Irdisches und Überirdisches - Teil 11

Autor: Judy
veröffentlicht am: 31.03.2011


Es war Sommer. Lou saß in ihrem Rollstuhl im Garten der Reha-Klinik und las. Ihre Freundin Marie war gerade gegangen. Sie hatte Lou in den 14 Tagen, die sie schon hier war beinahe täglich besucht. Heute hatte sie ihren kleinen Sohn Nico mitgebracht, der geboren wurde, als Lou im Koma lag.
Wie sooft sehnte sich Lou nach ihrem Bruder, der irgendwo viele hunderte Kilometer entfernt seine Strafe hinter Gittern verbringen musste.
Mit einem Mal stand ein Arzt neben Lou.
„Sie haben Besuch.“ Lou kramte in ihrem Gedächtnis. Wer wollte sie besuchen kommen? Marie war gerade gegangen, Magnus im Gefängnis und Ray... Ray war Vergangenheit.
„Da bin ich mal gespannt, wer das sein könnte“, sagte Lou also. Der junge Arzt schob ihren Rollstuhl zum Eingang des Geländes, wo ein junger Mann im Anzug sein Gesicht hinter einem riesigen Blumenstrauß aus orangenen Rosen verbarg.
„Es freut mich, dich zu sehen, Lou“, hörte sie seine Stimme hinter dem Blumenstrauß. Sie kam ihr wahnsinnig bekannt vor.
„Tobias“, sagte sie dann. Er senkte die Blumen.
„Ich hoffe, ich stör dich nicht“, sagte er verlegen. Die beiden schauten sich an. Lou schüttelte nur den Kopf.
„Hier bin ich so alleine, da bin ich für jeden Besuch dankbar.“
Tobias setzte sich auf eine Bank, neben der Lou mit ihrem Rollstuhl zum Stehen gekommen war.
„Ich war bei Magnus“, sagte er dann. „Er gab mir Geld, dass ich dich besuchen kommen kann und dir ab und zu Blumen mitbringen kann. Er wollte, dass ich auf dich aufpasse.“ Lou schwieg.
„Natürlich nur, wenn du einverstanden bist. Ich weiß... ich war nicht immer fair zu dir.“
„Nein, das warst du nicht“, flüsterte Lou und dachte an die Zeit zurück, als Magnus noch bei ihnen gewohnt hatte. Magnus und Tobias hatten die Führungsposition ihrer Stufe eingenommen. Stufensprecher, Schulsprecher. Wer ihnen nicht gut gesinnt war, hatte schon verloren und gerade Lou war Tobias Lieblingsopfer gewesen.
Schräg blickte sie ihn von der Seite an. Er sah gut aus. Das Gesicht war sonnen gebräunt, sein Kinn sprang forsch aus seinem Gesicht. Um die Augen hatte er kleine Fältchen. Schon damals waren Magnus und Tobias der Traum aller Mädchen.
„Wenn Magnus dir vertraut – dann tu ich das auch“, sagte Lou schließlich. „Aber ich brauche Zeit, dich besser kennen zu lernen, bevor du auf mich aufpassen darfst.“ Sie grinste kurz und auch sein Gesicht verzog sich zu einem schelmischen Grinsen, bis sich ein Grübchen in seinem Mundwinkel bildete.
„Ich werde dich nicht unglücklich machen, Lou“, sagte er.
Hatte sie sich das nur eingebildet oder waren seine Augen kurz zu ihrem Dekolleté hinunter gewandert? Plötzlich wurde Lou von Panik ergriffen.
„Wenn du Magnus wieder besuchst, dann grüß ihn von mir. Schönen Abend noch, machs gut.“
Wie Lou beabsichtigt hatte, fasste Tobias dies als Rausschmiss auf und sprang schnell erschrocken auf.
„Was ist denn auf einmal los?“
Das war vielleicht doch etwas heftig gewesen.
„Ich würde mich gerne schon ein wenig hinlegen“, meinte sie deshalb. Tobias nickte.
„Dann machs gut und schlaf gut.“ Er beugte sich zu Lou und küsste sie auf die Wange. Dann drehte er sich wortlos um und ging. Der Kies auf dem schmalen weg knirschte unter seinen Füßen und ab und an wirbelte Staub auf.





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