Traum gegen Liebe

Autor: Genevieve
veröffentlicht am: 16.01.2004




Ein länglicher, schneeweißer Briefumschlag lag auf meinem Schreibtisch. Er stammte vom Institut Leipzig. Ein seltsames Gefühl berührte mich und ließ mich zögern. Ich konnte den Umschlag nicht öffnen. Das brachte ich nicht fertig und erklären konnte ich es auch nicht.


Meine Mutter kam durch die Tür herein. „Machst du ihn nicht auf ?“- „Nein.“ - „Aber bist du denn nicht neugierig zu erfahren ob sie dich angenommen haben?“ „Ich mach noch einen Spaziergang.“ Ich schnappte meinen Mantel, verabschiedete mich von meiner Mutter indem ich ihr einen Kuss auf die Stirn aufdrückte und verließ die Wohnung. Den Brief nahm ich unauffällig mit. Es war ein ungewöhnlich kühler Aprilnachmittag, der sich bereits dem Abend näherte.


Lange und ziellos fuhr ich durch die Gegend, bis ich plötzlich vor dem Haus meines Freundes anhielt. So grau wie die Außenwände angestrichen waren, stach das Haus aus der weißen Landschaft heraus. Die Terrasse leuchtete in den kalten, dunklen Abend hinein. Die weiße Tür mit den kleinen goldenen Glöckchen daran lud mich gerade zu ein. Zuerst wollte ich nicht klingeln, doch etwas in meinem Inneren zog mich hin und ich stieg tatsächlich aus dem blauen Toyota meines Vaters aus. Ich war bereits öfters unangemeldet bei Leon aufgekreuzt, als ich Probleme hatte und mit jemandem darüber reden wollte. Er hatte mir immer helfen können, sogar als es ausweglos schien, hatte er einpaar aufmunternde Worte parat wie „Kopf hoch, Süße.“ oder „Wird schon werden.“. Meist war nicht viel nötig, bis ich wieder lächeln konnte. Er hatte einen aufgeschlossenen Charakter und war Meister wenn es darum ging zu reden. Immer das richtige Wort zur richtigen Zeit. Wahrscheinlich war das einer der vieles Gründe weshalb ich unsere Beziehungnicht beenden konnte, als ich es wollte.


Die Klingel fühlte sich kalt an unter meinem Finger. Ich musste nicht lange in der Kälte warten, bis man mir die Tür öffnete. „Guten Abend, Frau Wahluri. Es tut mir leid, wenn ich Sie störe, aber ist Leon zu Hause?“ - „Du störst uns nicht wenn du hier vorbeikommst. Es schön dich zu sehen. Komm doch rein. Leon ist in seinem Zimmer und bläst Trübsal.“ - „Bläst Trübsal?“, wiederholte ich vorsichtshalber. Leons Mutter nickte lächelnd. „Aber wieso?“ Ich war einen Augenblick lang irritiert. „Ich weiß nicht. Er wollte mit uns nicht darüber reden. Aber ich habe versehentlicher weise mal ein Telefongespräch von ihm und einem seiner Freunde mitangehört. Klang so als würde das Problem sich um dich und deine Bewerbung in Leipzig drehen.“ Sie machte einen so unschuldigen und netten Eindruck. Dafür, dass sie ihrem Sohn manchmal nachspionierte, wenn er über gewisse Dinge nicht reden wollte, konnte sie gut lügen.


Langsam stieg ich die Treppe hinauf und merkte dabei wie angenehm klimatisiert und hell erleuchtet es im Inneren dieses Hauses immer war. An der ersten Tür an der rechten Seite des langen Flurs blieb ich stehen, atmete durch und klopfte daran. Das Pochen klang unheimlich laut in meinen Ohren, doch hinter der Tür schien sich nichts zu rühren. Ich probierte es noch einmal. Dieses Mal drang ein leises „Herein“ durch das massive Eichenholz. Behutsam drückte ich die Türklinke herunter und trat ein. „Hallo. Stör' ich dich?“, fragte ich vorsichtig. Leon drehte sich von seinem Schreibtisch um und schenkte mir ein warmes Lächeln. „Estelle! Nein. Setz dich doch.“ Er zog einen Stuhl an näher an seinen und gab mir zu verstehen, dass ich mich draufsetzen solle. „Was führt dich zu mir?“, fragte er und beobachtete mich mit seinen wachsamen, offenen Augen. „Hör mal“, begann ich schließlich. „Ich habe heute einen Brief bekommen. Vom Institut Leipzig.“ - „Wo ist das Problem?“ Er hörte mir aufmerksam zu, wie ich ihm versuchtezu erklären, dass ich Angst hatte es könne eine Absage sein. Dabei holte ich den schneeweißen Umschlag aus meiner Manteltasche hervor und legte ihn in Leons Hände. Von uns find ich noch nicht an zu reden. Er sah den Briefumschlag stumm an, ließ ihn durch die Finger gleiten und machte einen verständnisvollen aber einwenig nervösen Eindruck auf mich. Laut atmete er durch die Nase aus. „Das ist eine einmalige Chance für dich. Das war doch schon immer dein Traum, seit du angefangen hast zu schreiben, verdammt noch mal! Wenn sie dich dieses Jahr nicht nehmen, na und? Lass den Kopf nicht hängen. Nächstes Jahr klappt es bestimmt.“ Er stand auf und ging zum Fenster. Hinausstarrend fuhr er fort. „Ich weiß, dass du heut schreibst und ich glaube fest an dich. Ich weiß genau, dass du zur Schriftstellerin geboren bist und ich denke, nein, ich weiß, dass das Institut so eine grandiose Schreiberin nicht abweisen würde, weil sie von deinen Arbeiten profitieren konnten und sie ihnen gefallen haben. Du hast das Talent einweiblicher Stephen King zu werden!“ Ich war sprachlos über seine vielen weisen Worte, doch trotz alledem, hielt mich noch etwas zurück das Schreiben zu lesen. Leon hat mir die Augen geöffnet und mir Mut gemacht mit dem Schreiben nicht auf zu hören. Nun hatte ich keine Angst davor abgewiesen zu werden, nein, ich fürchtete mich an dem Institut angenommen zu werden. Ich erhob mich und stellte mich vor ihn ans Fenster. „Was wird aus uns wenn ich angenommen werde?“ Darauf hatte er ausnahmsweise keine Antwort. Er schwieg wie ein Grab und sah mich aus den traurigsten Augen an, die ich je gesehen habe. „Das entscheidet vieles“, sagte ich, entriss ihm den Umschlag und ging zum Schreibtisch. Aus der obersten Schublade zog ich eine Schere heraus und legte das Paper zwischen die beiden scharfen Kanten. „Nein! Nicht!“, rief er aufgeregt und stürzte mit einem Satz zu mir. „Ich könnte mir dir kommen.“ Ich ließ die Schere sinken. Ein kleiner Hoffnungsschimmer tauchte auf. „Und was geschieht mit deinem Jurastudium? Ich möchte nicht, dass du es wegen mir abbrichst.“ - „Ich kann doch auch in Leipzig zu Ende studieren. Jurastipendien gibt es wie Ratten.“ Sein Gesichtsausdruck war ernst aber bitter. „Es ist dein Traum dort zu studieren. Also, wieso solltest du ihn aufgeben für so einen Versager von Freund wie mich?“ - „Dieser Versager, wie du dich bezeichnest, ist der wichtigste Mensch in meinem Leben.“ - „Das hast du schön gesagt“, flüsterte er und küsste mich, als wäre es das letzte Mal. „Worauf wartest du noch? Mach ihn auf!“ Ich zögerte. Plötzlich stieg Aufregung in mir auf und ich wurde nervös. Meine Hände begannen zu zittern. Der Augenblick der Wahrheit was gekommen. Leon entnahm mir die Schere und legte sie auf die Arbeitsfläche seines Schreibtisches. „Mach auf. Es ist eine Zusage, Estelle“, versicherte er mir. Ich riss den Umschlag auf, nahm den Zettel heraus und las vor: „Sehr geehrte Frau bla bla. Studienbeginn bla bla kommendes Wintersemester bla bla gratulieren!“ Tatsächlich! Es war eine Zusage. Ich sah Leon glücklich an. Er grinste mich breit an. Noch nie in meinem Leben habe ich mich so gefreut und mich gleichzeitig so elend gefühlt. „Was habe ich dir gesagt? Sie können einem solchen Talent wie dir nichts abschlagen.“ Er umarmte mich fest und obwohl er mir versprach, dass er mit mir nach Leipzig ziehen würde, wusste ich er würde es nicht tun. Ich spürte seinen traurigen Gesichtsausdruck und sah seine schimmernden Augen hinter meinem Rücken. In diesem Augenblick wurde mir klar, dass man im Leben Kompromisse eingehen muss. Auch wenn man dadurch seinen größten Traum aufgeben muss.









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