Die Damen von Bradshaw

Autor: LaDameParis
veröffentlicht am: 29.11.2010


Es war ein angenehmer Herbstabend, als ich die Koffer packte.
Nachdem meine Eltern bei der Überfahrt von Amerika nach England ums Leben gekommen sind, nahm mich meine Tante bei sich auf. Doch ich möchte doch sagen, dass sie nicht sonderlich gut mit mir klar kam. Sie beteuerte immer und immer wieder, was ich doch für ein ungezogenes Ding wäre. Und an meinem 17. Geburtstag, als ich endlich die süße 16 hinter mir gelassen und den Tag als stolze 17-jährige begonnen hatte, verkündete sie mir, dass sie mich auf ein Mädchenpensionat schickt. Sie könnte alles bezahlen und müsste mir gar keine Sorgen machen. „Und wenn du wieder nach Hause kommst, bist du ein hübsches, bezauberndes und wohlerzogenes Mädchen“
Bei der Betonung auf Wohlerzogen habe ich innerlich geschrieen. Doch ich sagte nichts und meine Miene blieb ausdruckslos. Was brachte es jetzt, das trotzige Mädchen zu spielen.
„Dann werden die Männer nur so Schlange stehen“ sagte Tante Mary mit einem falschen Lächeln im Gesicht und klatschte in die Hände. Doch dann senkte sie die Stimme und fügte mit ernster Miene hinzu: „Und hoffentlich treiben sie dir da auch die Flausen aus dem Kopf einmal Journalistin zu werden. Das schickt sich nicht für ein Mädchen. Wenn du gerne arbeiten möchtest, dann werde Gouvernante!“ Sie stand in meiner Zimmertür und setzte wieder ihr falsches Lächeln auf. Ich schaute sie nur an und holte das schwarze Kleid aus meinem Kleiderschrank. Das war das Letzte. Ich schloss auch die zweite, dunkelblaue Tasche und stand auf. „Wann kommt der Zug?“
Meine Tante schaute mich einen Moment verwirrt an, dann nickte sie heftig: „In einer Stunde“ Sie machte eine Pause. „Die Kutsche steht schon vor der Tür“
Ich nickte und hob meine beiden Taschen vom Boden auf, als mir Tante Mary auch schon eine abnahm. „Vergiss deinen Hut nicht“ sagte sie und ging langsam die Treppe hinunter, wo ihr unten an der Tür auch schon der Koffer vom Kutscher abgenommen wurde.
Ich nahm den kakaobraunen Hut vom Bett und schaute ein letztes Mal auf das Bild meiner Eltern, das auf dem weißen Kopfkissen lag. Ich lächelte leicht, setzte den Hut auf und ging langsam die Stufen mit meinem schweren Koffer hinunter. Auch mir wurde an der Tür sofort der Koffer abgenommen. Ich nickte dem Kutscher dann zu und setzte mich in die Kutsche gegenüber meiner Tante. „Bradshaw ist ein ganz entzückendes Mädchenpensionat, glaub mir!“ Wieder klatschte sie in die Hände. „Und du wirst sehen, sie machen selbst aus dem störrischsten Pferd eine richtige Dame“
Ich ignorierte ihre Anspielung auf mein – ach so furchtbares - Benehmen und schaute aus dem Fenster der Kutsche, die sich jetzt ratternd und wackelnd in Bewegung setzte.
„Na, wie dem auch sei“ redete meine Tante nach einer kurzen Pause weiter. „du wirst dort Kochen, Französisch, Stricken, Tanzen, Zeichnen und natürlich Benehmen erlernen. Und soweit ich weiß ist Bradshaw schon so modern, dass sie auf Uniformen verzichten. Das heißt du darfst deine eigenen Kleider anziehen“ Sie zupfte theatralisch an ihrem mintgrünem Rüschenkleid.
Deswegen hatte ich doch alle meine Kleider eingepackt, oder? Ich nickte nur und zwang mich zu einem hoffentlich schönen Lächeln.
„Du wirst doch sicherlich noch viel Spaß haben. Die Mädchen dort sind bestimmt alle reizend!“ plauderte Tante Mary weiter. „Ich weiß noch, als ich in einem Mädchenpensionat war, hatte ich gute Freundinnen. Und es hat mir auch etwas für meine Zukunft gebracht. Schau dir nur an, welch reizenden Mann ich habe“ Sie holte ihre Brieftasche hervor und zeigte mir, wie sooft ihren Mann, den ich die letzten zwei Jahre jeden Abend drei Stunden ertragen durfte.
Ich konnte wirklich nicht sagen, was an solch einem Mann reizend sein sollte. Mal davon abgesehen, dass sein Gesicht dem einer Ratte glich, war er auch kein besonders freundlicher Mensch. Meine Tante war nur für ihn da, um zu kochen, seine Wäsche zu waschen und den ganzen anderen Kram zu erledigen auf den er keine Lust hatte.
Obwohl es üblich war, und es in jedem Haushalt so zuging konnte ich mich doch nicht wirklich so recht damit anfreunden. Ich nickte wieder nur, und als meine Tante wieder zum Reden ansetzen wollte, unterbrach ich sie: „Bitte, Tante Mary, könntest du kurz einfach nur…“ Ich stockte um nach höflichen Worten zu suchen. Doch mir fiel nichts Passendes ein und so lange konnte Tante Mary nicht schweigen. „Lillian Marie Worthem, rede nicht in diesem Ton mit mir“ Ihr Gesicht lief rot an, wie sooft, wenn sie sich über mich aufregte: „Das werden sie dir dort auch noch austreiben“ murmelte sie noch aufgebracht.
Ich hörte gar nicht mehr hin, sondern schaute wieder aus dem Fenster und genoss die Ruhe, die zurzeit in der Kutsche herrschte.
Wir fuhren durch eine noble Gegend von Cornwall. Auch wenn es nur ein kleines Dorf ist, so hatten es die ganz Reichen doch geschafft sich von der restlichen Gesellschaft abzuheben und abzuschotten.
Ich merkte am Seufzen meiner Tante, dass sie nur allzu gerne zu dieser höheren Gesellschaft dazugehören würden, obwohl wir auch schon zur höheren Klasse gehörten.
Ich schenkte ihr einen kurzen Blick und sah wie sie sehnsüchtig auf die prächtigen Häuser schauten, die an den Seiten der Allee standen.
Am Ende der Allee war der einzige Bahnhof von Cornwall. Die Kutsche hielt mit einem Ruck an und wenig später wurde die Tür geöffnet. Meine Tante nahm die Hand des Kutschers an und stieg aus. Auch mir hielt der Kutscher die Hand hin, doch ich wehrte ab. Ich konnte auch ohne fremde Hilfe aus einer Kutsche aussteigen.
Er holte die Koffer von der Ablage und fragte, ob er sie noch mit an den Bahnsteig tragen solle, doch meine Tante schüttelte dankend mit dem Kopf. „Das schaffen wir auch alleine“ Sie lächelte warmherzig: „Warten Sie bitte hier. Ich bin in ¼ Stunde wieder da“
Der Kutscher nickte und ich nahm einen meiner blauen Koffer und begann die Treppen zur Eingangshalle hinaufzusteigen. Meine Tante keuchte hinter mir mit dem zweiten Koffer wie ein Walross. Ich drehte mich kurz um und sah ihre hagere Gestalt mit den roten Wangen. So schnaufend und rot wie sie aussah hätte ich beinahe lachen müssen. Doch so etwas tat noch nicht ein mal störrisches Pferd, wie ich es war.
Meine Tante ging gleich zum Schalter und stellte sich in die Schlange an, die vor dem Häuschen war. Ich schaute mich in der Bahnhofshalle um und entdeckte einen kleinen Bäckerjungen, der mir seinen Korb voll mit Gebäck durch die Halle lief und etwas verkaufen wollte. Ich holte meinen Geldbeutel aus meiner Tasche und stupste meine Tante an: „Ich gehe mir Kuchen für die Fahrt kaufen“
Meine Tante baute sich auf, bereit zum widersprechen, doch ich war schneller und war schon weg, bevor sie auch nur irgendetwas sagen konnte. Ich hatte keine Lust mir den Vortrag anzuhören, dass man von zu viel Kuchen, viel zu dick wurde.
Ich war nicht zu dick, also machte ich mir darüber keine Gedanken. Immerhin wollte ich nicht einmal so hager, wie meine Tante enden.
Ich steuerte den Bäckerjunge an und blieb dann vor ihm stehen: „Guten Tag“
Erschrocken schaute er mit seinen braunen Augen auf: „Guten Tag, die Dame“
Ich hätte beinahe laut aufgelacht, konnte mich aber noch beherrschen. „Kann ich zwei Croissants haben?“
„Aber sicher doch, die Dame“ Er lächelte und zeigte seine vergilbten Zähne. Ich zwang mich zu einem halbwegs ehrlichen Lächeln. Er packte die beiden Croissants in ein Stofftuch und reichte es mir: „Das wären dann 12 Pence“
Ich nickte und durchsuchte meinen Geldbeutel nach Kleingeld. Ich blickte kurz über die Schulter zu meiner Tante, welcher aufgeregt winkte. Schnell drückte ich dem Jungen das Geld in die Hand und eilte dann zu meiner Tante.
Ich nahm ihr schnell eine Tasche ab und sie begleitete mich noch bis zum Bahnsteig. Sie schaute auf die Uhr und seufzte: „Ich muss los, sonst wartet der Kutscher nicht und…“ Ich unterbrach sie: „Kein Problem. Geh schon“
Sie lächelte, diesmal, so glaubte ich, war das Lächeln echt. Sie drückte mich damenhaft an sich und seufzte noch einmal: „An Feiertagen kommen wir dich aber besuchen“ lächelte sie noch, bevor sie meine Hand losließ und ging. Dann drehte sie sich noch einmal um: „ In London wartet eine Kutsche auf dich und wird dich nach Bradshaw bringen. Und benimm dich Lillian!“
Mein Lächeln verschwand: „Lilli… mein Name ist Lilli“ flüsterte ich.
Ich konnte es nie leiden, wenn man Lillian zu mir sagte! Und schon gar nicht Lillian Marie!
Ich schaute meiner Tante Mary nach, bis sie in der Menge verschwand.
Auch wenn ich es nicht wahrhaben wollte, ihr unersättliches Geplapper würde mir fehlen.

Der Zug rollte mit lauten Pfeifen in den Bahnhof ein. Der Dampf zischte und die Menschenmenge trat zurück.
„Nach London! Zug nach London!“ rief der dicke Schaffner. Ich packte meine beiden Tasche und rückte den Hut gerade, als mich an die Tür stellte. Es stiegen nicht viele Leute aus. Wer will auch schon nach Cornwall?
Mit aller Kraft hievte ich meine Koffer in den Zug und ging den Gang entlang in der Hoffnung ein freies Abteil zu finden. Schließlich setzte ich mich in ein Abteil in dem ein alter, hagerer Mann mit seiner Zeitung und eine Frau mittleren Alters und blonden Locken saßen. Ich stemmte mich mit der Schulter gegen die Tür. Sie ging mit einem Quietschen auf und der Mann, sowie die Frau schauten auf. Doch keiner der beiden half mir. Es war nicht üblich, dass eine junge Dame alleine reiste.
Ich hob die Taschen seufzend auf die Ablage und setzte mich schließlich auf den Platz am Fenster. Der Mann saß mir gegenüber und schaute kurz über seine Zeitung. Ich nickte ihm höflichkeitshalber zu und holte dann mein Buch aus der Tasche und las dort weiter, wo ich aufgehört hatte.
Im Allgemeinen war das Buch nichts Besonderes. Nur eine schöne Geschichte über ein Mädchen, das allein nach Amerika gereist ist. Schon nach kurzer Zeit Fahrt meldete sich mein Magen und ich holte die Croissants aus meiner Tasche.
Ich ignorierte den missbilligenden Blick der Frau und aß weiter.
Ich fuhr zwei Stunden mit dem Zug und hatte am Ende das Buch schon fertig gelesen und konnte nur hoffen, dass Bradshaw eine Bibliothek hatte.




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