Häutungen

Autor: Rehaugenfrau87
veröffentlicht am: 21.04.2011


Wer oder was sie war, entschied sich jeden Tag aufs Neue. In dem Moment des ersten Atemzuges eines jeden Morgens, gleich nach dem ersten Lidschlag des neuen Tages.
In ihrem Kopf spürte sie das Schnappen der Synapsen in ihrem Hirn, als knipse man das Licht an. Sie konnte das: den Schlaf verlassen und sofort von voller Konzentration durchdrungen sein. Sie hätte noch im Bett liegend einen Text korrigieren, ein Gedicht schreiben oder ein Marketingkonzept anreissen können und es hatte Monate gegeben in denen sie genau das auch getan hatte. Doch mittlerweile hatte sie die Eigenheit entwickelt diese ganze Konzentration nach innen zu richten, auf etwas das dort drin passierte. Die alltägliche Kulisse ihres Lebens prallte an ihr ab und es konnte Stunden dauern, bevor sie sich entschied, ihr Umfeld nun wahrzunehmen, was jedoch nie hiess, dass sie sich damit verband.
Eine uralte Distanz umgab sie, hatte schon sehr früh einen Ausdruck in ihre Züge gemalt, der tief saß und tief traf. „Schau nicht immer so ernst.“, waren die häufigsten Ermahnungen, die sie als Kind gehört hatte. Sie hatte früh erfahren, dass Menschen in ihrer Umgebung unzufrieden wurden, sich unbehaglich wanden. Weil sie weder den Grund für diesen Ernst ergründen noch ihn auflösen konnten.
Sie hatte damals geahnt, dass alles Dunkle, Ernste, Wissende, Erwachsenen vorbehalten war. Man musste dem Narbenclan angehören und sich gegenseitig die mehr oder weniger gut verheilten Wunden des Lebens zeigen, um den Anspruch auf diesen Ausdruck in den Augen zu erhalten, aber keinesfalls diesen Babyspeck, der die Wangen rundete. Dennoch hatte sie die Vorzüge des Kindseins genossen. Erwachsene glaubten sich in Sicherheit, wenn sie über dieses und jenes redeten, flüsterten... Wenn sie konspirierten oder ganz einfach nur verzweifelt waren. Ein Kind, das in einer Ecke saß und still in einem Buch blätterte, wurde nicht wahrgenommen, die Kraft seiner eigenen Wahrnehmung nicht erkannt.

Es war nie so, dass sie hineinblicken konnte in diesen oder jenen Menschen, vielmehr flossen die Informationen unaufhaltsam in sie hinein, überschwemmten ihr Inneres und wenn sie nicht ertrinken wollte, musste sie ganz schnell kanalisieren, Dämme, Brücken und Leuchttürme bauen... Wahrheiten. Sie erinnerte sich an furchtbare Zornausbrüche, an eine wilde alte Wut, immer dann, wenn der Mensch dessen Wahrheitswelten sie gerade in sich trug, sie nur tumb ansah und nichts anfangen konnte mit ihrer speziell auf ihn eingestimmten
Reaktion. Es hatte sie weitere Jahre gekostet festzustellen, das das, was sie für eine Art Dialog gehalten hatte, lediglich eine mediale Schwingung war von der der Absender in den seltensten Fällen wusste oder wissen wollte. Sie hörte auf zu reagieren, riss die fremden Welten in ihrem Innern nieder und füllte den wieder gewonnenen Platz mit einem neuen unbändigen Wunsch: Freiheit.
Dieses Wort hatte sie wieder und wieder benutzt, so oft, dass ihre Eltern es nicht einmal heute aussprechen konnten, ohne an all die Kämpfe zu denken, die einst gefochten worden waren. Sie forderte, ohne genau wissen zu können, was Freiheit denn nun war. Doch es war so ein schönes Wort FREI-HEIT und etwas in ihr wusste, dass, wenn man Freiheit hatte, es war, als täte man einen sehr sehr tiefen Atemzug und fühlte das wunderbare Aufblähen der Lungenflügel und das Einsaugen von sehr klarer, sehr reiner, kühlen Kraft. Oft genug war sie auf Hügel geklettert, Bäume, Fabrikdächer und Kiesgruben – nur um ganz oben zu stehen und ihren Drang nach dieser FREI-HEIT in den Himmel zu brüllen, dass ihre Lungen schmerzten und ihre Augen tränten, ob des Wissens, dass der Weg dorthin schmerzhaft und einsam sein war.
Noch heute glaubte sie, dass es der heilige Gral ihres Lebens war, diese Suche nach dem Geschmack der Freiheit. Auch wenn sie nun begriffen hatte, dass Freiheit aufhörte eine zu sein, wenn man darauf wartete sie zugeteilt zu bekommen, und dass Unabhängigkeit die wichtigste Voraussetzung war, um frei zu sein.
Mit den Jahren spürte sie die Linien, die ihre Suche in ihre Mundwinkel gegraben hatte und manchmal taten ihre Augen weh, weil sie so angestrengt auf ihren Weg starrte, der doch wieder und wieder versperrt wurde von den Irrungen und Wirrungen ihres Lebens. Es war nicht so, dass sie alles umrannte und vorauspreschte – atemlos. Sie blieb gerne stehen und jetzt wo sie erwachsen war, ließ sie auch wieder die eine oder andere fremde Wahrheitswelt in ihrem Innern entstehen, wann immer die interessante Iris eines anderen ihren Blick kreuzte und sie zuließ, dass er ihr Inneres flutete.
Doch nichts, was sie je sah, hatte die Kraft, sie aufzuhalten, sie zum Bleiben zu bewegen. Es schien, als hätte ihr Weg, dieser diffuse Pfad, einen eigenen unbezwingbaren Willen entwickelt, der sie lockte, der sie weiter trieb. „Ich bin müde!“, brüllte sie dann in ihren Träumen und schleuderte dem ständigen Locken Bilder entgegen. Bilder ihres Blutes, Bilder ihrer Liebe und wie sie sich rücklings darauf fallen liess, sich fallen liess, den Blick in den Himmel gerichtet. Nicht dein Land, flüsterte es dann in ihrem Kopf. So ist es wohl, dachte sie und betrachtete die Wahrheitswelten von Mutter und Vater, von Kind und Kindesvater, von Geliebtem und von Freund. Welten, die einstürzten, wenn sie ging und sie begruben, wenn sie blieb.
Sie hörte das Heulen ihres Clans, weit, weit draußen und ihre Knochen, viel viel älter als sie, bäumten sich auf und knirschten im Drang, dem Heulen zu folgen.

Die Worte, die ich nie sprach,
sind die Wege, die ich ging.
Der Klang, den ich nie hörte,
ist der Pfad, den ich verfolgte.
Der Duft, den ich nie roch,
ist die Witterung, nach der ich gierte.
Der Blick, den ich nie sah,
war der, für den ich leuchten wollte...

Die Kälte, die an mir empor kriecht,
ist die Kälte all der Zeit, die mir durch die Finger rann.
Der Verlust der Gegenwart, ist der Preis, den ich zahle -
auf der Flucht vor der Endlichkeit.


In Zeiten unendlicher Müdigkeit wünschte sie sich nichts sehnlicher, als einen, der stärker war, einen, der sagte, ob sie die roten Schuhe nun an den Füssen oder noch in den Händen trug. ... dadme la muerte que me falta..., wünschte sich einen, der ihr den Tod gab, den sie brauchte.








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