Winternachtstraum - Teil 2

Autor: Addielein
veröffentlicht am: 10.03.2011


Am Abend packe ich meine Koffer. Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, wo ich hin will. Oder wo ich hingehen kann. Doch zu reisen, ohne zu wissen wohin, steht auf meiner Liste der Dinge, die ich mal getan haben möchte und irgendwie kommt mir der Zeitpunkt passend vor.
Wahllos werfe ich irgendwelche Sachen in meinen Koffer. Am Ende weiß ich bestimmt noch nicht einmal, was ich eigentlich einpacke.
Mit einem heftigen Ruck schließe ich den Koffer und richte mich auf. Ich streiche mir meine Locken aus den Augen und fahre mir mit dem Handrücken über meine vom Schweiß feuchte Stirn.
Im Winter schwitzen – das muss man auch erstmal hinkriegen!
Ich greife nach meiner Handtasche und ziehe meinen Wollmantel an, als es an meiner Zimmertür klopft. „Addie, geht es dir gut?“ Die Tür öffnet sich langsam und Nina und Tom lächeln mich mitfühlend an.
In Ninas Hand ist eine Tasse. Ich vermute, dass sie mir heiße Milch mit Honig gemacht hat. Das trinke ich jeden Abend – ohne kann ich gar nicht mehr einschlafen.
Ich zögere eine Weile, dann beginne ich zu kichern. Es klingt fast ein bisschen irre: „Natürlich geht es mir gut. Phillip hat ja nur mit mir Schluss gemacht… Was ist schon dabei“ Ich ziehe meinen Koffer von meinem Bett.
„Was hast du vor?“ fragt Tom misstrauisch und seine sanften braunen Augen werden noch eine Spur dunkler.
„Ich verschwinde eine Weile von hier. Ich will nicht hier bleiben“
„Aber… aber… dein Studium!“ protestiert Nina, doch ich schüttele nur mit dem Kopf: „Ich habe noch eine Woche Semesterferien…“ Ich drängele mich an Nina und Tom vorbei. „Ich will ihm einfach nicht begegnen!“
„Addie, lass uns dir doch beistehen“ bietet Nina an. „Dafür sind Freunde doch da“
„Nein“ Ich schüttele erneut mit dem Kopf. „Ich muss eine Weile für mich sein“ Ich ziehe meine schwarzen Stahlkappenstiefel an und lächle meine beiden WG-Mitbewohner aufmunternd an. Als ob ich im Moment in der Position wäre, jemanden aufzumuntern…
„Ich muss das mit mir allein ausmachen“
„So ein mieses Schwein…“ zischt Tom. „Ein Wort von dir, und ich brech’ ihm die Nase, das versprech’ ich dir“
Ich lache leise und bin Tom dankbar, dass er mich zum Lachen gebracht hat. Das schafft eben auch nur mein bester Freund.
„Willst du mein Auto nehmen?“ fragt mich Nina, doch ich lehne ab. „Nein, das wird mein Uralt-Corsa schon noch schaffen“ Mein Uralt-Corsa ist wirklich schon uralt und der schwarze Lack blättert langsam an und die Schrottkiste beginnt auch schon zu rosten, doch meinen letzten Trip wird sie schon noch aushalten.
„Ich hoffe du bist dir bewusst, was du tust“ meint Nina noch und jetzt bringt auch sie mich zum lachen: „Nie! Du kennst mich doch“ Dann öffne ich die Wohnungstür und trete hinaus in die Kälte: „In ein paar Tagen bin ich wieder da. Und falls ihr Phillip seht: Brecht ihm die Nase. Und Annika gleich mit!“ Mit diesen Worten ziehe ich die Tür hinter mir zu und schleppe meinen Koffer zu meinem kleinen Auto.
Das erste, was ich mache, sobald ich sitze, ist das Radio anzuschalten. Und danach gleich die Heizung. Ich atme mehrmals tief durch und versuche nicht zu weinen. Ich drehe das Radio lauter und fahre los, während ich laut das Lied im Radio mitsinge: Your Call von Second Serenade.
Und während ich so vor mich hin singe fange ich doch an zu weinen. Ich vergieße Tränen um Phillip und um Annika – meine beste Freundin. Ehemalige beste Freundin.
Und als hätte sie es gewusst, dass ich gerade an sie denke klingelt mein Handy, das auf dem Beifahrersitz liegt.
Das Display blinkt auf und zeigt ihren Namen an. Schnell lasse ich eine Hand vom Lenkrad los und greife nach meinem Handy. Ich will Annika wegdrücken, doch ich komme mit meinem Blackberry einfach nicht klar. Also drücke ich wie wild auf dem Touchscreen Display herum, bis das blöde Ding aufhört sie klingeln. Ich werde mein Handy zurück auf den Beifahrersitz und weine weiter.
Die Schilder auf der Straße kann ich kaum lesen, weil mir meine Tränen die Sicht verschleiern. Dennoch fahre ich unbeirrt weiter – ich bin eine gute Autofahrerin – und fahre auf die Autobahn. Richtung Irgendwo. Ich weiß es nicht. Ich habe nicht darauf geachtet.

Die Sonne geht gerade unter, als ich von der Autobahn abbiege. Ich bin an der Grenze zur Schweiz und eigentlich bin ich damit fast einmal quer durch ganz Deutschland gefahren. Von Magdeburg bis an die deutsche Grenze – muss schon lange unterwegs sein. Und dennoch kommt es mir nicht so lange vor. Mein Kopf ist wie leer und die Tränen sind getrocknet. Beinahe fühle ich gar nichts mehr – aber eben nur beinahe. Meine Brust ist immer noch zusammengeschnürt, dennoch erfüllt mich eine seltsame Leere.
Und irgendwie hoffe ich, dass dieses Gefühl weg geht, je weiter ich fahre – je weiter ich mich von Magdeburg entferne. Doch auch als ich schon längst an Bern vorbeigefahren bin geht dieses Gefühl nicht weg: die Leere, der Schmerz, das Bedrückende Gefühl alles verloren zu haben.
Dennoch fahre ich weiter, tanke zwischendurch und gebe dabei 70€ aus; scheiß hohe Benzinkosten. Nun gut, ich habe mir auch noch drei Schokoriegel gekauft.
So langsam komme ich in die französischsprachige Schweiz und hoffe doch sehe, dass diese Leute dennoch Deutsch verstehen. Ich vermute mal, dass mich mein Schulfranzösisch nicht mehr sehr weit bringt.
Ich drehe das Radio lauter und mampfe den zweiten Schokoriegel. Der dritte wird sogleich danach gegessen.
Dann beginne ich im Handschuhfach zu wühlen, weil ich erstens eine Karte suche und zweitens irgendeine CD. Ich habe das Schwitzerdeutsch satt! Doch ich finde weder eine Karte, noch eine CD.
Ich krame noch ein bisschen zwischen den Fahrzeugpapieren, der Sonnenbrille, dem erste Hilfe-Kasten und den Abschminktüchern herum, bis meine Finger kühles Plastik ertasten.
Ohne vom Gas zu gehen schaue ich nach und ziehe aus dem ganzen Chaos eine alte Kassette hervor. Zuerst weiß ich nicht, was es ist. Werden Kassetten überhaupt noch verkauft? Ich glaube kaum.
Doch dann werfe einen zweiten Blick drauf: Für meine liebste Addie. Ich liebe dich, mein Schatz. Das steht auf der Hülle und es ist unverkennbar Phillips Handschrift.
Und obwohl sich alles in mit sträubt, schiebe ich die Kassette in den Recorder. Das erste Lied ist mein Lieblingslied I got you von Leona Lewis.
Sofort füllen sich meine Augen mit Tränen und verschleiern mir die Sicht. Ich gehe vom Gas runter – aber nur minimal – und haue wütend mit der Faust auf den Stoppknopf: „Du scheiß Mistkerl!“ schreie ich, ohne zu wissen, wen ich eigentlich anschreie. „Du scheiß Mistkerl“ wiederhole ich; diesmal leiser. Und dann kurz vor dem Skiort Hérémence passiert es: Die Reifen rutschen auf der glatten Straße, Tränen und Nebel verschleiern mir die Sicht. Ich stoße einen erschrockenen Schrei aus und reiße das Lenkrad rum. Ich trete wie verrückt auf die Bremse, doch mein Corsa will nicht reagieren. Wann habe ich zuletzt die Bremsen durchchecken lassen?
Ich schaue durch die Heckscheibe, als der von den Scheinwerfern beleuchtete Baum auftaucht.
Meine Stimme wird wesentlich höher als normal: „Scheiße!!!“
Dann der Aufprall. Ein lauter Knall. Etwas knallt gegen meinen Kopf – oder knallt mein Kopf gegen etwas?
Danach Stille.
Und Dunkelheit.
Stille, Dunkelheit und Leere.






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