Das Ende des Schweigens - Teil 2

Autor: Anna :)
veröffentlicht am: 01.05.2011


Sie bekam die Mauerkante mit einer Hand zu fassen, und gleichzeitig kam Jack wieder zu sich. Sofort war er hellwach. Er ignorierte den stechenden Schmerz in der Schulter und auch die Empörung über die Dreistigkeit dieser kleinen Schlampe. Sie war kurz davor, ihm zu entkommen.
Kiara schwang den anderen Arm hoch und bekam die Kante auch mit der anderen Hand zu fassen.
„Nein!“, keuchte Jack hinter ihr. Sie schauderte. Er war schon wieder dabei, den Container hochzuklettern. Kiara stemmte sich mit aller Kraft nach oben. Ihre Handinnenflächen taten weh, doch der Schmerz wurde von ihrer Angst überspielt. Wenn er sie jetzt zu fassen bekam, war alles aus.
Doch das Schicksal entschied, dass dieser Zeitpunkt noch fern war. Ein weiterer Adrenalinstoß gab ihr die Kraft, sich bis nach oben zu ziehen. Erschöpft lies sie sich auf der dünnen Mauer nieder und schaute auf Jack herab, der wütend an der Mauer hochsprang. Sie war in Sicherheit.
„Du kommst sofort da runter!“, schrie Jack wutentbrannt.
Für einen Moment blieb ihm die Luft weg. „Sonst…sonst bringe ich dich um!“ Das war ja mal was ganz Neues.
Kiara seufzte. Sie war müde und sie stank erbärmlich.
„Spar dir das“, sagte sie erschöpft und stieß sich von der Mauer ab.
Sie landete härter als erwartet, doch das Abrollen über die Schulter linderte den Schmerz, der ihr durch beide Beine jagte, etwas. Sogar durch die Mauer hindurch konnte sie Jacks Gebrülle hören. Sie steckte die Hände in die Hosentaschen. Aus der einen holte sie ihr kleines Schweizermesser heraus, aus der anderen einen kläglichen Zwanzigdollarschein. Da sah sie durch ein kleines Loch in der Mauer zwei Hundertdollarscheine in Jacks Tasche. Sie überlegte nicht lange und griff mit ihren langen feinen Fingern durch das Loch. Jack war zu sehr von seiner Wut geblendet, um die Finger zu bemerken, die ihm die zwei Scheine aus der Hosentasche zupften.
„Die hab ich wohl nötiger“, murmelte sie leise. Sie sah auf ihre Hände und stöhnte. Ihre Handinnenflächen waren beide aufgeschrammt und bluteten.
Jack hatte jetzt wohl eingesehen, dass sein wütendes Geschrei nicht viel Eindruck auf sie machte. Kiara hörte seine sich entfernenden Schritte. Sie atmete tief ein. Dann wurde sie sich plötzlich in dieser kühlen, klaren Nacht, ihrer Tat bewusst. Sie hatte es tatsächlich geschafft! Sie hatte ihren tyrannischen Ehemann verlassen und jetzt stand sie hier, im Herzen von Marin City, San Francisco, mit zweihundert Dollar in der Tasche, versunken im Gestank des Biomülls, und von einer Freiheit und gleichzeitig einer Angst umgeben, die sie völlig ausfüllten. Doch die Freude währte nicht lange. Kiara wurde sich nicht nur ihrer Freiheit bewusst, sondern auch ihrer ganzen Einsamkeit und Hilflosigkeit.
Wie sollte sie Amy-Jane je zurückbekommen? Das kleine Mädchen ahnte ja nichts von dem, was sich gerade abspielte. Doch sie war, wenn auch erst sechs Jahre alt, ein kluges Kind. Kiara durchflutete eine Welle der Sehnsucht und des Zorns. Wenn Jack es wagen würde, ihrer kleinen Tochter etwas anzutun, würde sie ihn eigenhändig umbringen.
Sie ging über die schwach beleuchtete Straße und schon jetzt formte sich in ihrem Kopf ein Plan.
Das Werbeschild, das hell in Neonfarben blinkte, kam ihr gerade recht.
„Marin Executive Suites“stand da. “Günstig, aber gut!” Die elektronische Hand auf dem Werbeschild streckte immer wieder den Daumen in die Höhe. Darunter stand die Adresse. 3030 Bridgeway Sausalito. Kiara seufzte. Gott sei dank! Das war gleich um die Ecke.

Der Portier schaute sie herablassend, und mit einer falschen Höflichkeit an. „Kann ich Ihnen helfen, Ma’am?“
Kiara schaute an sich herunter. Sie konnte ihm den Blick nicht übelnehmen. Ihr Aussehen war fürchterlich, abgesehen von dem Gestank.
„Ähm…ich würde gerne ein Zimmer für eine Nacht mieten. Ich habe kein Gepäck“, sagte sie.
Der Portier sah den Hundertdollarschein und augenblicklich hellte sich seine Miene auf. „Natürlich Ma’am.“ Er reichte ihr einen Schlüssel. „Zimmer 17, erster Stock. Das macht 38 Dollar.“ Er sah sie kurz an. „Mit Frühstück 46 Dollar.“
Kiara reichte ihm den Schein und schüttelte den Kopf. „Nein, nein, ohne Frühstück bitte.“
Der Portier nickte und gab ihr das Restgeld wieder. „Einen angenehmen Aufenthalt“, leierte er seinen Spruch mit einem aufgesetzt wirkenden Lächeln herunter. Kiara runzelte die Stirn. Sie wäre bei den langweiligen Nachtschichten auch nicht besonders freundlich.
Das Zimmer war klein und dem Preis entsprechend. Ein furchtbar winziges Bett, welches jedoch ordentlich aussah und ein ebenso winziger Nachttisch mit einer plumpen Stehlampe darauf. Das Badezimmer war zwar etwas altmodisch mit seinen Blümchenkacheln, aber sauber.
Sie stellte die Dusche an. Allein schon das Geräusch von prasselndem Wasser lies sie angenehm schaudern. Kiara wusch sich den ganzen Dreck der letzten elf Jahre vom Körper. Noch nie hatte sie sich so sauber gefühlt. Sie lies das warme Wasser noch lange laufen, bevor sie es abstellte und sich mit einem großen, gelben Handtuch abtrocknete.
Das gesamte Badezimmer war voller Dampf. Es gab nur ein winziges Fenster, welches jedoch nicht viel nützte.
Kiara betrachtete ihr Spiegelbild. Nach der Dusche sah sie besser aus. Die nassen schwarzen, langen Haare umschmeichelten ihr Gesicht und die grünen Augen funkelten wieder lebendig.
Sie schrubbte ihre Kleider mit Seife ab, bis sie wieder halbwegs sauber waren. Der penetrante Gestank war auch verschwunden.
Kiara schloss die Zimmertür ab und legte sich dann nackt unter die Bettdecke. Ihr letzter Gedanke bevor sie einschlief galt Amy-Jane.

Als sie vor dem Spiegel stand, musste sie unwillkürlich die Stirn runzeln. Das T-Shirt und die Jeans waren zwar wieder sauber, doch es klebten unzählige Seifenreste daran fest, kleine weiße Punkte und Schlieren, und sie waren furchtbar zerknickt und zerrissen.
Als sie dem Portier mit einem höflichen Lächeln den Schlüssel reichte, machte sich ihr Magen bemerkbar. Sie hatte seit zwei Tagen nichts mehr gegessen.
Den Plan, den Kiara in der Nacht hatte, erweiterte sie bei einem ausgiebigen Frühstück im „Hooters“. Ihre Eltern lebten in Emeryville, einer kleinen Stadt in Oakland. Kiara hatte seit Jahren- nein, seit Jahrzehnten keinen Kontakt zu ihnen gehabt. Die beiden vergötterten Jack seit dem Tag, an dem Kiara ihn zum ersten Mal vorgestellt hatte. Sein Witz und sein Charme hatten sie völlig von seiner Kompetenz als Ehemann überzeugt. Kiara schnaubte. Sie hatte sich nie getraut, ihnen von den Qualen zu erzählen, die sie durchlitten hatte. Aus Angst vor Jack. Vor seiner Reaktion.
Doch jetzt war es an der Zeit, ihnen die Illusion zu nehmen. Die Illusion die sie in Zusammenhang mit Jack hatten.
Als ihr Bauch gefüllt, und ihr Budget um sieben Dollar fünfundzwanzig gesunken war, beschloss sie, den Redwood Highway über die Golden Gate Bridge zu nehmen. Nach San Francisco.
Kiara wählte in einer Telefonzelle die Nummer des YellowCab-Taxservice.
Eine weibliche geschäftige Stimme meldete sich und ratterte den Namen noch einmal herunter,
„Guten Tag“, sagte Kiara. „Schicken Sie bitte ein Taxi hierher. 3030 Bridgeway Sausalito.“
Ein Moment Stille. Das Klicken von Computertasten. Dann die freundliche Frauenstimme. „Natürlich Miss. In zehn Minuten wird ein Taxi bei Ihnen sein.“
„Danke. Wiederhören.“
Kiara legte auf. Sie setzte sich auf eine Bank am Straßenrand und zog das Geld aus der Tasche. 154.75 Dollar. Sie seufzte. Ob das wohl reichte?

Kommis und Kritik :)






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