übergaben dem frisch getrauten Ehepaar viele Geschenke und machten den beiden eine Menge Komplimente.
„Ich wünsch euch beiden viel Glück“, wisperte ich in Aliza\'s Ohr und bekam ein dankbares Lächeln von ihr zu sehen. Mir fiel auf, dass sie tatsächlich Ähnlichkeiten mit meiner Zeichnung hatte. Nur das Brautkleid sah ein wenig anders aus.
Als Erstes gab es ein großes Buffet mit reichlich Auswahl. Die Gäste wurden an Tischen mit Namenskärtchen aufgeteilt, so dass ich zwischen Mom und einen unbekannten Mann saß, der mich skeptisch musterte. Ich schaute über mir und bekam einen strahlendblauen Himmel mit einer leuchtenden Sonne zu sehen. Ein Lächeln schlich über meine Lippen und ich schwor mir selbst, diesen Tag zu genießen und all die Probleme wenigstens heute zu vergessen.
Am Buffet hörte ich meinen Magen knurren und konnte mich gar nicht entscheiden, was ich als erstes essen sollte. Vielleicht sollte ich es mal mit den salzigen Kartoffeln versuchen, oder doch lieber den Salat als Vorspeise nehmen?
Ich schüttelte den Kopf, um meine wirren Gedanken loszuwerden und entschied mich letzten Endes erst mal für ein Knoblauchbrot. Ich wollte gerade meine Hand danach ausstrecken, als mir eine zweite begegnete und sich unsere Finger berührten. Erschrocken zuckte ich zurück und mein Blick ging langsam den Arm entlang, über den Hals und schließlich in zwei strahlende Augen. Ich hielt den Atem an und hob überrascht meine Augenbrauen, als ich mein Gegenüber erkannte. Was machte er denn hier?
„Oh“, kam nur über meine Lippen, während ich Ivan geschockt anstarrte. Er war auch ein wenig überrascht mich hier zu finden, wie ich an seinem Blick sehen konnte. „Du kennst also auch das Brautpaar?“, fragte ich verblüfft.
„Natürlich. Schließlich ist der Bräutigam mein Bruder“, erklärte er und legte den Kopf schief.
„Ach so“, sagte ich lahm.
„Das ist ja ein Zufall, oder?“, fragte er lächelnd. Ich nickte und schnappte mir hastig ein anderes Brötchen, während wieder diese Hitze in mir aufstieg. Ich musste aussehen wie eine Tomate. „Übernachtet deine Familie heute Abend auch in dieser Ferienwohnung?“
„Ja. Meine Mutter ist die Tante von Aliza, ich also die Cousine“, erklärte ich und war froh, dass meine Stimme nicht eine Oktave höher ging oder dass ich mich verhaspelte.
„Ach, dann sehen wir uns ja noch“ In seinen braunen Augen konnte ich eine gewisse Vorfreude aufblitzen sehen und verwirrt blinzelte ich Ivan an. Seit wann freute sich der Mitläufer von Derick’s Gang mich zu sehen? Anscheinend spielten wir heute verkehrte Welt und niemand hatte mir Bescheid gesagt. Na toll.
Ich lächelte ihn freundlich an und ging dann wieder zurück zu meinem Platz, wobei mein Herz immer noch im wilden Galopp gegen meine Brust donnerte. Er war hier. Ganz in der Nähe.
„Alles in Ordnung, Ebby?“, fragte mich Mom, als sie sich an den Tisch setzte und sorgfältig eine Serviette auf ihren Schoß legte, um ihr dunkelrotes Kleid nicht dreckig zu machen. Ihre schwarzen Haare hatte sie heute Morgen zu einem Dutt frisiert und ihre Lippen mit einem kräftigen Rot bemalt.
„Mir geht’s gut“, antwortete ich schnell, als ich bemerkte, dass ihr Blick von Sekunde zu Sekunde besorgter wurde. Zur Verdeutlichung nahm ich einen großen Bissen von meinem Brötchen und lächelte sie glücklich an. Sie runzelte nur mit der Stirn, ehe sie sich dann ihrer Suppe zu wand.

Ich schüttelte fassungslos den Kopf, während die Gäste und das Brautpaar wild am Strand tanzten. Sie hatten sich alle die Schuhe ausgezogen, drehten sich lachend im Kreis und schwangen ihre Hüften. Der DJ machte seinen Job richtig gut. Auch meine Mutter hatte ihr Kleid gerafft und hakte sich bei dem Mann ein, der vorhin am Tisch neben mir gesessen hatte. Ich fragte mich, was man in die alkoholischen Getränke untergemischt hatte, dass die Leute auf einmal in der untergehenden Sonne ihren versteckten Tanzrhythmus zeigten oder sich lachend auf die Schulter klopften, während das Bier in ihren Gläsern bedrohlich hin und her schwappte. Grama saß neben mir in einem Strandkorb und blickte seufzend auf das weite Meer hinaus. Sie tätschelte hin und wieder meine Hand, wobei sie die ganze Zeit in ihren Gedanken versunken war und sogar manchmal kurz zusammenzuckte. Ich bemerkte, wie ein paar Jugendliche etwas abseits sich zusammensetzten und sich auch mit etwas Alkoholischem zuprosteten. Anscheinend hatten sie sich zusammenverschwört und wollten nun ihre Langeweile ein wenig aufpeppen. Hoffentlich würden sie nicht wie Derick enden. Bei diesem Gedanken breitete sich eine unangenehme Gänsehaut auf meinem Körper aus und ich presste unruhig die Lippen zusammen. Ich sollte mich ein wenig ablenken gehen.
Vorsichtig beugte ich mich zu Oma und stupste sie leicht an. Abrupt wachte sie aus ihrer Traumwelt auf und fuhr zusammen, während sie sich blinzelnd zu mir umdrehte.
„Ich geh mal die Toiletten suchen“, flüsterte ich und lächelte ihr aufmunternd zu.
„Ja, mach das. Hol dir danach doch einen Tanzpartner und lass deine Hüften mal ein wenig kreisen. Ich bin hier, falls du mich suchst“
Ich nickte, würde ihren Vorschlag aber niemals in die Tat umsetzen. Das wusste ich jetzt schon.
Ich entfernte mich ein wenig vom Strand, wo sich das Restaurant befand, in dem wir unser Buffet gehabt hatten. Naja, unsere Tische waren draußen gewesen, aber das Essen hatte unter dem Dach gestanden. Dort wurde mir auch sogleich erklärt, wo die Waschräume waren und hastig setzte ich mich auf die Kloschüssel und seufzte. Nachdem ich fertig war, wusch ich mir die Hände und wollte sie gerade unter einem Trockner halten, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde und ein weinendes Mädchen reinplatzte. Genau in dem Moment, wo die Tür wieder zuging, schlang sie auf einmal die Arme um mich und drückte mich fest an sich. Ich riss erschrocken die Augen auf, während ich mich versteinert in ihrer Umarmung wiederfand und nicht wusste, was ich mit meinen nassen Händen tun sollte. Das musste ein komisches Bild abgegeben haben: Das Mädchen war fast zwei Köpfe größer als ich und legte ihr Kinn auf meinen Kopf, während sie sich ausheulte. Ich war total perplex.
„Ähm…“, sagte ich nach einer Weile, als ihre Schluchzer so langsam verebbten.
Sofort befreite sie mich aus ihren Armen und schaute mich erschrocken an, wobei sie sich die Hand vor den Mund hielt. Sehr dramatisch.
„Oh mein Gott, das tut mir so leid. Ich war einfach nur so gefasst und aufgewühlt und mein Verstand war einfach nur Peng!“, sagte sie zitternd ohne Punkt und Komma. Dabei machte sie beim letzten Wort eine wilde Geste mit ihren Händen.
Aha. Okay.
„Ist schon gut“, sagte ich freundlich. „Kann ja mal passieren“
„Ich bin übrigens Donna. Naja, eigentlich heiße ich Dorathy-Demetrice, aber ich hasse diesen Namen“, meinte sie und wischte sich die Tränen weg, ehe sie mir die Hand entgegenstreckte. Sollte ich sie annehmen und damit jene Befürchtungen ignorieren, dass ich es wahrscheinlich mit einer verrückten, wilden, melodramatischen Person zu tun hatte? Ich zuckte mit den Achseln.
„Ich bin Ebony, aber nenn mich einfach Ebby“, sagte ich, während ich ihre Hand schüttelte ohne auf meine nassen Hände Acht zu geben. Vielleicht könnte es mit ihr ja noch ganz lustig werden, so dass ich nicht den ganzen Abend mit einer traumatisierten Oma im Strandkorb sitzen musste. „Wieso weinst du überhaupt?“, fragte ich und bemerkte, wie sie nervös mit ihren Fingern spielte und sich ihre Wangen rot färbten. Ich musste meinen Kopf schon fast in den Nacken legen, um ihr überhaupt in die grünen Augen schauen zu können.
„Hm. Das ist mir ein wenig peinlich. Du musst wissen, dass ich ein wirklich sehr – sehr! – emotionaler Mensch bin. Ich war mit den anderen Leuten am Strand und habe dort eine tote Möwe entdeckt. Und das hat mich so an meinen verstorbenen Kanarienvogel von zu Hause erinnert, dass meine Emotionen und mein Verstand einfach übergelaufen sind, und ich–“
„Ist schon gut. Denk einfach nicht mehr daran“, versuchte ich sie zu trösten, als ich bemerkte, dass sich schon wieder Tränen in ihren Augen bildeten.
„Danke, Ebby. Du bist wirklich nett“
Ich seufzte. Ja, manchmal war ich einfach viel zu freundlich, wofür ich mich meistens hasste. Und, wenn ich dann einmal meine Meinung sagte, wurden sofort Gegenargumente aufgelistet ohne mich überhaupt noch aussprechen zu lassen. Und kaum das sie fertig waren, hatten sie sich auf einmal aus dem Staub gemacht und waren verschwunden. So war das jedes Mal.
Donna betrachtete sich im Spiegel und wischte sich ihre zerlaufende Schminke weg, während ich sie ein wenig genauer musterte. Das große Mädchen hatte dunkelblonde Haare, die sie offen trug und ihr eckiges Gesicht wie einen Schleier umhüllten. Mir war sofort aufgefallen, dass sie ihre Lider immer halboffen (oder halbgeschlossen, wie man’s nimmt) hatte, so dass sie ein wenig erschöpft und müde rüberkam. Das erinnerte mich an einen Hund, der dösend auf einer Decke lag. Ihr schwarzes Tüllkleid war meiner Meinung nach viel zu kurz und zeigte somit ihre bronzefarbenden Beine, die sie in schwarzen Pumps stecken hatte, was sie noch größer machte.
„Möchtest du mit mir zu den anderen gehen? Dort sind eigentlich alle Jugendlichen, die mit ihren Eltern hier sind. Sie sind ganz nett“, meinte Donna und lächelte mich erwartungsvoll an.
Ich nickte. „Klar, wieso nicht?“ Ich hatte sowieso nichts Besseres zu tun. Und obwohl ich Angst hatte, dass ihnen der Alkohol in den Kopf steigen würde, ging ich mit meiner neuen Bekannten aus dem Mädchenklo. Ich marschierte gerade um die Ecke, als ich plötzlich gegen etwas prallte, das nachgab. Uups. Neben mir hörte ich, wie Donna scharf die Luft einsog, während ich mit rudernden Armen in der Luft paddelte und erschrocken den Aufprall erwartete. Doch plötzlich spürte ich einen Arm unter meinem Rücken und im nächsten Moment bemerkte ich, wie ich wieder nach oben gedrückt und auf einmal an einen Körper gepresst wurde, der zu einer Person gehörte, die ich am wenigsten erwartet hätte.
Ich traute meinen eigenen Augen kaum, als ich ihn vor mir sah und ein freches Grinsen über sein Gesicht huschte. Was zum...?

Sasha. Donna. Und ich.
Was für eine explosive Mischung. Und so unerwartet.
Hastig wand ich mich aus seinen Armen und funkelte ihn wütend an, während Donna neben mir nur einen genervten Seufzer von sich gab.
„Du bist widerlich, Sasha“
Eigentlich hätte der Satz aus meinem Mund kommen müssen, doch ich bemerkte verwundert, dass Donna ihn an seinen Kopf geworfen hatte und nun die Hände in die Hüfte stemmte. Wow, eben noch so emotional und auf einmal war das Riesenmädchen sauer auf Sasha. Aber…
„Du kennst ihn?“, fragte ich verblüfft.
„Ja, leider. Dieser Blödmann ist mein älterer Bruder“, erklärte sie.
Ich musste ein seltsam-doofen Gesichtsausdruck gemacht haben, denn mühevoll versuchte sich der Ex-Freund meiner besten Freundin sich ein Lachen zu verkneifen.
„Surprise, Ebby!“, rief er grinsend.
„A-aber was macht ihr hier?“, fragte ich verwirrt und blickte die beiden ratlos an. Auf meinem Gesicht musste wahrscheinlich ein dickes, rotes Fragezeichen leuchten. Ich wusste gar nicht, dass Sasha eine Schwester hatte. Und dass er und seine Familie zur Hochzeit meiner Cousine eingeladen waren. Ich fühlte mich dumm und begriffsstutzig.
„Unsere Eltern sind mit den Eltern von Raphael – dem Bräutigam – befreundet, also wurden wir eingeladen“, erklärte Donna und zog mich am Handgelenk hastig wieder nach draußen.
„Hey, jetzt haut doch nicht gleich so schnell ab“, rief Sasha und holte uns ein. „Die Familien fahren jetzt mit dem Bus zu dieser großen Ferienwohnung. Der Rest darf es sich hier noch ein wenig gemütlich machen. Die Erwachsenen wollen sogar ein Lagerfeuer machen“
Neben mir klatschte Donna freudig in die Hände. „Klasse! Dann singen wir bestimmt viele Lagerfeuerlieder!“ Ihre Wut war wie weggeflogen.
„Äh, das tut mir leid. Aber ich gehöre zur Familie von Aliza, also fahre ich auch zur Ferienwohnung“, erklärte ich und sah Donnas enttäuschtes Gesicht.
„Oh“
„Aber wir bleiben auf jeden Fall in Kontakt, ja?“
Sofort hellte sich ihre Miene auf und mit einem strahlenden Lächeln umarmte sie mich. „Klaro!“
„Also, bis dann!“, rief ich ihr noch zu und wich geschickt Sasha’s fragenden Gesichtsausdruck aus. Ihm würde ich wohl kaum zuwinken, dieser Idiot.

Tatsächlich stand draußen schon ein Bus, der auf einem großen Parkplatz stand, wo jedes Familienmitglied hastig einstieg. Ich beschleunigte meine Schritte ein wenig.
„Ebony Young“, ertönte plötzlich die Stimme einer bekannten Person. Eine Person, die ich mal wieder nicht erwartet hätte. Der Junge mit den schwarzen Haaren, die auch sein Bruder hatte, stand mit verschränkten Armen unter einem Baum. Überrascht blieb ich stehen und starrte in die grauen Augen, die wohl jeder in der Tamson-Familie besaß. Mein Herz pulsierte unruhig gegen meine Brust, während er sich vom Baum abstieß und langsam auf mich zuging. Auf einmal verspürte ich so eine Art Déjà-Vu. Naja, nicht ganz. Zwar ließ die aufkeimende Angst mein Herz schneller schlagen, doch diesmal stand nicht Derick vor mir, sondern sein Zwillingsbruder. Und er war Gott sei Dank nüchtern. Dennoch beschlich mich ein ungutes Gefühl. Es war schon ein großer Zufall, dass er ausgerechnet um diese Uhrzeit an diesem Strand auftauchen musste, der zehn Kilometer von unserer Stadt entfernt war und wo wir eigentlich nie hingingen, da er sozusagen nur für \'versnobte\' Leute erlaubt war.
Drew blieb direkt vor mir stehen, doch diesmal machte ich keinen ängstlichen Schritt nach hinten. Hier waren Zeugen. Überall. Und ich war in der Nähe meiner Familie. Er würde es nicht wagen, mich anzufassen. Außerdem war er ein ganz anderer Typ als sein bescheuerter Bruder. Während Derick aggressiv, boshaft, machtsüchtig und (nicht zu vergessen) drogenabhängig war, konnte man Drew fast als einen Sonnenschein bezeichnen. Er hielt sich immer ein wenig zurück und ließ seinem Bruder den Vortritt. Und er konnte – auch wenn ich es ungern zugab – ganz nett und lustig sein. Zumindest wenn Derick nicht in der Nähe war. Dann verwandelte er sich wieder in einen versklavten Mitläufer. Schade eigentlich.
Er musterte mich kurz, ehe sich ein kleines Lächeln über seine Lippen schlich. „Hübsches Kleid“, bemerkte er und beugte sich zu mir runter. Sein Gesicht war meinem so nahe, dass ich die Luft anhielt und krampfhaft versuchte, nicht zurückzutreten. In seinen grauen Augen konnte ich mich selbst erkennen – mit weit aufgerissenen Augen und zusammengepressten Lippen. „Und ein noch hübscheres Mädchen“, flüsterte er, wobei sich eine Gänsehaut auf meinen Körper legte. Mein Herz pulsierte immer schneller und stolperte kurz, als er seine Hand ausstreckte und eine verlorene Strähne aus meinem Zopf hinter mein Ohr strich.
„W-was willst du?“, fragte ich und atmete erleichtert aus, als er seine Hand fallen ließ, die auf meine Wange geruht hatte.
„Ich wollte mich entschuldigen“, meinte Drew und sah mich beinahe mit einem traurigen Blick an. „Wegen dem Vorfall in der Cafeteria. Eigentlich bin ich gar nicht so…gemein. Aber Derick hat mich auf eine gewisse Art und Weise gezwungen. Zuerst hatte ich protestiert, als er mir von seiner Idee erzählt hatte, aber ich war ihm noch was schuldig. Außerdem hatte er mich einen Schwächling und Angsthasen genannt und irgendwie–“
„Drew…“, sagte ich sanft. „Es ist schon okay. Ich verzeihe dir“
„Wirklich?“, fragte er erstaunt.
„Wenn es bei diesem einen Missgeschick bleibt, dann–“
„Auf jeden Fall“, beteuerte er hastig und strahlte mich fröhlich an.
„Aber was ich nicht verstehe ist: Wieso bist du, nur um dich zu entschuldigen, ganz hier her gefahren? Woher wusstest du überhaupt, dass ich hier bin?“
Er zögerte kurz und biss sich sogar auf die Unterlippe, was bei ihm irgendwie süß aussah.
„Ivan hat mir erzählt, was gestern Nacht passiert ist. Und da wollte ich nicht, dass du einen falschen Eindruck von mir bekommst. Aber gestern in der Schule warst du nicht da, damit ich mich entschuldigen konnte. Vorhin hat Ivan mir dann eine SMS geschrieben und mir mitgeteilt, dass du auch hier bist. Und da ich gerade bei meinem Onkel übernachte, der hier in der Nähe wohnt, dachte ich mir, dass–“
„Ebony!“, brüllte plötzlich eine bekannte Stimme. Verwirrt drehte ich mich um und sah, dass meine Mutter neben dem Busfahrer stand und mir vorwurfsvoll mit dem Finger drohte. „Wir warten alle auf dich! Steig endlich ein!“
„Ich komme!“, rief ich zurück und lächelte Drew entschuldigend an. „Ich muss dann mal los“
„Alles klar. Ich bin froh, dass du nicht sauer bist“, sagte er, bevor ich mich umdrehte und zum Bus lief.
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Danke für die Kommentare, die ich mir jedes Mal wirklich sehr zu Herzen nehme. Sie motivieren mich auch immer zum Weiterschreiben. :)
Liebe Grüße
Yaksi






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