Zwischen Traum und Wirklichkeit - Teil 6

Autor: Giraffi
veröffentlicht am: 20.12.2010


Der Junge hob den Kopf und strich sich das schwarze, leicht gewellte Haar aus der Stirn. Er hatte sich über ein Blatt Papier gebeugt, wie damals am See und hatte bis vor kurzem wahrscheinlich gezeichnet.
„Kann ich dir helfen?“ fragte die Bedienung. „Geht’s dir gut?“ Diesmal war eine andere Verkäuferin, als damals, vor ein paar Tagen.
Donna schaute erschrocken auf. Sie war so verwundert, schon wieder diesen Jungen vorzufinden. Das konnte doch wirklich nicht sein. Man konnte sich ja zufällig zweimal begegnen. Aber dreimal oder gar viermal. Das war doch kein Zufall mehr!
Doch wer verfolgte hier wen?!
Schnell nickte Donna: „Ja, mir geht’s gut“ Sie warf noch einen Blick auf den Jungen, Dorian ohne Nachnamen. Doch der hatte sich längst wieder seinem Stück Papier gewidmet.
„Willst du was?“ fragte die Verkäuferin und schien langsam ungeduldig zu werden.
Donna schaute sie schnell wieder an und nickte: „Eine heiße Schokolade und ein belegtes Brötchen… zum mitnehmen, bitte“
„Alles klar“ Die Bedienung schnalzte mit ihrem Kaugummi und packte ihr das Brötchen ein, während heiße Milch in den Pappbecher floss.
Nur wenig später reichte sie Donna auch den Becher und Donna sah zu, dass sie verschwinden konnte. Sie wollte ja nicht so wirken, als würde sie Dorian wirklich verfolgen. Obwohl er das wahrscheinlich sowieso schon glaubte…
Ein weiterer Grund warum sie es so eilig hatte, war weil sie sich sicher wieder verlaufen würde auf dem Weg zur Schule.
Dass sie zu dem Bistro überhaupt gefunden hatte war ein Wunder.
Sie ging schnellen Schrittes über die wenig befahrene Straße, nippte an ihrem Kakao und zuckte zusammen, als sie sich wieder einmal die Zunge verbrannte. Das passierte ihr jedes Mal.
Als ihr Magen zu knurren begann packte sie das Brötchen aus der braunen Papiertüte und betrachtete es: ein paar Scheiben Käse, ein Salatblatt; ein normales belegtes, weißes Brötchen. Sie wollte gerade hineinreißen, als eine ihr leicht bekannte Stimme sie davon abhielt: „Hey, du – ähm… Donna! Genau! Donna, warte mal“
Wieder zuckte sie zusammen, aber dieses Mal hatte sie sich nicht an ihrem heißen Getränk verbrannt. Vor ihrem geistigen Auge zuckte noch einmal die schlimmsten Traumbilder vorbei. Doch sie ignorierte es und blieb stehen und drehte sich um: „Du weißt noch wie ich heiße?“ Das wollte sie eigentlich nicht fragen, doch es ist einfach herausgerutscht.
Dorian nickte und spielte kurz mit der Zungenspitze an dem Ring an seiner Lippe, dann meinte er: „Ich vergesse nie einen Namen“
Donna zog die Brauen hoch. Dann dürfte er seinen Nachnamen ja eigentlich auch nicht vergessen haben.
Als hätte er ihre Gedanken gelesen, fügte er hinzu: „Außer meinen Nachnamen“ Er redete leise und Donna hatte Schwierigkeiten ihn zu verstehen.
Dann schwiegen beide und standen nur so rum.
Auf dem Bürgersteig, an einer Straße, gegenüber dem Bistro, in dem sich die beiden schon zweimal über den Weg gelaufen sind.
Irgendwann brach sie das Schweigen. Sie zeigte auf das zusammengerollte Papier: „Was ist das eigentlich? Zeichnet du?“
„Du bist wirklich neugierig“ Er ging langsam los. „Wo musst du hin?“
„Zur Schule“ meinte sie und holte ihn schnell ein.
„Dann bring ich dich hin, und ich kann versuchen deine lästigen Fragen zu beantworten“ meinte er und zuckte mit den Schultern. Ein wenig Spott lag in seiner Stimme.
„Ich kann auch allein zur Schule“ erwiderte Donna.
Er schaute sie fragend an: „Ehrlich? Mir scheint, als hättest du nicht sonderlich viel Orientierung“
„Woher willst du das wissen?“ Sie blieb stehen und stemmte die Hände die Hüften.
Dorian ging unbeirrt weiter und zuckte wieder mit den Schultern: „Gefühl“
Sie ließ den Kopf hängen und holte ihn wieder ein: „Okay, du hast Recht. Ich habe eine ziemlich enorme Recht-Links-Schwäche und verlaufe mich sogar im eigenen Schulhaus. Würde die Galerie nicht nur aus einem Raum bestehen, würde ich mich sogar dort verirren“
Donna holte tief Luft, und war erstaunt über sich selbst. Sie hatte noch nie in ihrem Leben so lange mit einem Junge geredet, den sie kaum kannte. Und schon gar nicht, wenn er sie irgendwie faszinierte. Dann brachte sie meistens kein Wort heraus.
Doch bei Dorian war das irgendwie gar kein Problem. Ein bisschen unwohl war ihr schon – das heißt, sie war immer noch leicht unsicher. Aber im Vergleich zu ihren sonstigen Gefühlen war das eine Besserung.
„Also, was trägst du da mit dir rum?“ wiederholte Donna ihre Frage und schaute ihn erwartungsvoll an.
Doch er starrte nur weiter auf seine Schuhe – abgetragene, dunkelblaue Converse. Er atmete einmal tief durch, dann meinte er: „Zeichnungen. Nichts Besonderes“
„Oh“ sagte Donna.
„Ich sagte doch, nichts Besonderes“
„Doch finde ich schon. Mein Vater ist Künstler und wenn sie gut sind, dann könntest du deine Bilder vielleicht in der Galerie ausstellen“
Er zuckte daraufhin nur wieder mit den Schultern.
„Dürfte… dürfte ich die Bilder vielleicht mal sehen?“ Dieser Satz kostete Donna unglaubliche Überwindung. Ganz so locker, wie sie gerne wäre, war sie dann wohl doch nicht.
Dorian schwieg eine Weile und schaute sie nur an: „Du bist wirklich sehr, sehr, sehr neugierig“
Sie zog nur fragend weiterhin die Brauen in die Höhe und strich sich die langen Haare hinter die Ohren und pustete sich das widerspenstige Pony aus den Augen.
Nach bestimmt einigen Sekunden, schüttelte er schließlich mit dem Kopf: „Lieber nicht“
Donna lag das Warum schon auf der Zunge. Doch sie schluckte es herunter. Sie mochte es ja schließlich auch nicht, wenn man sie ausfragte und somit bedrängte.
„Darf ich dir eine Frage stellen?“ redete er zu Donnas Erstaunen weiter.
Donna nickte langsam.
„Schreibst du Tagebuch?“
Was für eine seltsame Frage! Donna schaute ihn verdutzt an. Mit solch einer Frage hatte sie wirklich nicht gerechnet. „Ja“ nickte sie schließlich.
„Dann wirst du es verstehen, dass ich dir meine Zeichnungen nicht zeigen will“ meinte er. „Das Zeichnen ist für mich, wie für dich das Tagebuch schreiben. Und du würdest doch sicherlich auch nicht wollen, dass ich dein Tagebuch lese“
Da musste sie ihm Recht geben. Im Leben nicht würde sie auch nur irgendjemanden ihr Tagebuch geben. Die Sachen, die darin standen, gingen teilweise so tief in Donnas Seele, dass noch nicht einmal sie selbst es irgendwann lesen wollte.
Sie nickte wieder: „Ja, das verstehe ich“
„Nur unwichtige Bilder zeige ich eventuell anderen“
„Und das hier ist wichtig?“ Sie zeigte auf das zusammengerollte DinA3-Blatt, was er in der Hand trug.
Dorian nickte nur.
Langsam kam das Schulhaus in Sicht und sie mussten nur noch über die Straße, als er stehen blieb: „Ab hier kommst du allein klar, oder?“
Donna nickte: „Ja, danke für’s Bringen… Ich komm mir vor wie ein kleines Kind“ Sie kicherte leise.
Dorians Mundwinkel hoben sich nicht, aber in seinen Augen lag ein Glänzen, als würde er mit den Augen lachen. „Kein Problem… Bis bald… scheinst mich ja zu verfolgen“ Er zwinkerte kurz und diese Geste, die vielleicht freundlich gemeint war, wirkte an ihm arrogant.
Er wollte sie gerade komplett abwenden, als Donna noch eine Frage stellte: „Musst du nicht auch hier zur Schule?“
Dorian drehte sich über die Schulter um und lachte leise: „Nein. Ich gehe nicht zur Schule“ Damit drehte er sich um und schlenderte die Straße hinauf.
Donna schaute ihn noch länger hinterher, bis sie sich dann leicht lächelnd anwendete.
Der Kakao war mittlerweile kalt und Hunger hatte sie auch keinen mehr.
Wie konnte ein Junge sie nur dermaßen beeindrucken? Und Donna war selten von anderen Leuten beeindruckt.
Natürlich, Oscar Wilde, Jane Austen, und Tolstoi und noch andere Schreibwunder fand sie beeindruckend, aber Leute, die so ungefähr in ihrem Alter waren, haben sie nie fasziniert.
Und schon gar nicht so, wie Dorian sie faszinierte. Das Schlimme war, sie fühlte sich auch unglaublich zu ihm hingezogen.
Mit verträumtem Blick betrat sie das Schulhaus und musste nun allein zusehen, dass sie Zimmer 33 fand. Und das war für Donna gar nicht so leicht.
In Raum 33 hatte sie jetzt Literatur. Der Kurs, der ihr an dem Montag am meisten Spaß machen würde.
Juanita und Josie haben diesen Kurs anscheinend auch belegt, denn sie waren beide anwesend.
Donna schaute durch den Raum. Manche schauten sie neugierig an, doch sie wurde nicht angesprochen.
Entschlossen ging sie zu Juanita: „Ist hier noch frei?“
Die Spanierin nickte und nahm wieder ihren Rucksack vom Stuhl: „Wo warst du in der Mittagspause? Ich wollte dich eigentlich fragen, ob du mit mir und Tim…“ Sie zeigte auf einen etwa mittelgroßen Jungen mit braunen Löckchen, welcher sich mit den zwei anderen einzigen Jungen aus dem Kurs unterhielt. „…und mir zum Bäcker möchtest. Aber irgendwie haben wir dich nicht gefunden“
Donna schüttelte schnell mit dem Kopf: „Gar kein Problem. Ich war in diesem französischen Bistro… War ganz gut“
„Allein?“ Juanita zog die Brauen prüfend nach oben.
Donna zuckte mit den Schultern: „Na ja, ich kenne ja noch nicht so viele…“
Juanita nickte: „Das nächste Mal kommst du einfach mit uns mit“
„Ja, gerne“ murmelte Donna und dachte aber schon wieder an Dorian… Ob er seinen Nachnamen wirklich vergessen hatte? Würde sie ihn wiedersehen? Na ja, wahrscheinlich schon. Irgendwie schienen sich die beiden ja gegenseitig zu verfolgen.
Erst als die Lehrerin den Klassenraum betrat, kam auch Donna mit ihren Gedanken wieder in die Wirklichkeit zurück.





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