Schicksal

Autor: Anna :)
veröffentlicht am: 07.02.2011


Wir gingen am Rande einer Schlucht im Grand Canyon entlang. Meine Mutter schoss mit ihrer kleinen Digitalkamera eifrig Fotos, meine beiden kleinen Brüder rannten umher und kümmerten sich nicht um die steilen Abhänge, die sie jederzeit hinunterstürzten könnten. Es war auch ziemlich verantwortungslos von den Rangern, hier keine Begrenzung zu bauen, aber das war mir sowieso egal. Ich lebte seit dem Tod meiner besten Freundin Julie (etwa zwei Monate her) in meiner eigenen Traumwelt. Sie starb bei einem Unfall auf einer Reise nach Afrika. Ihre Familie erzählte mir, sie sei bei einer Wandertour auf dem Kilimandscharo ums Leben gekommen…abgestürzt.
Manchmal frage ich mich, warum es gerade sie treffen musste.
Ich fuhr mir mit der Hand durchs schwarze Haar.
„Schatz“, hörte ich meine Mutter. „Schatz, Linda, möchtest du auch mal Fotos machen?“
„Nein.“
„Möchtest du vielleicht was trink-“
„Nein.“
„Oder-“
„Nein.“
Meine Mutter wandte sich seufzend wieder ihrer Kamera zu. Ich weiß, manchmal hatte sie es schwer mit mir, aber sie wusste, wie sehr ich unter dem Tod von Julie litt.
Sie war immer so eine gute Freundin, ein Sonnenschein. Nichts vermochte ihr die gute Laune zu verderben. Wo sie war, ging die Sonne auf, und jetzt war sie tot. Mich überkam wieder die Trauer, so plötzlich wie ein Schlag ins Gesicht. Meine Sicht wurde unklar, die Tränen trübten meinen Blick und schließlich konnte ich sie nicht mehr halten. Ich begann hemmungslos zu weinen und fiel auf die Knie. Einige der Touristen schauten mich komisch an, aber keiner machte Anstalten, auf mich zuzugehen. Doch dann spürte ich eine Hand auf der Schulter. Ich erschrak und schaute auf. Doch das war gar nicht nötig, denn dieser Jemand hatte sich zu mir heruntergebeugt. Ich blickte in das mitleidige Gesicht eines Jungen, der etwa so alt aussah wie ich. >Klick<. Das war die Kamera meiner Mutter. Sie hatte wahrscheinlich gar nicht bemerkt, dass ich geweint hatte.
„Hey, was hast du?“, hörte ich die angenehme Stimme des Jungen wieder und wandte mich ihm zu. Ich schaute in sein Gesicht, und brach erneut in Tränen aus. Er sah Julie ja so ähnlich! Sie hatte genau solche großen blauen Augen und dieselbe spitze Nase. Warum musste er ihr so ähnlich sehen? „Hab ich was Falsches gesagt?“, hörte ich die Stimme wieder. Ich schaute auf und wischte mir die Tränen ab. „Nein, nein, es ist schon in Ordnung“, versicherte ich dem Jungen. Er sah genau so gut aus wie Julie es getan hatte. Mir wollten schon wieder die Tränen kommen, aber ich riss mich zusammen und zwang mich zu einem Lächeln. Es musste wohl ziemlich bescheuert ausgesehen haben, denn auf dem Gesicht des Jungen breitete sich ein Grinsen aus.
„Willst du vielleicht etwas herumlaufen?“, fragte er. „Meine Mutter ist gerade sowieso beschäftigt.“ Er zeigte mit dem Kopf auf eine braunhaarige Frau, die, wie meine Mom, eifrig Fotos schoss.
Da mir so oder so nichts Besseres einfiel, nickte ich und stand auf.
Wir liefen am steilen Rand der Schlucht entlang (oh Wunder, hier war tatsächlich ein gelbes Band gespannt), und zumindest der Junge schien den Ausblick zu genießen.
„Wie heißt du eigentlich?“, fragte er und wandte sich mir zu.
„Linda, du?“
„Ich heiße Johnny.“ Er ließ ein sympathisches Grinsen erscheinen. „Und?“, fragte er dann.
„Was und?“
„Na ja, warum hast du vorhin geweint?“ Er bemühte sich, so feinfühlig wie möglich zu klingen.
Ich winkte ab. „Nicht so wichtig.“
Doch er ließ nicht locker. „Ich möchte es aber wissen.“
Ich schaute ihm in die Augen. In Julies Augen. Dann seufzte ich und erzählte ihm von ihrem Unfall. Als ich fertig war, hatte er wieder diesen mitleidigen Blick. „Das tut mir sehr leid“, sagte er.
Ich wollte nicht länger über dieses Thema reden deswegen fragte ich ihn, warum er hier im Nationalpark war.
„Meine Mutter wollte hier unbedingt hin“, sagte er genervt. „Ich find es ja ganz schön, aber…“
„Ja das kenn ich“, fiel ich ihm ins Wort. „Ich bin auch nur wegen meiner Mutter hier.“
Er nickte und grinste. Wir gingen auf ein kleines Zeltchen zu, in dem es Getränke zu kaufen gab. Ich hatte riesigen Durst, und wollte mir gerade Wasser bestellen, als Johnny den Kopf schüttelte. „Ich bezahl das schon“, meinte er nur, und reichte mir eine Flasche Wasser. Ich nickte dankbar und leerte die gesamte 0,5 Literflasche in einem Zug.
Mir wurde schwindelig, ich hatte wohl etwas zu schnell getrunken.
Ich hielt mich am Thekenrand fest doch das half nichts. Meine Knie wurden weich und mir wurde immer dunkler vor Augen. Das letzte, was ich realisierte war, wie mich zwei Hände auffingen, als ich zu Boden fiel.

Als Linda die Augen aufschlug, merkte sie die höllischen Kopfschmerzen, die wie eine Hand ihren Kopf zu zerdrücken versuchten. Sie wollte sich gleich wieder hinlegen doch als sie direkt in Julies Gesicht blickte, war sie schlagartig hellwach. Sie wollte etwas sagen, doch ihre Stimme versagte bei Julies Anblick. Bei dem Anblick ihrer besten Freundin, die jetzt, in ein weißes Gewand gehüllt, umspielt von Licht, wie ein Engel auf sie zuschritt. Linda erhob sich, und merkte erst jetzt, dass sie keinen Boden unter den Füßen hatte. Jedenfalls glaubte sie das, denn fest zu stehen schien sie, aber unter ihren Füßen war nur weißes Licht. Als sie erneut vergeblich zu reden versuchte („Julie, wie schön dich zu sehen“), merkte sie erst, dass sie träumte. Sie konnte nicht reden, aber das musste sie nicht, denn bloß Julies Anblick ließ ihr Herz höher schlagen. Ihre beste Freundin, ihr Sonnenschein Julie. In ihrem weißen Umhang und einem sanften Lächeln auf dem Gesicht war sie schöner wie nie zuvor. Linda traute sich nicht, diesen traumhaften Moment durch eine Bewegung zu zerstören, aber sie konnte sich nicht mehr zurückhalten. Sie setzte einen Fuß nach dem anderen auf den Nicht – Boden und sah sich schon ihre beste Freundin umarmend. Sie wollte wieder etwas sagen („Ich hab dich so vermisst“), doch sie wusste, dass nichts rauskommen würde. Also ließ sie es lieber. Sie und Julie verstanden sich auch ohne Worte. Linda liefen Tränen über die Wangen. Unaufhaltsam rannen sie am Kinn herunter und fielen in das weiße Meer aus Licht und Wolken.
Sie streckte einen Arm nach Julie aus. Diese rührte sich nicht, doch ihr Gesichtsausdruck veränderte sich. Ihr Lächeln machte einem entsetzten Ausdruck Platz und in diesem Moment berührte Linda ihren Arm. Diese erschrak und wich zurück. Julie war eiskalt. Die Stelle an der sie ihre beste Freundin berührt hatte, war schneeweiß und versprühte eine unheimliche Kälte. Linda begriff, dass sie ihre Freundin lieber nicht hätte anfassen sollen. Denn nun veränderte Julie sich vollkommen. Ihr Gesicht verzog sich zu einem boshaften Grinsen und der gesamte Raum wurde pechschwarz. Linda merkte entsetzt, wie sie langsam in das teerartige schwarze Nichts hinab sank. Sie sah noch einmal wie Julie, nun vollkommen in schwarz, noch einmal wie zum Gruß den Arm hob. Dann war sie in dem schwarzen Nichts verschwunden.

„Hallo? Hallo, Linda wach auf!“
Eine Stimme. Rascheln. Ein Schatten beugte sich über sie. Ihr wurde eine Hand auf die Brust gelegt, dann eine zweite obendrauf. Plötzlich drückten diese beiden Hände ruckartig zu und Linda durchfuhr ein stechender Schmerz. Wieder drückten die Hände zu. Und wieder und wieder, bis Linda Luft in ihren Lungen spürte. Jetzt realisierte sie erst, dass sie die ganze Zeit nicht geatmet hatte. Diese plötzliche Sauerstoffzufuhr kam so überraschend, dass sie husten musste. Sie fuhr hoch, die beiden Hände, die ihr eine Herzmassage verabreicht hatten, zuckten zurück. Linda setzte sich auf und hustete. Sie hielt sich den Hals, weil sie dachte, er könnte jeden Moment zerspringen. Als sie nicht mehr so stark husten musste, klarte sich ihre Sicht auf und der weiße Schleier vor ihren Augen verschwand. Sie saß immer noch auf dem staubigen Boden des Grand Canyon und um sie herum standen aufgeregt quatschende Touristen, die sie beobachteten. Ihre Augen tränten, es war so hell, zu hell. Linda schirmte sich die Augen mit einer Hand ab, mit der anderen stützte sie sich auf den Boden. Sie lies den Blick umherschweifen – und blickte direkt in Johnnys erleichtertes Gesicht. Jetzt verstand sie erst. Er hatte ihr die Herzmassage gegeben. Er hatte ihr das Leben gerettet.
„Ich dachte schon, du wirst hier oben sterben“, hörte sie seine Stimme sagen, wie aus weiter Ferne. „Du bist einfach so umgekippt, ganz plötzlich.“
Linda hatte immer wieder nur einen Gedanken im Kopf: Johnny hatte ihr das Leben gerettet!






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