Zum Glück gibt es Wunder - Teil 3

Autor: Yaksi
veröffentlicht am: 13.04.2011


Ich hielt das Abschiedsgeschenk in meinen Händen und sprach ein stummes Gebet an Gott. Nachdem ich die Erde aufgewühlt hatte, legte ich eine schwarze Karte hinein, in der ich den Satz \'Das Leben von Juneheart\' geschrieben hatte.
Mein Leben hörte hier auf. Mona würde mich morgen verlassen und bald läge ich unter der Sonne irgendwo im Nirgendwo mit Blondchen. Ich hatte mir mit schwarzer Schminke ein Kreuz auf die Stirn gemalt und würde nun drei Tage lang schwarze Kleidung tragen. Das hatte ich mir fest vorgenommen.
„Lebe wohl, altes Leben“, sagte ich und schüttete die Erde über die Karte. Ich klopfte alles zu Recht und steckte noch ein selbstgebasteltes Kreuz in die Erde.
Dann schwieg ich für einen Moment. Vielleicht sollte ich noch beichten. Machte man so was? Doch in diesem Augenblick kam meine Mutter auf die Terrasse und beobachtete mich mit verschränkten Armen.
„Findest du nicht, dass du ein wenig übertreibst, Spatz?“, fragte sie.
„Nein“
Sie wartete einen kurzen Moment und fuhr dann fort. „Joice und ihr Sohn sind da. Möchtest du ihnen nicht mal Hallo sagen?“
Ich zögerte kurz, starrte weiterhin auf die Erde und antwortete wieder:
„Nein“
Das Seufzen meiner Mutter entging mir nicht und erleichtert stellte ich fest, dass sich ihre Schritte entfernten. Warum hatte sie mir nicht Bescheid gesagt, dass Blondchen und seine Mutter kamen? Dann hätte ich meine Beerdigung auf eine andere Zeitebene versetzt.
Doch nachdem sie mir von der ach so tollen Überraschung erzählt hatte, war ich schreiend in mein Zimmer gerannt und hatte mich eingeschlossen. Mit zitternden Händen hatte ich Mona’s Telefonnummer gewählt und ihr alles berichtet. Nach einem langen Gespräch hatte ich mir fest vorgenommen mich von meinem Leben indirekt zu verabschieden. Selbstmord wollte ich nicht begehen. Das konnte ich Mona und Mom nicht antun. Und außerdem hätte ich es nicht fertiggebracht mich umzubringen. Nein, das stand außer Frage.
Also hatte ich eine Art Zeremonie vorbereitet und mein Leben beerdigt. Doch irgendwie fühlte ich mich nicht leichter, sondern eher trauriger und erschöpfter. Ich glaube, die Beerdigung hatte seine Wirkung verfehlt – Verdammt.
„Was machst du da?“
Überrascht drehte ich mich um und sah Blondchen alias Coby an der Hauswand lehnen. Sein Anblick ließ mich an die bevorstehenden Osterferien denken, also wand ich schnell den Blick ab.
„Ich trauere um mein altes Leben“, antwortete ich knapp und faltete hastig meine Hände zusammen. Ich hörte sein Lachen und versuchte nicht daran zu denken, dass ich es zwei Wochen lang ertragen werden müsste. Zwei Wochen würde ich Blondchen um mich haben. Zwei Wochen Qualen.
Seine Schritte kamen näher und ich versuchte entspannt zu bleiben und mich nicht zu verkrampfen. Ich merkte, wie er hinter mir stand. Ich spürte die Wärme, die er ausstrahlte. Und leider spürte ich auch seinen kitzelnden Atem, als er sich zu mir runter beugte und an meinem Ohr flüsterte: „Der Mensch ist erst wirklich tot, wenn niemand mehr an ihn denkt“
Ich zuckte zusammen und drehte mich zu ihn um, was ein fataler Fehler war, denn nun war sein Gesicht mir so nahe, dass ich unwillkürlich zurück wich und mich mit meiner Hand an meinem Grab abstützte. Ich fluchte und klopfte die Erde von meinen Händen. Blondchen lachte und stellte sich wieder aufrecht hin.
„Ein Zitat von Bertolt Brecht“, sagte er und schien stolz auf sich zu sein. Wieder verschränkte er seine Arme vor der Brust und schaute mich mit erhobenem Kinn an.
„Schön für dich“, murmelte ich. Als ich mich aufrappeln wollte, bemerkte ich, dass meine Füße eingeschlafen waren und sprang von einem Bein auf das andere. Innerlich schlug ich mir gegen die Stirn. Wieso mussten mir eigentlich bei Blondchen immer nur peinliche Dinge passieren?
Ich machte einen Schritt zur Seite, damit ich nicht in mein Grab trat. Blondchen musterte mich immer noch und ich merkte zufrieden, wie sich Verwirrung in seinem Gesicht spiegelt.
„Du willst jetzt also schwarz tragen?“, fragte er irritiert. „Dann würde ich an deiner Stelle aber nicht in diesem Fummel rumlaufen“ Er deutete auf den zu großen, schwarzen Rock, der eigentlich meiner Mutter gehörte und einem zu langen Blazer. Ich musste zugeben, dass ich in dieser Kombination wirklich bescheuert aussah. „Aber andererseits…“, fuhr Coby fort und ein Grinsen legte sich über seine Lippen. „Sollst du dich doch blamieren. Schwarz passt gut zu deinen Haaren. Wenn du noch mit dem Kreuz auf der Stirn zur Schule gehst, gebe ich dir vielleicht fünf Euro“
Ich ballte meine Hände wütend zu Fäusten. Der Typ machte sich über mich lustig! Gestern hatte er mir schon die Botschaft mitgeteilt: Krieg. Und jetzt war der richtige Zeitpunkt, wie ich fand. Mein Herz schlug wieder wild gegen meine Brust und Adrenalin strömte durch meine Adern. Ich beleckte meine Lippen, raffte den zu großen Rock und wollte gerade mein Knie in seine Kronjuwelen stoßen, als ich plötzlich die empörte Stimme meiner Mutter hörte:
„Juneheart! Was machst du da?“
Wie versteinert drehte ich mich zu ihr um. Da stand sie in ihrer Blümchen-Bluse, mit einem strengen Blick und dem Band um ihren Kopf. Ich musste genauso idiotisch ausgesehen haben wie sie: Der Rock in den Händen zusammengerafft, so dass man meine nackten Beine fast vollständig sehen konnte und mein Knie schon angewinkelt, um jeden Moment zutreten zu können. Hastig legte ich den Rock wieder über meine Beine und verschränkte meine Hände hinter dem Rücken. Ich bemerkte die aufsteigende Röte in meinem Gesicht und blinzelte tausendmal, was mich jedes Mal verriet: Ich war verlegen und unsicher. Verdammt aber auch!
Schnell dachte ich mir eine Ausrede aus und antwortete schließlich: „Ich…also. Coby hat mich gefragt, ob ich…äh, ob ich ihm nicht diesen speziellen Kick zeigen könne, den ich beim Karate gelernt hatte“
Ich hielt die Luft an. Würde Mom mir diese Lüge abkaufen? Schließlich war ich für fünf Jahre mal beim Karate gewesen und da lernte man auch so etwas. Mit ein bisschen Glück…
„Coby, ist das wahr?“, fragte sie.
Natürlich glaubte sie mir nicht. Aber eine schlechte Ausrede war es eigentlich nicht gewesen. Dafür hätte ich mir fast auf die Schulter geklopft.
Aber mein Stolz verwandelte sich schnell in Nervosität. Würde Coby mich aus dieser Situation retten? Das wäre dann schon das zweite Mal: Gestern im Matheunterricht und heute vielleicht im Garten. Unsicher warf ich einen Blick zu Blondchen, der mich grinsend anschaute und dann zu meiner Mutter sagte: „Ihre Tochter hat wirklich sehr viele Tricks auf Lager, Frau Dalis. Und dieser Karatekick…wow!“
Schleimer, dachte ich, war ihm aber auch dankbar, dass er mich aus dieser Situation gerettet hatte.
Der strenge Gesichtsausdruck meiner Mutter taute jedenfalls auf und man konnte schon fast sagen, dass sie mir erleichtert zulächelte. „Na gut. Dann kommt aber jetzt rein. Ich habe extra Kuchen vom Bäcker gekauft. Wir wollen uns heute alle noch einmal kennenlernen, damit der Urlaub auch friedlich verläuft“, sagte sie und bedeutete uns mit einer Handbewegung ins Haus.
Blondchen schaute mich triumphierend an, als wolle er sagen: „Ich habe schon wieder gewonnen, Baby“ und marschierte ins Haus.

Die unbekannte Frau auf unserem Sofa hatte ebenfalls strohblonde Haare wie Coby und blaue Augen. Jedoch wirkte ihr Gesicht blass und unter ihren Augen zeichneten sich Spuren schlafloser Nächte ab. Man konnte ihr die Trauer um ihren verstorbenen Mann ansehen. Komisch, dass Blondchen die ganze Zeit so belustigt und hart wirkte. War er denn gar nicht traurig wegen seinem Vater?
„Das ist Joice“, sagte meine Mutter und stellte einen neuen Aschenbecher auf den Wohnzimmertisch. Sofort zündete sich die blonde Frau erneut eine Zigarette an und blies den Rauch aus ihrem Mund. „Und das ist meine Tochter, Juneheart“, fuhr Mom fort und deutete auf mich. Ich nickte Joice kurz zu und kam mir in meiner schwarzen Kleidung albern vor. Auch die Frau dachte anscheinend das gleiche wie ich und runzelte die Stirn.
„Ist das der neue Trend in Deutschland? Furchtbar“, meinte sie und inhalierte noch einmal kräftig. Ihre Stimme war rau, aber akzentfrei, was mich ein wenig verwunderte. Schließlich hatten Joice und Coby vorher in Amerika gelebt.
Hastig schüttelte ich den Kopf. „Oh nein. Das trage ich nur, weil…“ Was sollte ich einer Witwe sagen? Ich trage das nur, weil ich mich von meinem alten Leben verabschiedet habe? Wie klang das denn, bitteschön? „Das trage ich nur, weil ich eine Wette verloren habe“, antwortete ich also hastig.
Die Frau wirkte gelangweilt und schnippte ein wenig Asche in den Becher. Dann sah sie mich mit ihren großen blauen Augen wieder an und sagte: „Aber Schätzchen, du bist jetzt bei dir zu Hause. Wer sieht dich denn hier? Du hättest dich umziehen können“
„Habe ich vergessen“
„Dann tu das jetzt“
„Wieso?“
„Die Farbe schwarz macht mich…traurig“
Nach einem mahnenden Blick von meiner Mutter, war ich nach oben gerannt und hatte mir ein rotes T-Shirt und eine einfache Jeanshose angezogen. Auf jeden Fall nichts Schwarzes. Dann fiel mir noch ein, dass ich ja das Kreuz auf meiner Stirn hatte, also rannte ich schnell ins Badezimmer und wischte es weg.
So viel zum Thema, dass ich jetzt nur noch schwarz tragen würde.
Als ich wieder unten im Wohnzimmer war, hatte Mom bereits schon Teller auf den kleinen Wohnzimmertisch gedeckt und jedem ein Stück Erdbeerkuchen gegeben. Ich setzte mich an den Rand des Sofas neben meine Mutter und aß schweigend meinen Kuchen. Als ich dem belustigten Blick von Blondchen begegnete, funkelte ich ihn wütend an.
Ich wusste, ich benahm mich wie ein Kleinkind, wenn ich mich über ihn aufregte, wobei ich doch schon fünfzehn war. Aber manchmal kam halt das Kind in mir zum Vorschein. Ob ich es wollte oder nicht.
Ein unangenehmes Schweigen herrschte im Raum. Ich fühlte beinahe, wie es mich zerdrückte, also legte ich meine Gabel beiseite und fragte in die Runde: „Wohin fliegen wir eigentlich in den Osterferien?“
„Nach Österreich“, antwortete Mom.
Meine Augenbrauen schnellten in die Höhe.
„Österreich?“, wiederholte ich geschockt. Ich hatte eher an Spanien oder Italien gedacht. Irgendwo, wo es vielleicht einigermaßen warm wäre, aber Österreich? Da breitete sich dann doch Enttäuschung in mir aus, so dass ich traurig meinen Erdbeerkuchen weiter aß.
„Das Land ist wunderschön“, pflichtete Joice bei und schaute verträumt aus dem Fenster in unseren hässlichen Garten. „Man mag vielleicht denken, dass es dort kalt sei, aber eigentlich ist es dort meistens viel wärmer als in Deutschland“
Mom nickte ihr zustimmend zu. „Das Hotel, welches ich gebucht habe, liegt genau dort, wo ich mit Joice vor zwanzig Jahren schon einmal Urlaub gemacht habe. Du wirst es dort lieben, Spätzchen. Es ist einfach traumhaft!“
Ich räusperte mich und schaute meine Mutter von der Seite an. Auch sie hatte ihren Blick nun aus dem Fenster geworfen und blickte gedankenverloren in den Garten. Genau wie Joice.
Ich warf einen fragenden Blick an Blondchen zu, der bis jetzt erstaunlicherweise sehr still gewesen war. Doch er zuckte nur mit den Achseln.
„Du weißt schon, dass sich in zwanzig Jahren viel verändern kann, Mom“, sagte ich.
Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. „Quatsch nicht. Dieser Ort ist magisch, June. Einfach magisch“
Ich betrachtete die Zigaretten in den Händen der beiden Frauen. Hatten sie vielleicht noch ein paar Drogen mitunter gemischt? Verwundern würde es mich jedenfalls nicht.

Der nächste Tag:
Mein Herz klopfte wild gegen meine Brust. Mit jedem Schritt kam ich näher zu Mona’s altem Haus und mit jedem Schritt wurde mein Herz schwerer. Selbst die Tasche auf meinem Rücken fühlte sich an, als hätte ich tausende Steine eingepackt. Dabei waren es nur wertvolle Erinnerungen.
Als ich bei Mona ankam, sah ich das vollbeladene Auto und musste schwer schluckten. Meine beste Freundin erwartete mich bereits am Zaun ihres alten Hauses und umarmte mich. Wir klammerten uns aneinander fest wie Ertrinkende und wollten am liebsten für immer so da stehen. Doch ihre Eltern hatten schon alles zusammengepackt und warteten nun im Auto auf ihre Tochter.
Mona hielt meine Hände, drückte sie und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Wir lächelten uns beide gequält an und nickten hin und wieder, obwohl der andere gar nichts gesagt hatte. Es war ein stummer Pakt, denn wir besiegelten. Während unsere Hände zitterten und ich mir versuchte jedes Detail von Mona einzuprägen, wurde der Schmerz in meinem Herzen unerträglich groß. Ihre klugen braunen Augen würde ich nie vergessen und auch nicht das schöne Lächeln, wenn sie sich freute. Ich erinnerte mich an den ersten Schultag, als wir uns kennengelernt hatten. An unsere kleine Schatzsuche, die irgendwo im Wald endete und an den wunderschönen See, den wir gefunden hatten. Ich erinnerte mich an unseren Unfall mit den Fahrrädern, wo wir beide dann lächelnd im Krankenhaus lagen und in Erinnerung an diese verrückte Tat schwelgten. An die Beerdigung meines Kaninchens, wo Mona mich dann getröstet hatte und mich aufmunterte. Ich erinnerte mich an jede einzelne Situation, wo ich irgendwem am liebsten an die Gurgel gegangen wäre, aber meine beste Freundin mich glücklicherweise immer zurückgehalten hatte.
Als ich den Rucksack langsam von meiner Schulter fallen ließ, liefen die Tränen unaufhaltsam an meinen Wangen hinab. Meine Unterlippe zitterte, ich bekam Gänsehaut und fühlte mich so unglaublich einsam.
Mona runzelte ein wenig verwirrt die Stirn, doch als ich ein zerfleddertes Fotoalbum aus der Tasche zog, hellte sich ihre Miene auf und ein kleines Lächeln schlich sich über ihre Lippen.
„Alles bricht und alles fällt, mit dem Leben in der Welt…“, beginnt sie unseren Spruch.
„…wahre Freundschaft nur allein, soll bei uns unsterblich sein“, beende ich ihn und drücke ihr das Album in die Hand. Vorsichtig strich sie über das geschmückte Cover mit Aufklebern, Sprüchen und kleinen Zeichnungen von uns. Dann lächelte sie mich mit Tränen in den Augen an und drückte mich noch einmal an sich.
„Oh, June. Ich danke dir vielmals. Aber wenn ich das Buch an mich nehme, dann hast du ja keine Fotos mehr“, sagte sie leise.
Ich grinste –soweit es denn in dieser Situation überhaupt ging- und sagte: „Ich habe alle Seiten kopiert. Da mach dir mal keine Sorgen“
Mona schmunzelte, dachte kurz nach und holte dann eine Kette aus ihrer Jackentasche.
„Hier, die ist für dich. Damit du mich auch wirklich nicht vergisst“, sagte sie.
„Als ob ich das könnte“, meinte ich und nahm das Schmuckstück in meine Hände. Ein grüner, funkelnder Stein hing an einer silbernen Kette und strahlte mich in der Sonne geheimnisvoll an. Schnell machte ich sie mir um und flüsterte: „Danke“.
Ein letztes Mal umarmte mich Mona, wobei ich ihren natürlichen Duft einatmen durfte. Sie wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und lächelte mich tapfer an.
„Du wirst es ohne mich schaffen, June. Auch wenn ich mal nicht in deiner Nähe bin, werde ich immer für dich da sein. Wir bleiben im Kontakt und telefonieren, okay?“ Ich nickte schwach. „Ich muss jetzt los“, murmelte sie und gab mich aus ihrer Umarmung frei. Auf ihren Lippen sah ich ein schwaches Lächeln.
„Ich werde dich vermissen“, sagte ich leise.
„Ich dich auch“
Dann verschwand sie im Auto und schaute mich traurig an. Sie winkte kurz. Auch ich winkte ihr zurück und zwar so lange, bis das Auto nicht mehr am Horizont zu sehen war.
Mona war weg. Einfach so.






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