LebensLauf - Teil 5

Autor: Sternchen
veröffentlicht am: 21.03.2011


Tja, ich konnte mich von dieser Geschichte einfach nicht trennen, dies ist sozusagen der Beginn einer Fortsetzung.
Ich habe sie angefangen, weil ich es wichtig fand, wie es mit Julia weitergeht.
Ich schreibe nur weiter, wenn es von euch erwünscht ist.




Meine Geschichte begann an einem Nachmittag im Oktober. Am dritten Januar des Folgejahres endete sie. Oder besser gesagt, hätte sie enden sollen.
Nach Mathis Tod viel ich in ein tiefes Loch. Doch mein Leben ging weiter. Zusätzlich zu meiner monatlichen Untersuchung im Krankenhaus und meinen Physiotherapien musste ich einmal aller zwei Wochen zu einer komischen Psychologin, die mir über meine Trauer hinweg helfen sollte. Aber ehrlich gesagt ging es mir nach den Sprechstunden mit Frau Dr. Jonas nicht wirklich besser, da sie mich in den Gesprächen immer wieder aufforderte, über ihn zu sprechen, was mich nur noch trauriger stimmte.
Ich konnte kaum noch essen, hatte Schlafstörungen, in der Schule war ich, wenn ich überhaupt da war, nur körperlich anwesend. Ich hatte jeglichen Kontakt zu meinem Mitmenschen, selbst zu Hannes, abgebrochen.
***
Ich schrecke aus dem Schlaf. Ich weiß nicht, was los ist, aber ich weiß, dass ich schreie. Ich kann nicht damit aufhören, bekomme Panik, muss loslaufen. Viel zu schnell stehe ich auf, kann mich kaum auf den Beinen halten. Trotzdem verlasse ich das Zimmer, doch ich bin noch nicht einmal auf der Treppe, als ich auf den Boden falle. Ich schreie immer noch, schlage um mich, obwohl ich gar nicht genau weiß, wovor ich solche Angst habe. Ich balle die Hände zu Fäusten. Die Tür, vor der ich liege, wird geöffnet. Verschlafen tritt mein Bruder heraus, er ist blass, müde und sein blau karierter Schlafanzug zerknittert.
Ich kann nicht aufhören zu schreien.
“Was ist denn los?”, fragt Justus leise. “Julia? Hörst du mich? Ich komme jetzt näher. Bleibe einfach ganz ruhig. Nicht bewegen!”
Er kommt auf mich zu. Ich schreie, obwohl ich gar nicht will.
Nun stehen auch eine Eltern auf dem Flur. Das blonde Haar meiner Mutter steht ihr kreuz und quer vom Kopf ab.
“Julia!”, ruft sie aus. “Was hast du denn?”
Justus berührt vorsichtig meine Schulter, ich wehre mich, doch er hält mich fest, bis ich irgendwann beginne, zu weinen und aufhöre zu zappeln. Er hebt mich hoch und schleppt mich zu meinem Bett.
***
In den nächsten Wochen hatte ich immer wieder Panikattacken ohne bestimmten Auslöser. Auch war mir oft sehr schlecht, ich konnte nicht zur Schule gehen und wollte am liebsten gar nichts mehr essen. Ich hatte mich selbst nicht mehr im Griff.
***
Warum, frage ich mich, warum mache ich das eigentlich alles noch? Dr. Schlegel redet auf mich ein, ich höre ihn kaum. Ich weiß, fällt mir ein, ich mache es für Mathis. Nur, weil er zu diesen Untersuchungen nach Deutschland gekommen ist musste er sterben. Das sollte nicht umsonst gewesen sein.
Ob ich Schuld habe an seinem Tod? Ich rede mir diesen Gedanken immer aus. Trotzdem bleibt ein kleiner Zweifel. Hätte ich es verhindern können? Vielleicht wäre er nicht gefahren, wenn ich ihn darum gebeten hätte… Nein, er wäre trotzdem gegangen. Ich glaube, er hatte auch Heimweh nach Kanada. Und jetzt liegt er auf einem deutschen Friedhof.
“Julia?”, fragt Dr. Schlegel. “Julia! Ist dir schwindelig? Hat dich der Belastungstest überanstrengt?”
“Was? Nein. Alles in Ordnung.”, sage ich abwesend.
“Wir sind bald fertig. Dann kann dein Vater dich abholen. Aber vorher brauche ich noch eine Blut- und eine Urinprobe. Bitteschön.”, er reicht mir einen Becher und schiebt mich zur Tür hinaus. Nachdem ich den Becher gefüllt habe, setzte ich mich auf die graue Liege und lasse mir Blut abnehmen. Das erste Röhrchen läuft voll Blut. Dunkelrot. Schon kommt das nächste an die Kanüle und dann noch eins, und noch eins…
“So. Dann machen wir Schluss für heute… Du hast ja den Termin für nächste Woche, wenn dann die Ergebnisse vorliegen. Und dann nerve ich dich im nächsten Monat nicht mehr.”
***
Exakt eine Woche später, am ersten Montag der Ferien, war ich wieder in der Klinik.
***
“So, lass uns gleich zur Sache kommen, also, mit den Blutwerten ist alles völlig in Ordnung, wie erwartet, der Belastungstest ist auch ganz gut, also eigentlich ist alles okay. Das einzige, was mir Sorgen macht, ist, dass du etwas Blut im Urin hattest. Hattest du gerade deine Regelblutung zum Zeitpunkt der Untersuchungen?”
“Nein.” Ich schüttele den Kopf.
“Dann würde ich dich zu einer Kollegin zum Ultraschall schicken. Blut im Urin muss generell nichts schlimmes heißen. Trotzdem sollte man abklären, dass das nicht von irgendeinem Problem mit den Nieren oder der Blase kommt. Du solltest dir jetzt keine Sorgen machen, normalerweise würde ich das gar nicht testen lassen, aber bei dir müssen wir eben auf Nummer sicher gehen.”, er zwinkert mir zu, um mir zu versichern, dass es auch wirklich nicht schlimm ist. Und selbst wenn ich Nierensteine hätte oder sonst was, mir doch egal.
Ich lege mich auf die Liege im Sprechzimmer einer Frau Heinze, die mit einem Ultraschallgerät auf meinem Bauch herumdrückt.
“So, hier ist die Blase. Siehst du?”, erklärt die Ärztin.
Ehrlich gesagt sehe ich gar nichts außer undefinierbarem grau-weißem Strichmustern.
“Oh, ich wusste gar nicht…”, murmelt sie auf einmal. “Wann war der erste Tag deiner letzen Regel?”
“Irgendwann im Dezember.”, antworte ich. “Ich hab’ bisschen Stress, darum ist sie wahrscheinlich ausgefallen.”
“Siehst du das hier?”, fragt sie und deutet auf etwas schwarzes auf dem Monitor. “Das ist die Fruchtblase. Und das kleine graue hier… Du bist schwanger, wusstest du das?”
“Was? Nein, das wusste ich nicht! Wie kann das überhaupt, ich meine… was mach ich denn jetzt? - Moment mal, ich KANN gar nicht schwanger sein.”
Ich bin vollkommen entsetzt. Mathis und ich, wir haben in der letzen Nacht, in der er da war miteinander geschlafen. Es hatte einfach gepasst, wir wollten es beide. Trotzdem - das kann nicht sein. Ich hatte meinen Eltern sogar ein Kondom aus der Nachttischschublade geklaut.
“Wir haben doch ein Kondom benutzt, wir haben doch verhütet.”, flüstere ich.
“Es gibt eben keine hundertprozentige Sicherheit. Ein Kondom kann einreißen, auch ohne dass man es merkt. Ich kann dir die Telefonnummern von verschiedenen Beratungsstellen geben und auch von einer Frauenärztin, wenn du nicht schon eine hast. Und du solltest vor allem mit deinen Eltern sprechen und mit deinem Freund.” Die Ärztin gibt sich verständnisvoll. Ihre Stimme klingt gedämpft in meinem Ohren, so als sei sie weit weg.
“Aber… mein Freund… ja, ich meine, ich rede mit ihm.”, Tränen laufen mir über die Wangen. Ich will ihr nicht sagen, was wirklich los ist. Dass ich mit Mathis nicht mehr reden kann. Denn das geht sie nichts an.
“Ich denke, du kannst jetzt auch gehen, du hast mit ziemlicher Sicherheit eine so genannte Marschhämaturie, ausgelöst durch körperliche Anstrengung. Das geht vorüber und ist nicht schlimm. Du musst also nicht mehr hier bleiben. Allerdings solltest du möglichst bald mit deinen Eltern sprechen, du bist schon ungefähr am Ende der zehnten Schwangerschaftswoche.”, sagt Frau Heinze ruhig. Ich wische mir die Tränen aus den Augen.
“Zehn Wochen und ein Tag.” Wie konnte das überhaupt sein, das war ein Traum, irreal.
Dann nehme ich das Faltblatt, welches sie mir reicht und den Zettel mit der Telefonnummer und Adresse der besagten Frauenärztin und verlasse das Behandlungszimmer.
“Willst du vielleicht, dass ich dir das Ultraschallbild ausdrucke?”, ruft mir die Ärztin noch vorsichtig hinterher. Aber da bin ich schon weg.
Ich habe einmal einen Film gesehen, in dem ein Mädchen meines Alters erfahren hat, dass sie schwanger ist. Sie rannte heulend quer durch die Stadt und irgendwann fand sie ihr Freund, nahm sie in den Arm und sagte, sie würden “das schon schaffen”. Nur kann ich weder rennen, auch wenn ich wollte, und der Vater des Minipünktchen in meinem Bauch … der kann mich nicht mehr umarmen.
Was soll ich denn jetzt machen? Ich bin schwanger, da ist etwas in meinem Bauch, das irgendwann groß werden könnte, lesen und schreiben lernen, selbst Kinder bekommen - aber wenn ich das Pünktchen bekäme… dann wäre es von Anfang an Halbwaise. Und noch dazu bin ich erst sechzehn. Ich kann das Kind nicht bekommen. Andererseits ist es auch SEIN Kind. Ich setze mich vor dem Krankenhaus auf eine Bank und breche in Tränen aus. Ich bin völlig verzweifelt. Ich weiß nur eins, ich will nach Hause. Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und rufe Justus an. Während die Tränen über meine Wangen laufen, bitte ich ihn mit zittriger Stimme, mich abzuholen.
Keine halbe Stunde später ist er da.
“Was ist denn passiert?”, erkundigt er sich besorgt. “Hattest du wieder eine Panikattacke oder, ist was mit deinen Muskeln?” Er hilft mir auf und ich setzte mich auf den Beifahrersitz seines alten Gebrauchtwagens. Es ist warm, die Heizung läuft.
“Nein, es ist…”, ich sehe in an. Er startet den Motor. “Ich bin schwanger.”
“Was?!”, sofort würgt er den Motor ab. “Seit wann? Von - von Mathis?”
Ich nicke.
“Und jetzt?”, fragt er leise.
“Ich weiß nicht.”, flüstere ich.
“Willst du denn das Kind behalten?”, drängt er.
“Ich weiß nicht.”






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