Clyde Cannaghan - Teil 8

Autor: Kim
veröffentlicht am: 08.06.2012


Irgendwann hatten wir schon Mittag. Ich wollte nicht nach Hause. Ich wollte Tim nicht in die Augen blicken müssen. Clyde war die ganze Zeit bei mir, bis ich mich beruhigte. Es war einfach nur befreiend den Gefühlen freien Lauf zu lassen. Auch, dass Clyde mir eine Schulter zum Heulen zur Verfügung stellte, mich immer wieder aufmunterte indem er mir sagte, dass das alles nicht meine Schuld wäre und manche Menschen eben so sind, wie sie sind. Ich bräuchte mir keine Gedanken machen, schließlich würde ich Tim in nichts nachstehen. Man sollte niemals versuchen so zu werden wie jemand anderes. Erstens, das würde nicht klappen und zweitens, würde man seine Individualität verlieren und schließlich, sei das, das Besondere an jedem einzelnen Menschen. Außerdem wäre ich ein superhübsches und süßes Mädchen, das niemals weinen sollte, weil mein Lächeln für ihn unbeschreiblich schön wäre.
So süß und liebevoll wie er sich mir gegenüber verhielt, hatte ich das noch nie von einem Menschen zu spüren bekommen. Umso schöner waren seine ehrlichen Blicke und Worte, die bei mir immense Glücksgefühle auslösten. Clyde war doch der beste Freund den man sich wünschen konnte. Immer ein offenes Ohr für einen Freund bereit.
Später weigerte ich mich, weiterhin Tim und meine Mutter zu sehen. So schaffte es Clyde meine Mutter kurz anzurufen, wobei das etwas seltsam aussah, wo man doch keine fünf Meter voneinander entfernt wohnte, und überzeugte sie mich in die Stadt entführen zu dürfen. Obwohl es Sonntag war und somit alle Läden geschlossen hatten, konnten wir wenigstens ein Eiscafé finden und es uns dort gemütlich machen. Auch den Nachmittag verbrachten wir in der Stadt, aßen Pizza zu Mittag und verstanden uns einfach super. Ich hatte das Gefühl ihm etwas sehr Wichtiges von mir, meiner Persönlichkeit, gegeben zu haben. Dabei könnte man doch meinen, dass es bloß meine Gefühle und Gedanken waren und nicht mehr. Irgendwie war ich froh über meine Probleme gesprochen zu haben. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass mich jemand verstand. Sicher, er konnte niemals das fühlen, was ich fühlte, schließlich hatte er einen tollen Vater, der ihn über alles liebte und das auch gerne zeigte, aber immerhin verstand Clyde jetzt, warum ich so gehässig und pessimistisch war.
„Du solltest deine Familie trotzdem nicht hassen, denn sie werden irgendwie immer eine Rolle in deinem Leben spielen. Vor allem dein Vater. Der liebt dich wirklich. Deine Mutter ist… ist kompliziert. Sie ist genauso wie Amerikaner. Nach außen hin will sie einfach perfekt sein! Verstehst du? In unserer alten Nachbarschaft in Wichita war es so, dass jeder alles perfekt haben musste. Ein perfektes Haus, einen perfekten Garten, perfekte Klamotten… einfach alles perfekt. Die haben vielleicht nichts zum Essen im Kühlschrank, aber ein super schickes Auto. Und deine Mutter ist genauso. Sie will nach außen hin perfekt sein und dabei vergisst sie manchmal eben andere wichtige Sachen im Leben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass deine Mutter dich nicht liebt, bei deinem Bruder weiß ich nicht, aber deine Mutter kann dich gar nicht hassen. Warum sollte sie? Du bist ihr Kind“, predigte Clyde.
Imaginär verdrehte ich die Augen. Meine Mutter und mich lieben? Never! Die dachte doch nur an ihre Karriere und an Tim. Nicht einmal meinem Vater schenkte sie wirklich Beachtung. Allerdings wollte ich mir keine weitere Moralpredig anhören müssen, also wechselte ich das Thema.
„Kann sein. Na kommst du nächste Woche jetzt zur Party?“
Sofort versteifte sich Clyde. Vielleicht, weil ich zu euphorisch war?
„Nein, kein Interesse.“
„Warum nicht, wenn ich fragen darf? Ich wollte eigentlich mit dir zusammen da hin.“
„Ich weiß.“
„Hä, wie du weißt es? Und warum willst du nicht mit? Bin ich dir zu peinlich oder was?“
„Nala, red kein Stuss. Hallo?!“ Er nahm meine Hand die noch auf dem Tisch neben meinem Eisbecher lag „Manchmal sagst du Sachen. Deine Eltern werden das niemals erlauben und du willst trotzdem da hin. Ich hab von anderen gehört, dass da sogar Drogen mit im Spiel sind. Wenn Drogen im Spiel sind, steig ich aus! Und du solltest auch nicht hin!“
„Ich hatte dich für cooler gehalten. Lässt mich hier einfach im Stich. Wie soll ich jetzt eine Ausrede finden um nachts länger wegbleiben zu dürfen? Nur mit dir hätten es meine Eltern erlaubt!“
Er machte mich wirklich wütend, aber diesmal schien Clyde nicht weichzukriegen: „Nein Nala, ich bring dich sicher nirgendwohin, wo Drogen im Spiel sind!“
Seine sonst so gute Laune schwand, er distanzierte sich, lehnte sich zurück und verschränkte hartnäckig die Arme vor der Brust.
„Hallo?! Glaubst du, da vertickt irgendjemand einfach in aller Öffentlichkeit irgendwelche Drogen? Wohl kaum, denn sonst wären die Dealer schon längst hinter Gitter. Das alles spielt sich doch klammheimlich ab. Abgesehen davon, nur weil jemand behauptet hat, dass ´angeblich´ mit Drogen gedealt wird, glaubst du gleich alles oder wie?“
„Ach du glaubst also, dass das eine völlig normale Party ist? Kann ich mir nicht vorstellen! Wenn die Party doch so berühmt ist, dann muss da doch irgendetwas sein, was die Leute anzieht!“
Fassungslos und wütend starrte ich ihn an: „ Glaubst du etwa, dass ich auch etwas konsumieren könnte?“
„Nein, das nicht…“
„Ach komm Clyde, vergiss es einfach!“ Damit stand ich auf und wollte schon gehen. Clyde hielt mich am Arm fest.
„Nala begreifst du es nicht? Das ist ein Spiel mit dem Feuer!“
„Nein und ich will es nicht begreifen! Ich dachte, du hältst zu deinen Freunden!“ zischte ich wütend, entwand meinen Arm aus seinem Griff und lief zügig davon. Ich hörte zwar wie Clyde noch meinen Namen rief, allerdings ignorierte ich ihn gekonnt. Ich war einfach nur stocksauer! Ich hatte mich so sehr auf Clyde verlassen und was machte er? Mich im Stich lassen und nichts anderes!
Mit geballten Fäusten lief ich einfach weiter und war froh, als ich mich einmal nach hinten wandte und Clyde nicht entdecken konnte.
Die ganze Zeit über war ich einfach nur wütend und enttäuscht. Ich fand es irgendwie unfair, ein anderes Wort fiel mir einfach nicht ein, einfach nur unfair und mistig von Clyde. Warum machte er außerdem so einen Stress wegen Drogen? Es war ja nicht einmal ein bisschen Terror, er wollte mir regelrecht den Kopf waschen. Dabei war ich doch nicht blöd und würde mich auf irgendwelche Rauschgifte einlassen, was Clyde mir zuzumuten schien, auch wenn er dies verleugnete. Ich dachte noch eine ganze Weile darüber nach, was ich von Blondies Aktion halten sollte. Lange genug, bis mich der See, den ich so sehr mochte aus meiner Starre löste. Irgendwie war es beruhigend diesen See zu sehen. Wie lange war ich nicht mehr hier? Ich hatte nicht einmal gemerkt, dass ich hierher gekommen war. Meine Beine hatten sich selbstständig gemacht und mich hierher getragen. Wenn ich wütend oder traurig war, wenn ich einfach alleine bleiben wollte, dann kam ich immer so gerne hierher. Ein einsamer und verlassener kleiner See, wo man seinen Gedanken nachhängen konnte.
Wochen waren vergangen seit ich meine Sonntags-Tour um den See unterlassen hatte. Wieso konnte ich eigentlich auch nicht sagen, aber im Moment hatte ich einfach das starke Bedürfnis diesen alten Brauch umzusetzen, weswegen ich loslief.
Es war wieder spät, als ich Daheim ankam, bereits nach fünf. Ich hatte Glück, es war niemand zu Hause. Mir war langweilig und ich wusste nicht was ich machen sollte. Fernsehen klappte nicht, es lief nichts im Programm, auch der PC wurde nach fünf Minuten ausgeschaltet. Aus lauter Langeweile stand ich auf und war versucht einen Kuchen zu backen, doch entschied mich um, da ich wusste, dass es ein absoluter Reinfall werden würde. Daher ging ich auf mein Zimmer und las ein Buch bis mich irgendwann die Müdigkeit übermannte und mir meine Augen zufielen.
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Jemand rüttelte mich: „Nala, wach auf mein Schatz.“
Ich blinzelte und rieb mir langsam den Schlaf aus den Augen. Mein Vater saß neben mir auf meinem Bett.
„Steh auf Nala. Du hast dich noch gar nicht umgezogen.“ Er lächelte mich warm an.
Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass wir schon elf Uhr hatten. Etwas distanziert erwiderte ich: „Ist gut.“
Damit stand ich auf und vermittelte ihm damit, dass er rausgehen sollte, damit ich mich umziehen konnte. Er verstand natürlich sofort. Etwas anderes konnte man von einem Anwalt ja nicht erwarten. Als ich erwartungsvoll auf ihn wartete lächelte er einmal traurig. Mein Vater hatte schon graue Haare, dennoch war noch genug braun auf seinem Schopf. Er trug eine rahmenlose Brille. Sein Gesicht wies Spuren seiner 48 Jahre auf. Er war einfach ein sympathischer Mensch. Trotzdem wollte ich eine gewisse Distanz aufrechterhalten. Solange bis ich ihm irgendwann verziehen hatte, doch im Moment war ich nicht bereit dafür.
Er stand dann auch auf, blickte mich wie so oft in letzter Zeit entschuldigend an, kam einen Schritt auf mich zu, packte mich sanft an meinem Hinterkopf und drückte mir einen Kuss auf die Stirn.
„Schlaf schön, meine kleine Nala.“
Er schenkte mir noch ein letztes warmes Lächeln, ehe er aus meinem Zimmer verschwand und mich völlig verdutzt zurückließ. Mit gemischten Gefühlen lief ich dann zu meinem Kleiderschrank um mir mein Pyjama zu holen. Während der Bewegung hielt ich inne und grinste dämlich. Auch wenn ich sauer auf ihn sein wollte, bewirkte seine Aktion, dass ein Fünkchen Glück sich in meiner Magengegend einnistete. Ich zog mich schnell um und legte mich in mein Bett. Wie lange es doch her war, dass mein Vater mich auf die Stirn küsste und seiner kleinen Nala gute Nacht wünschte. Viel zu lange. Umso glücklicher konnte ich an diesem Abend einschlafen. Es war einfach erstaunlich in wie meine Laune von einer Sekunde auf die andere umschwenken konnte. Vor gerade Mal zwei Minuten wollte ich kalt zu ihm sein und jetzt? Mein Vater konnte doch eigentlich auch nichts gegen meine Mutter unternehmen so wie ich, aber vielleicht, wenn wir uns zusammentun würden, dann… dann könnten wir… ja was könnten wir dann? Uns gegen sie auflehnen? Das würde sie niemals einfach so hinnehmen. Mein Vater würde dann nur noch mehr darunter leiden. Schließlich hasste er es, wenn man sich in der Familie stritt. Wenn ich mir das alles im Nachhinein überlegte, war sicherlich meine Mutter wesentlich mit Schuld an der Erschöpfung und Müdigkeit meines Vaters. Manchmal wirkte er nur noch ausgelaugt. Erstaunlich war aber, dass er diese Erschöpfung niemanden sehen ließ. Er spielte immer den selbstbewussten und starken Anwalt, aber das war er nicht immer. Vor allem nicht in der Familie. Zu meinem Leidwesen…

Am nächsten Tag stand ich wie nahezu jeden Montag auf und machte mich für die Schule fertig. Irgendwie fühlte ich mich verspannt, obwohl ich doch so lange geschlafen hatte. Ich wusch mir nur die Haare und verrichtete meine Katzenwäsche, um anschließend meine Haare in Locken mit dem Diffusor in Form zu bringen, schminkte mich dezent und zog mir heute einen grünen Rock mit weißer luftiger Bluse darüber. Natürlich trug ich noch ein weißes Top darunter, da die Bluse nicht nur luftig sondern auch ziemlich transparent war.
Eine Kette mit einer Schneeflocke als Anhänger, die ich von meinem Vater zu meinem 15. Geburtstag bekommen hatte, und ein goldenes Armband dienten als Accessoires. Ich betrachtete mich im Spiegel und befand mich nicht schlecht. Auch, wenn der grüne Rock dieses Etwas an Business reduzieren sollte wirke ich trotzdem sehr elegant. Schon fast zu elegant, sodass mein Outfit eigentlich ungeeignet für die Schule wäre, aber da der Rock nur bis etwas über die Hälfte meiner Oberschenkel reichte, könnte man ihn wieder inakzeptabel fürs Geschäftsleben sehen.
Immer noch mit Glücksgefühlen durchströmt lief ich dann runter in die Küche. Meine Eltern waren schon auf und Tim, ich wusste nicht einmal ob er gegangen war. Wahrscheinlich nicht. Er blieb meist eine Woche, wenn er kam.
„Guten Morgen“, wünschte ich viel zu gut gelaunt, sodass sogar ich stocken musste bei meiner übermütigen Glückswelle. Meine Eltern rissen überrascht zeitgleich ihre Äugelein auf musterten mich kritisch.
Sie grüßten mich dann auch nach einer gefühlten Ewigkeit zurück.
„Guten Morgen. Wie siehst du denn aus? Willst du etwa so zur Schule?“ fragte mich meine Mutter skeptisch.
„Ja, ist das nicht okay?“ fragte ich zurück. Na toll, musste ich mir jetzt auch noch sagen lassen, was ich tragen durfte oder nicht?
Immer noch schwang Skepsis in ihren Augen mit, bevor sie mir allerdings antworten konnte, kam ihr mein Vater zuvor.
„Lass sie doch. Das ist sicher Mode.“ Er lächelte mich warm an und auch ich schenkte ihm ein warmes Lächeln als Dank. Natürlich entgingen meiner Mutter unsere Blicke nicht. Es sah auch so aus, als würde es ihr nicht sonderlich gefallen, aber ich wüsste nicht, was sie daran stören sollte, dass ich meinen Vater anlächelte. Möglicherweise, weil sie den Grund für unser Verhalten nicht kannte und sie es hasste weniger wie andere zu wissen?
„Der Rock hätte ruhig etwas länger sein können.“ Wieder musste sie das letzte Wort haben. „Aber ich will mal nicht so sein. Ausnahmsweise.“
Ich atmete leise und erleichtert aus. Nicht einmal die Schule schaffte mich so sehr wie meine Mutter. Ich aß noch zwei Scheiben Toast mit Marmelade und machte mich schon auf den Weg. Gerade zog ich mir die Schuhe an, als Tim im Flur dazu stieß. Er stoppte augenblicklich und ich spürte seine Blicke auf mir.
„Ist der Rock nicht ein bisschen zu kurz?“ fragte er dann argwöhnisch.
Ich fiel aus allen Wolken! Der hatte sie ja nicht mehr alle! Wollte er mir jetzt nach 16 Jahren vorschreiben was ich zu tun und zu lassen hatte, mir jetzt auf einmal den großen, vorbildlichen großen Bruder vorspielen oder was?
Als ich meine Sandalen mit Keilabsatz und mit einer speziellen grünen Schlaufentechnik endlich um meine Gelenke gebunden hatte stand ich auf und musste mit Genugtuung feststellen, dass Tim gar nicht mal mehr so groß wirkte. Er war durch meine Absätze nur noch etwas mehr wie fünf Zentimeter größer wie ich. Mit geschwollener Brust ging ich dicht auf ihn zu.
„Ich finde die Länge ideal. Als du früher noch hier gewohnt hast, habe ich öfters Mädchen ein- und ausspazieren gesehen, die diese Rocklänge hatten. Also müsste ich mich bei dir bedanken. Ich bin zwar ein Spätzünder und hab das nie so richtig begriffen, dass weniger mehr ist, aber hey das Wichtigste ist doch, dass ich es überhaupt begriffen habe! Dankeschön Bruderherz.“ Wieder lächelte ich gespielt.
Tim sah dies wohl als eine Beleidigung an, denn sofort blitzte er mich wütend an: „ Was soll das denn jetzt heißen? Sag mal, was ist eigentlich mit dir los? Ich erkenn dich gar nicht wieder!“
Natürlich erkannte er mich nicht wieder. Keiner tat das. Nicht einmal ich, aber war es nicht umso schöner zu wissen, wie man Menschen wie Tim beweisen konnte, dass in einem viel mehr steckte und das Verborgene endlich ans Tageslicht kam?
„Was soll los sein? Ich bin wie immer“, spielte ich die Unschuldige.
„Tim, Nala, was ist denn los?“ Mein Vater war dazugekommen und betrachtete uns jetzt durchdringend.
„Nichts Papa, ich muss los. Schließlich bin ich kein Student und kann ja nicht gehen und kommen wie ich lustig bin.“ Ich umarmte meinen Vater noch, schnappte mir meine Tasche und lief an dem wütenden Tim vorbei. Er sandte mir wieder Blitze zu. Statt Angst zu bekommen, konnte ich nur süffisant grinsen.

Als ich an dem Haus der Cannaghans stoppte fiel mir auf, dass ich verstritten mit Clyde war. Ich überlegte, ob ich auf ihn warten sollte oder nicht. Nach kurzem Überlegen entschied ich mich dagegen. Ich lief einfach weiter, sonst würde Clyde womöglich noch einmal das Thema mit der Party aufgreifen. Darauf konnte ich verzichten.

Die Tage verstrichen recht schnell. Clyde ging ich aus dem Weg. Wenigstens bis zur Party. Er würde schon sehen, es würde nichts passieren, auch, wenn er ständig versuchte mich zu erreichen, doch ich blockte ab. Ignorierte seine SMS und Anrufe und verschwand sofort aus seinem Sichtfeld, wenn er versuchte mir näher zu kommen. Mit meinem Vater verstand ich mich zwar wieder, aber er war gemeinsam mit meiner Mutter in einen etwas schwierigen Fall vertieft, weswegen er kaum Zeit für mich hatte. Das störte mich nicht so sehr. Jedoch machte mir Tim mehr zu schaffen. Ich hatte das Gefühl, als würde er ein Gespräch mit mir aufsuchen, weswegen ich so gut wie gar nicht zu Hause war. Er nervte mich nur.
Und dann war es so weit. Wir hatten Samstag, da ich nicht mit Clyde auf die Party gehen konnte, versuchte ich es mit Plan B. Ich würde zu Nina gehen, weil wir eine gemeinsame Präsentation ausarbeiten müssten, was erstunken und erlogen war, und anschließend würden wir einen gemeinsamen Filme-Abend machen, weswegen ich lieber bei ihr übernachten wollen würde. Natürlich machte meine Mutter wie immer Probleme. Es schien ihr überhaupt nicht zu gefallen, dass ich bei jemandem, den sie noch nie gesehen hätte, übernachten wollte. Als ich sie aber regelrecht anbettelte und sie dann zu meinem großen Vorteil, während unseres langwierigen Gesprächs, ihr Handy klingelte und dieser Anruf sich als äußerst wichtig entpuppte, erhielt ich endlich die Erlaubnis. Zwar bekam ich sie nur, damit ich sie nicht weiter nervte, aber wichtig war doch, dass ich sie überhaupt bekam.
Daher rannte ich schnell auf mein Zimmer, packte in einen Rucksack meinen Pyjama und mein Outfit für den Abend. Während ich einpackte kam plötzlich Tim in mein Zimmer. Natürlich erschrak ich erst mal.
„Schon mal was von anklopfen gehört“, fuhr ich ihn an.
Er ignorierte meine Frage: „Wohin denn so eilig? Ständig bist du irgendwo. Hast wohl die Adresse unseres Hauses vergessen.“
Eine bissige Antwort lag mir auf der Zunge, doch ich schluckte sie runter. Wenn meine Mutter jetzt dazukam könnte er mir alles versauen, also atmete ich einmal tief ein uns aus und antwortete so neutral wie möglich: „Zu einer Freundin. Wir werden ein Referat ausarbeiten.“
„Und dafür brauchst du Klamotten?“
„Ich werde bei ihr übernachten. Wenn du erlaubst… ich hätte eigentlich schon früher bei ihr sein müssen. Ich bin spät dran.“
Damit drängte ich ihn aus meinem Zimmer.
„Außerdem Bruderherz. Wir haben schon nach zwei und du bist immer noch zu Hause? Das wundert mich. Weißt du inzwischen lerne ich viel. Ich habe mir einiges von dir abgekupfert. Schließlich bist du doch mein großer Bruder. So etwas wie ein Vorbild, nicht wahr? Und ich hab gemerkt, wenn ich nur zu Hause abhänge, verpasse ich so viel vom Leben. Ich muss ja schließlich mein Leben in vollen Zügen genießen, so wie du. Nicht wahr?“
Wieder blickte Tim grimmig, aber eine andere Wahl hatte er ja nicht. Wie sollte er denn auf so etwas antworten. Ich hatte zwar indirekt, aber doch klar und deutlich vermittelt, dass er nie zu Hause war und immer nur an sich gedacht hat und das hörte er jetzt von mir. Seiner kleinen, unscheinbaren, dummen und womöglich lästigen Schwester.
Viel konnte er nicht mehr darauf erwidern: „Viel Spaß beim Referat.“ Er klang komisch. Wie, wusste ich nicht. Nur komisch.
Ich beließ es dabei und machte mich auf dem Weg. Erfreut durfte ich feststellen, dass meine Mutter immer noch telefonierte. Ich machte einen Wink und verdeutlichte ihr somit, dass ich ging. Sie machte eine wegwerfende Handbewegung, die so viel wie „Ja geh“ bedeuten sollte.

Wir brauchten Stunden bis wir uns endlich fertig richteten. Nina und ich hatten sämtliche Schönheitsprozeduren über uns ergehen lassen. Haare waschen und stylen. Maniküre, Pediküre, Schminken, natürlich auch eincremen mit Bodylotion. Nachdem wir wirklich Stunden mit unseren Körpern und unseren Aussehen beschäftigt waren, stand ich endlich fertig vor dem Spiegel.
Meine Locken kamen heute besonders schön zur Geltung. Sie fielen mir sanft bis etwas über die Schulter runter. Mein hautenges schwarzes Minikleid, das vorne diagonal in den unterschiedlichen dicken Streifen verlief und darunter noch meine beigen Pumps, wobei ich mich immer noch fragte, wie ich einen ganzen Abend lang mit diesen gefährlichen Absätzen herumlaufen sollte, dazu noch ein silbernes dünnes Armband und ebenso silberne Ohrstecker mit etwas stärkerer Schminke wie sonst, waren das Ergebnis der harten letzten Stunden.
„Nelly, du siehst hammer aus! Richtig sexy! Also, wenn du heute keinen Kerl um den Finger wickelst, dann weiß ich auch nicht weiter.“
Ich musste grinsen. Ich und ein Kerl? Zwar hatte ich mich sehr verändert, aber jetzt plötzlich mit einem Kerl zusammen sein? Händchen halten? Küssen? Das war ja doch ein gewaltiger Schritt, was mir die Röte ins Gesicht trieb.
Nina sah auch nicht schlecht aus. Sie trug ein schwarzes Kleid mit schwarzen Pumps. Ihre blonden langen Haare hatte sie versucht zu locken, aber so schön wie bei mir sah das einfach nicht aus.
Als wir uns dann endlich auf den Weg zur Party machten, wurden wir von einem Freund von Nina aufgehalten. Er war gekommen um sie abzuholen, wusste aber nicht, dass ich auch noch im Spiel war. So war er gezwungen uns beide zu der Party zu kutschieren.
Schon von weitem hörte man die laute Musik. Nervös und aufgeregt blickte ich umher. Überall standen Autos, viele Jugendliche, die Frauen waren richtig aufgebrezelt. Zum ersten Mal fühlte ich mich nicht unwohl in meiner Haut. Normalerweise beschlich mich in solchen Situationen immer ein unwohles Gefühl mit einem genauso unwohlen Schauer, aber diesmal wusste, dass ich einfach gut aussah. Ich musste mir keine Gedanken darüber machen, ob ich schon wieder etwas falsch machte. Dümmer wie andere dastehen würde. Nein, diesmal würde man, wenn dann aus Neid hinter meinem Rücken lästern.
Wir sahen das Haus. Es war riesig! Größer als unseres. Drei Stockwerke. Ein riesiger Swimmingpool und unglaubliche viele Menschen! Teils in Badezeug, teils normal angezogen und teils overdressed. Die Bässe waren deutlich vernehmbar. Es war einfach toll. Das waren meine ersten Gedanken.
Vor der Einfahrt ließ uns der Freund von Nina aussteigen, weil er noch einen Parkplatz finden musste.
„Ist, dass das erste Mal, dass du auf einer Party bist?“ fragte Nina mich prüfend.
Natürlich war mir das peinlich, also log ich: „Nein, klar war ich schon mal auf einer Party, aber die war halt nicht so bombastisch wie die hier.“ Ich grinste frech „Immerhin ist die Männerauswahl hier deutlich größer.“
Und Nina freute sich natürlich sofort.
Die Party lief in vollem Gange. So eine Mega-Party hatte ich ja noch nie gesehen! Und Clyde lag falsch. Ich für meinen Teil, hatte weder eine Berührung mit Drogen, noch hatte ich jemanden beim Verticken oder Konsumieren erwischt. Und das obwohl ich hier schon seit guten zwei Stunden hier war. Auffallend waren eben die ganzen Betrunkenen Jugendlichen, die mich teilweise anekelten. Manche kotzten einfach einem vor die Füße, andere lallten und hatten eine extreme Alkoholfahne, dass man drohte umzukippen. Trotzdem genoss ich alles. So etwas gehörte doch dazu, auch, dass ich selbst Alkohol trank. Bier, war wirklich nicht mein Lieblingsgetränk. Generell vertrug ich kein Alkohol und doch musste ich wenigstens eine Flasche in der Hand halten. Und hin und wieder so tun, einen kleinen Schluck trinken.
Nina war natürlich heftig am Flirten. Wen wunderte es, die Jungs sahen wirklich nicht schlecht aus und der Gastgeber Patrick erst, der war einfach nur hot!
Leider hing er lieber mit zwei Mädels gleichzeitig ab, was mich persönlich überhaupt nicht ansprach. Es gab auch Einige, die mich anmachten, aber entweder sie waren nicht mein Typ oder sie stanken zu sehr, sodass ich wieder auf Abstand gehen wollte. Schon komisch, dass niemand mir sonderlich gefiel. Hatte ich zu hohe Ansprüche? Auf Ninas Aufforderung hin versuchte ich mich auch am Flirten. Leider musste ich feststellen, dass mir das so gar nicht lag. Was sollte ich auch auf Sprüche wie „Hey du siehst aber heiß aus Babe“ antworten. Allein das Wort Babe machte doch alles zunichte. Eine mögliche Konservation erlosch bevor sie überhaupt richtig begann.
Die Stunden vergingen und irgendwie begann mich die Party zu langweilen. Irgendwie hatte ich mir das alles spannender vorgestellt gehabt. Stattdessen wurde ich hier mit einer Saufparty konfrontiert. Mit keinem von denen konnte man über interessante und anspruchsvolle Themen reden. Dabei fand ich so etwas wichtig! Was wollte ich von einem Kerl, der nur an das Eine dachte. Da blieb ich doch lieber Single.
Irgendwann, als es schon weit nach 23 Uhr war blickte ich wieder, wie so oft an dem Tag umher. Es war, als würde ich die Zeit totschlagen und nicht mehr, bis mein Blick an einem blonden Schopf hängen blieb, der von blauen Augen begleitet wurde.
Die Bierflasche, sowie mein übereinandergeschlagenes Bein schwangen leicht hin und her, bis ich für einen Augenblick meinen Blick abwandte nur um den Unbekannten einen weiteren Blick zuzuwerfen, der mich diesmal erstarren ließ.
Diese blauen Augen… Sie waren mir nicht unbekannt…
Tim!
Er blickte verärgert zu mir. Ich war wie gelähmt. Meine Hände zitterten. Ich verstand die Welt nicht mehr. Was machte Tim hier? Doch lange konnte ich nicht nachdenken, denn auf einmal setzte sich Tim in Bewegung und kam geradewegs auf mich zu. Plötzlich war es als hätte ich zwei linke Hände und Füße. Ich wusste nicht was tun.
Reflexartig sprang ich von dem Barhocker, einer von fünf von der offenen Küche, auf und wollte erst mal die Bierflasche in meiner Hand loswerden. Bei dem Versuch, sie auf den Tisch zu stellen scheiterte ich, denn mein Körper hörte nur noch halbherzig auf meine Befehle. Die Flasche fiel um und die Flüssigkeit fand ihren Weg zum Boden.
Obwohl mein Körper nicht mehr richtig zu funktionieren schien, schaffte ich es trotzdem irgendwie aufzustehen und eilig davonzulaufen. Wovor oder warum ich weglief wusste ich nicht. Das würde keine Probleme aus der Welt schaffen, aber ich wollte hier weg. Weg. Einfach nur weg!
Ich wollte nicht mit Tim reden. Ich wollte nicht an den Ärger denken, den er mir bescheren würde. Ich wollte nicht an meine Mutter denken, die mir lebenslang Hausarrest oder noch schlimmer Strafen verpassen könnte! Ich wollte, dass Tim mich nicht sah, so wie sein Leben lang schon nicht!
So gut es mir gelang versuchte ich mit den Absätzen zügig zu laufen. Natürlich misslang mir das gehörig, auch wurde ich ständig von den anderen Gästen gehindert. Es war, als würde mich das Schicksal auslachen, weil ich gelogen hatte. Als wär ich jetzt eine dumme Schießbudenfigur, die darauf wartete abgeschossen zu werden. Warum musste auch ausgerechnet Tim hier erscheinen, wo ich ihm doch erst heute Mittag erzählte, dass ich lernen wollte. Warum nur? Ich wandte meinen Kopf einmal nach hinten und sah, dass Tim der anfangs noch ein gutes Stück von mir entfernt war, aufgeholt hatte. Panik überfiel mich erneut und ich zog mir meine Schuhe aus, nahm sie in die Hände, sowie meine Beine auch und rannte, diesmal richtig. Der Boden war hart, es piekste und teilweise lag das Erbrochene von den anderen auf dem Boden, aber ich machte mir nichts daraus. Ich musste hier weg! Weg! Wohin war egal, Hauptsache weg!
„Nala! Bleib stehen!!“ schrie mein Bruder, wobei seine Stimme nicht allzu weit entfernt klang. Nahezu hysterisch rannte ich nun aus dem Haus raus auf die Straße.
Wie als hätten meine Beine neue Energie bekommen, rannte ich auf die Straße zu. Ein Taxi! Ich brauchte schnell ein Taxi!! Verdammt! Ich wollte hier weg.
„Nalaaa!!“ rief mein Bruder erneut, doch ich war schon auf der Straße und schrie panisch auf, weil ich fast von einem Motorradfahrer angefahren wurde. Er konnte noch rechtzeitig stoppen und sah mich entgeistert an.
„Hallo geht’s noch?“ motzte er. Er war sicher einer von der Party.
In meiner Angst wollte ich ihn fragen, ob er mich mitnehmen könnte, doch soweit kam ich nicht. Denn ein Blick nach hinten zeigte mir, dass einer der Gäste Tim abgefangen hatte und ihn aufhielt.
„Man das ist meine Schwester! Halt dich da gefälligst raus!“ spie er ihm entgegen.
Als er einmal zu mir blickte war es um mich und meine Vernunft, die ich ja eigentlich schon längst verloren hatte, geschehen. Ich sprang wie eine irrsinnige auf das Motorrad des Unbekannten und schrie hysterisch: „Na los! Fahr schon!“
„W- Was?“ fragte er dämlich, ehe er begriff und Gas gab. Ich konnte noch sehen, wie Tim es endlich schaffte sich von dem Gast zu befreien, mir hinterherrannte und wütend meinen Namen rief.
„Nalaaa!!“






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