Irdisches und Überirdisches - Teil 16

Autor: Judy
veröffentlicht am: 23.02.2012


Zur selben Zeit, etwa 300km weiter nördlich.
„Geht es dir gut?“ Er nickte.
„Mir ist es nie besser gegangen. Es ist alles nur... so ungewohnt.“ Er blickte Marie in die Augen. Sie saß auf einem abgewetzten Sessel, ihren Sohn Nico auf den Knien. Er war das einzige, was von ihrem Ex übrig geblieben war. Plötzlich war er weg, hatte nur einen Zettel mit „Tut mir Leid, ich pack das nicht!“, hinterlassen. Marie wollte nicht weiter darüber nachdenken. Sie liebte ihren Sohn der nun fröhlich auf ihr herumwippte und ihrem Gegenüber am Verband zerrte, den er um die Stirn trug.
„Nico, lass das“, sagte er grinsend und hob den Kleinen auf seinen Schoß. „Den brauche ich noch!“
„Sollen wir Lou etwas sagen?“, fragte Marie dann.
„Ich weiß es nicht“, sagte er. „Vielleicht ist es besser, sie in dem Glauben zu lassen, ich sei tot. Je weniger davon wissen, desto sicherer bin ich. Außerdem hat sie ja Kontakt zu einem der Verbrecher!“
„Sie vertraut ihm, sie...“, Marie brachte es nicht übers Herz Ray zu sagen, dass die beiden sich liebten. Zu frisch war noch seine Erinnerung an ihre glücklichen Zeiten.
„Vielleicht hast du Recht“, sagte sie dann. „Ach übrigens“, sie griff in ihre Tasche. „Hier ist dein neuer Ausweis. Meine Cousine hat das in die Wege geleitet. Dein neues Gesicht steht dir!“
„Tja, leider sind die Narben geblieben“, antwortete Ray. „Und ich sehe mir immer noch mindestens so ähnlich, wie mein eigener Bruder.“
„Magnus glaubt, du seist tot. Wenn er dir zufällig über den Weg läuft, wird er dich nicht erkennen. Tobi scheint, wohl nocheinmal den Dreh zum Guten bekommen zu haben. Und Lou... Ich glaub, es ist für sie besser, wenn sie dich vergisst. Auch wenn das hart klingt. Aber du brauchst dir nichts vormachen. Sie liebte dein Geld mehr als dich.“ Marie lehnte sich zurück. Ray schwieg.
„Geht es dir wirlich gut?“ Er nickte. „Wie geht es dir?“ Marie schien überrascht von der Gegenfrage. So genau hatte sie da gar nicht drüber nachgedacht. Viel zu viel hatte sie damit zu tun, ihren Sohn groß zu ziehen, Lou beiseite zu stehen und vorallem ihrem besten Freund Ray, mit dem sie schließlich beschlossen hatte, seine Vergangenheit zu töten, und ihn als neuen Mensch woanders weiter leben zu lassen. Unter dem Namen Benjamin. Sie selbst war in der letzten Zeit wohl doch etwas zu kurz gekommen. Ihr bester Freund schien das zu merken.
„Nimm dir mal Zeit für dich selbst, Süße!“, sagte er deshalb. „Eine Woche bei mir, eine Woche bei Lou und jedes Wochenende diese 300km Tour. Marie nickte. „Ich bin trotzdem froh, dass ich euch beide hab! Und froh, dass ich euch unterstützen kann.“ Dann sprang sie auf. „Worauf hast du hunger?“ Ray lächelte. Seit Lou aufgewacht war, hatte er mit Maries Unterstützung sein ganzes Leben auf den Kopf gestellt, und nun begann er sogar, ein neues zu leben. Nun war er also kein reicher Fabrikerbe mehr, kein Wissenschaftler... Vielleicht war es auch besser so, da es ihm schon zweimal fast das Leben gekostet hatte. Er wollte doch gar nicht die Weltherrschaft an sich reißen, was sollte er damit tun. Er war ja schließlich nicht so machtbesessen wie Lous Bruder Magnus. Deshalb hatte er die Papiere verbrannt. Genauer gesagt, er hatte sie auf den Grill gelegt, und mit Marie und ihrer Cousine anschließend Bratwürstchen gegrillt. Danach hatte er sich einer schmerzhaften Gesichtsoperation unterzogen. Mit dem Ergebnis war er gar nicht einmal so unzufrieden. Sobald er und Marie dann einen Job gefunden hätten, würde er einen Großteil seines Vermögens spenden und anfangen, wie ein normaler Mensch zu leben. Er freute sich auf sein neues Leben. Plötzlich zupfte Nico wieder an seinem Stirnverband. Er bemerkte, dass Marie ihn erwartend ansah.
„Worauf hast du hunger?“ Plötzlich sah er sie mit anderen Augen als seine beste Freundin. Wunderschön war sie. Die Haare vielen ihr weich und glänzend auf den Rücken. Das Gesicht war sonnengebräunt, und unter dem engen Top zeichnete sich ein wohlgeformter Körper ab.
„Auf dich!“, sagte er deshalb. Er hob das Kind von seinen Knien und setze es auf den leeren Sessel. Dann griff er locker in Maries Haare, streichelte sie am Hinterkopf und presste seine Lippen auf ihre. Seine andere Hand wanderte ihren Rücken hinab. Kurz bevor sie ihren Po erreicht hatte, wurde sie von ihrer Hand gebremst. Marie wandte ihren Kopf aus seinem Griff, ihr Körper erstarrte unter seiner Hand. Mit geweiteten Augen sah sie ihn schreckensbleich an. Dann schüttelte sie nur langsam den Kopf, griff ihren Sohn und rannte leichtfüßig aus der Wohnung.
„Oh mein Gott, was habe ich nur getan!“, flüsterte Ray. „Marie, komm zurück. Mein Mädchen!“
Marie lief unterdessen durch die Straßen, den Kleinen im Kinderwagen. Lange her war es gewesen, dass die beiden eine Beziehung geführt hatten, schließlich auseinander gegangen, als er sich in ihre beste Freundin verliebt hatte. Schlimm war diese Zeit für sie gewesen, doch hatte sie es schließlich geschafft, darüber zu stehen, und sie war glücklich, diese beiden Menschen als ihre besten Freunde zu haben. Trotzdem hatte sie sich in zahllose Beziehungen gestürtzt, aus ihrer letzten war schließlich der kleine Nico hervorgegangen. Ob Lou glücklich mit Tobi war? Marie wusste nur aus Erzählungen von seinen und Magnus Machtspielchen gegen sie in der Schule. Letztendlich hatte es beide ins Gefängnis gebracht. Tobi schien diese Zeit gut bekommen zu sein, er machte Lou glücklich, so schien es zumindestens. Magnus dagegen versuchte selbst aus dem Gefängnis noch die Fäden zu ziehen. Ob er noch mehr Verbündete hatte? Marie beugte sich über den Kinderwagen. „Komm mein Kleiner, wir gehen zu deiner Tante!“ Eigentlich war Maries Cousine ja nicht wirklich seine Tante, aber sie fühlte sich mit der Verwandtschaftsbezeichnung am wohlsten. Sie wohnte nur zwei Straßen weiter, unter anderem deshalb hatten sie sich dazu entschieden, Ray hier zu verstecken. „Ray“, dachte Marie verträumt und lies den Kuss nocheinmal vor ihren Augen Revue passieren. „Nein, das ist jetzt der falsche Zeitpunkt. Wir sind in Schwierigkeiten. Und er ist nicht mehr länger Ray. Mein Ray...“ Und das einzige, was sie noch dachte, als sie bei ihrer Cousine klingelte war „Benjamin“





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