Irdisches und Überirdisches - Teil 3

Autor: Judy
veröffentlicht am: 18.02.2011


„Du hast ihn geliebt“, flüsterte der Engel traurig. Du hast... wie das klang. „Ja, ich liebe ihn“, brachte Lou mühsam hervor. „Können wir wirklich nicht...“
„Es ist sehr schwer, Tote wieder zurück zu den Lebendigen zu holen.“
„Sehr schwer heißt nicht unmöglich?“ Lou schien sich endlich wieder gefasst zu haben. Langsam ging sie hinter dem Engel her und starrte auf seinen Rücken.
„Wie weit würdest du gehen, um ihn zu retten?“ Hoffnung setzte in Lou ein. „Ich würde für ihn sterben.“ Es waren harte, schnell gesprochene Worte und Lou überlegte schon, ob das nicht zu voreilig wäre.
„Das wäre kontraproduktiv, findest du nicht?“, schmunzelte der Engel. „Du holst ihn aus dem Reich der Toten zurück um selber dorthin zu gelangen?“
„Was muss ich tun?“, schrie Lou. Ihre Stimme hallte zwischen den hohen Häusern wieder. Am Horizont war ein heller Lichtstrahl zusehen. Bald würden sich diese Straßen wieder mit Leben füllen.
„Du musst ihm deine Liebe beweisen.“
„Aha, und wie soll ich das anstellen. Mich hier hinstellen, in den Himmel blicken und rufen: 'Hey Ray, schau mal hier her, ich liebe dich.'?“
„Solange es noch Personen gibt, die du mehr liebst als ihn, wirst du keine Chance haben, Lou.“ Der saß. Lou blieb stehen.
„Solch eine Person gibt es nicht.“
„Komm, wir müssen hier weg sein, bevor die Sonne aufgeht. Denke über meine Worte nach.“
Der Engel griff hinter sich und fasste Lous Hand. Es war ein seltsames Gefühl. Lou spürte die Hand des Engels nicht direkt, es fühlte sich mehr an, als sei ihre Hand in warmen Pudding getaucht oder anderes, was ihre Haut eng umschloss und sie daran hinderte selbige sofort wieder zurückzunehmen. Der Engel beschleunigte das Tempo. Der Streifen am Horizont war breiter geworden und zum ersten Mal in dieser Nacht vernahm Lou Geräusche, die nicht von ihr selbst ausgelöst wurden: In der Ferne rauschte der Fluss, Vögel begannen ihr Morgenlied und das brummen der nahegelegenen Autobahn hob an.
Immer schneller ging es durch die noch verlassenen Straßen, Häuser und Zäune flogen nur so an ihnen vorbei.
Mit einem Male wurde das Tempo so schnell, das Lou die Augen zusammenkneifen musste, da der Wind ihr sonst wieder die Tränen in die Augen trieb. Ihre Ohren schmerzten entsetzlich.
Plötzlich nahm die Reise ein Ende. Der Engel stand immer noch vor ihr und blickte auf das Meer.
Das Meer? Unter sich sah Lou Sand, als sie sich umdrehte konnte sie wilde und kahle Landschaften entdecken. Vor den beiden ging gerade die Sonne im Meer unter.
„Wo sind wir?“, flüsterte Lou.
„Wir sind ein paar Kilometer Richtung Westen geflogen“, antwortete der Engel knapp.
„Aha“, Lou wunderte sich über gar nichts mehr.
„Naja“, räumte der Engel ein. „Wie du siehst, bin ich ein Engel, der schutzbedürftigen Menschen Licht und Wärme spendet. Doch sobald die Sonne aufgeht, werde ich natürlich überflüssig, da sie viel mehr Kraft und Macht hat als so ein einfacher Engel wie unsereins. Sobald die Sonne aufgeht, löse ich mich auf und werde Teil der Atmosphäre und erst bei Dunkelheit fügen sich meine Bestandteile zu dem zusammen, was ich bin, was du hier vor dir siehst.“
„Und warum darf ich dich nie von vorne sehen?“
„Abwehrmechanismus. Ich trage keine Waffen und wie du vielleicht bemerkt hast, kann ich meine Fäuste nicht zur Abwehr benutzen. Sie würden durch den Gegner gehen wie Gummi.“
„Und da gibt es keine andere Möglichkeit? Weißt du, ich rede mit anderen lieber von Angesicht zu Angesicht. Ein Rücken ist für mich immer so abweisend.“
Der Engel schwieg.
„Warum trägst du eine Maske?“, fragte Lou neugierig. Der Engel faszinierte sie.
„Nun. Früher war ich ein Mensch wie jeder andere. Doch dann hatte ich diesen schrecklichen Unfall. Mein Gesicht war entstellt. Ich selber starb.“ Traurig lies sich der Engel nieder. Lou stand zunächst etwas unbeholfen hinter ihm.
„Was ist passiert?“
„Ich werde nicht darüber sprechen. Nicht heute, nicht jetzt. Wenn du bereit bist.“ Lou nickte und setzte sich hinter ihn. Etwas unbeholfen bettete sie ihren Kopf auf den Rücken des Engels. Wieder hatte sie das Gefühl halb in eine puddingartige Masse einzutauchen. Dann schloss sie die Augen. Sie war ja so müde.





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