Irdisches und Überirdisches - Teil 17

Autor: Judy
veröffentlicht am: 27.02.2012


In der Nacht bekam Lou plötzlich hohes Fieber. Sie weckte Tobi, der in der Nacht bei ihr geblieben war.
„Könntest du mir vielleicht ein Glas Wasser bringen?“, fragte sie mit schwacher Stimme. Tobi räkelte sich müde, nickte aber. Beim Aufstehen gab er Lou einen flüchtigen Kuss auf die Stirn.
„Mädchen, was ist los? Du glühst ja!“ Er eilte in die Küche und goss ein Glas Wasser ein. Als er zurückkam, saß Lou aufrecht im Bett. Sie zitterte, obwohl ihr der Schweiß von der Stirn lief. Sie erblickte Tobi, der erschrocken mit dem Glas in der Tür stand, und sie ansah. Plötzlich verwandelte er sich in einen dreiköpfigen Hund. Sechs leuchtende Augen sahen auf sie herab – und kamen näher. Schützend versuchte Lou ihre Augen mit ihrem Arm abzudecken, doch nicht nur das Monster kam näher. Auch die Wände begannen näher zu kommen, bald hatte Lou das Gefühl, der Raum würde zu eng, um sich zu bewegen. Als Tobi näher kam, um der zitternden Lou die Hand auf den Arm zu legen, sah sie nur eine große, haarige mit langen und scharfen Krallen besetzte Pranke. Schon jetzt spürte sie den Schmerz, den sie wohl erfahren würde, wenn sich die Krallen in ihre Haut bohrten. Schließlich begann sie zu schreien. Vor Panik schlug sie um sich, war aber bald zu schwach und lies sich auf das Bett zurückfallen. Ihren Kopf bedeckte sie mit einem Kissen. Sie wollte nichts mehr sehen, nichts mehr hören, nichts mehr spüren. Sie fror entsetzlich und wickelte sich so gut es ging in ihre Decke ein.
Tobi hatte sich dieses Schauspiel bleich angesehen. Das Wasser hatte Lou ihm längst aus der Hand geschlagen und auf seinem muskulösen Arm hatte er lange Striemen von ihren Fingernägeln. Trotzdem besann er sich nicht lange und rief einen Arzt.

Den Rest der Nacht verbrachte er auf einem unbequemen Plastikstuhl im Wartezimmer des Krankenhauses. Er musste irgendwann eingeschlafen sein, als ein freundlicher, alter Arzt mit weißen Haaren und großer Brille ihn weckte.
„Wie geht es Lou?“, fragte Tobi ihn als erstes. Der Arzt setzte sich.
„Ein wenig besser. Wir haben das Fieber ein wenig gesenkt. Sie schläft jetzt.“ Tobi nickte.
„Sind Sie mit ihr verwandt?“, fragte der Arzt.
„Nein. Ich bin Lous Freund,“ antwortete er.
„Hat sie irgendwelche Verwandte, die man herholen könnte?“ Tobi dachte kurz nach. Dann schüttelte er müde den Kopf.
„Über ihren Vater weiß ich nichts, die Mutter ist tot, der Bruder im Knast. Und dann gibt es noch so einen steinalten Onkel Erik, der ist in der Klapse.“ Der Arzt biss sich auf die Lippen. „Ist es schlimm?“
„Nunja. Es gibt da einige Komplikationen. Ich werde Ihnen später mehr sagen, wenn wir genaueres wissen.“ Er stand auf.
„Kann ich kurz mal telefonieren?“, fragte Tobi, während er auch aufstand.

Marie hatte nicht gut geschlafen. Anstatt im Gästebett in Rays Wohnung, lag sie nun bei ihrer Cousine Ramona auf dem Sofa. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals so ungemütlich gelegen zu haben. Ramona legte Wert auf Design, aber nicht unbedingt auf praktisches. Der Fernseher gab schon die ganze Nacht ein undeutliches brummen von sich und blinkte unermüdlich. In der Küche nebenan tropfte der Wasserhahn. Die Zeiger der permanent tickenden Pendeluhr, die auch pünktlich zur vollen Stunde ausschlug, zeigten gerade einmal auf 06:12, als das alte Telefon laut zu schrillen begann. Wütend presste Marie sich das Kissen auf die Ohren. Im benachbarten Flur ging schließlich das Licht an und Ramona tapste barfuß und verschlafen ins Wohnzimmer.
„Wer auch immer um diese Zeit anruft, ich bringe ihn um. Ich wette es ist Ray. Ich töte ihn eigenhändig.“ Da stand Ramona vor dem Telefon. Sie trug ein kurzes Nachthemd, unter dem lange Beine hervorschauten. Ihre blondierten Haare waren ebenfalls lang und reichten ihr schon fast bis zur Hüfte. Marie sah unter dem Kissen hervor. Wie anders sie aussah, ungeschminkt, dafür mit Schatten unter den Augen und ohne ihre Kreolen, ohne die man sie sonst niemals sah. Seufzend hob Ramona ab.
„Hier ist Tobias!“ Flüchtig hatten sie sich kennen gelernt, als Ramona und Marie Lou besucht hatten.
„Ist Marie bei dir? Es ist ziemlich wichtig.“ Ramona reichte das Telefon an Marie weiter.
„Für dich!“ Sie brummelte ein wenig vor sich hin und verschwand anschließend wieder im Schlafzimmer.
„Ja?“, grunzte Marie verschlafen in den Hörer.
„Es ist wegen Lou. Sie ist krank. Sie hatte heute nacht über 40° Fieber. Der Arzt sprach von Komplikationen. Ich weiß nicht, was ich tun soll?“
„Oh mein....“, flüsterte Marie. Sie erinnerte sich an etwas, was Lou ihr vor Jahren einmal erzählt hatte.
„Pass gut auf sie auf, Tobi. Ich komme vorbei, ich werde sie besuchen. Ich werde euch besuchen. Ich hoffe, es ist nicht das, was ich befürchte. Ich...“
„Wovon sprichst du?“
„Ich erzähls dir später. Bis nachher.“ Marie legte den Hörer auf, begann sich anzuziehen und Sachen in ihre Tasche zu packen.





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