In einem neuen Leben

Autor: sternschnuppe (2)
veröffentlicht am: 04.03.2010




'Hallo Kathleen. Man hat uns gesagt, dass du kommst. Komm rein.' Er tritt zur Seite, um mich einzulassen. Ich gehe in das Haus hinein und muss erst einmal stehen bleiben. Ich hatte nicht damit gerechnet, hier eine Eingangshalle vorzufinden. Denn so groß sieht das Haus von außen nicht aus. Vielleicht würde man diesen Raum auch nicht als Eingangshalle bezeichnen, aber es ist doch mindestens ein Eingangsraum. Der Marmorboden ist blitzeblank geputzt, die Wände weiß getüncht. Die Decke wird von einem Kreuzgewölbe getragen und wirkt erstaunlich hoch. An den Wänden hängen Portraits und Landschaftsbilder. Wenn ich mich nicht irre ist es Acryl oder Öl auf Leinwand. Eines der Bilder sticht mir sofort ins Auge. Es zeigt eine Klippe und das tosende Meer. Auf der Klippe ist eine einsame Gestalt zu sehen. Die Haare werden vom Wind durcheinander gewirbelt, das lange Kleid fliegt wie ein Schleier hinter ihr her. Auf dem Bild ist ein stürmischer Tag. Die Wellen lecken hoch an den Felswänden, es sieht aus als wollten sie nach der Frau greifen und sie mit sich ziehen. Im Hintergrund türmen sich die Wolken. Es scheint ein großes Unwetter aufzuziehen. In einer Ecke des Bildes kann man eine kleine Ortschaft entdecken. Die Kleider, die die Frau trägt, sehen alt und prunkvoll aus. Was macht diese Frau, oder ist es noch ein Mädchen?, an einem solchen Tag so einsam auf der Klippe. Und warum strahlt sie eine solche Traurigkeit aus? Das Gemälde berührt mich. Es ist einfach traumhaft. Ich kann mir nicht vorstellen, wer in der Lage ist, ein solches Werk zu schaffen.
Der Mann räuspert sich. 'Dieses Bild hat mein Sohn gemalt. Du wirst ihn später kennen lernen. Oh, um es nicht zu vergessen: Ich bin Vincent. Vater, Ehemann und bescheidener Herr dieses kleinen Anwesens.'
Sein Sohn hat dieses Bild gemalt?! Ich wusste, dass die Famillie, in die ich kommen würde, einen Sohn hatte. Ein Junge, oder junger Mann, der ein Jahr älter war als ich. Siebzehn. Aber ich hätte nie gedacht, dass jemand in meinem Alter ein derartiges Talent besitzen könnte. 'Das Bild ist wirklich... wirklich wunderschön.', meine Stimme ist belegt. 'Stephan hat schon als Kind sehr gerne gemalt', sagt der Vincent, 'mit der Zeit hat sich eine eindeutige malerische Begabung heraus kristallisiert. Jetzt überlegt er, ob er auf eine Kunsthochschule gehen will....'
'Natürlich muss er auf eine Kunsthochschule gehen', schießt es mir durch den Kopf, 'alles andere wäre Verschwendung!'
'...Aber genug davon. Ich zeige dir jetzt dein Zimmer. Dann kannst du in Ruhe deine Sachen auspacken und dich frisch machen. Anschließend stelle ich dir den Rest der Familie vor.' Er lächelt mir noch einmal freundlich zu, dreht sich um und geht die Marmortreppe hinauf. Einen letzten Blick auf das Bild werfend eile ich ihm nach.

Auch das obere Stockwerk ist prachtvoll. Aber nicht übertrieben, sondern schlichtweg schön. Manchmal kommt es vor, dass ein Haus mit museumsreifen Stücken zugemüllt wird, weil die Besitzer damit zeigen wollen, wie toll und großartig ihr Haus oder ihre Villa ist. Hier ist es nicht so. Es ist eher eine dezente Schönheit. Ab und zu mal ein schönes Bild an der Wand, dann und wann eine, vermutlich teure, Vase mit duftenden Blumen. Es ist erstaunlich, was das schon ausmachen kann. Wir laufen auf einem wundervoll weichen Teppich den Flur entlang. Ich zähle fünf Türen, bis der Mann, nein, bis Vincent, vor einer stehen bleibt. Das scheint mein Zimmer zu sein. Er öffnet die Tür. 'Das ist dein Zimmer. Ich hoffe, es gefällt dir.'
Ich trete ein und friere fest. Das ist kein Zimmer, das ist eine Luxuswohnung im Miniformat. Ich schließe meinen Mund, der mir unversehens aufgeklappt war. 'Das ist... das ist... unglaublich', stoße ich hervor. 'Dieses Zimmer ist das beste und schönste und größte, was mir je begegnet ist. Es ist...', ich finde keine Worte, um meinen Eindruck zu beschreiben. Fassungslos schüttle ich den Kopf. 'Es kommt bisweilen vor, dass Gäste ein wenig überrascht sind, wenn sie ihr Zimmer sehen.', Vincent wirkt eindeutig amüsiert. Wer wäre das auch nicht, wenn ein Mädchen so mir nichts dir nichts die Kontrolle über ihre Kinnlade verliert, nur weil sie ein 'etwas geräumigeres' Zimmer sieht. 'Das ist kein Zimmer', schaffe ich zu sagen, 'das ist...das ist...ach, ich weiß auch nicht was das ist. Aber ein Zimmer ist es definitiv nicht!' Vincent lacht leise. 'Wenn du meinst. In einer dreiviertel Stunde gibt es Abendbrot. Bist du bis dahin fertig?' 'Wenn ich mich von dem Schock erholt habe... Ja, das schaffe ich.' Lange brauche ich nie, um mich fertig zu machen. 'Sehr gut. Ich lasse dich dann holen.' Er geht zu Tür hinaus und schließt sie hinter sich.

Ich gehe zu dem Himmelbett hinüber und lasse mich in die weichen Kissen sinken. Jetzt habe ich Zeit, mein 'Zimmer' ausführlicher unter die Lupe zu nehmen.
An der Wand, unter dem Fenster, steht ein großer, aus dunklem Holz gefertigter Schreibtisch. Auf ihm befindet sich ein Computer, ein ziemlich neues Modell, glaube ich. An der rechten Wand neben der Tür steht ein Kleiderschrank, ein sehr großer, und ein Regal, auf dem eine Musikanlage steht. Die beiden anderen Wände sind von Bücherregalen verdeckt. Vincent muss gewusst haben, dass ich das Lesen sehr liebe. Besonders in der letzten Zeit hat das Lesen eine besondere Stellung in meinem Leben erhalten. Irgendwo hab ich mal gelesen: 'Lesen bedeutet mit offenen Augen zu träumen.' Dies kann ich nur bestätigen. Ein Buch ist eine andere Welt, in der man sich verlieren kann. Man folgt dem Schicksal der Hauptperson, leidet mit ihr, freut sich mit ihr und hat angst um sie. Es ist, als wäre man der unsichtbare Begleiter dieses Menschen oder als würde man sein Leben von oben verfolgen. Es macht mich manchmal verrückt, dass ich nicht in das Leben dieser Person eingreifen kann. Doch das ist von jemand anderem bestimmt. Vom Autor. Demjenigen, der die Person, die mir so nahe ist, manchmal leiden lässt oder sich freuen.
Ich stehe auf und gehe zum Bücherregal hinüber. Vorsichtig fahre ich mit der Hand über die Buchrücken. Ein Duft geht von ihnen aus, der mich an unsere Stadtbibliothek erinnert. Früher war ich sehr oft dort, habe mir Bücher angesehen, ausgeliehen oder einfach in ihnen herumgestöbert. Die Zeit verlor dort jegliche Bedeutung. Für mich bedeutet dieser Büchergeruch die Erinnerung an einen Zufluchtsort und vielleicht auch ein Gefühl von ... ja, von Geborgenheit.

Meine Gedanken werden von einem leichten Trappeln auf dem Flur unterbrochen. Irritiert runzle ich die Stirn. Was könnte das sein?
Ich gehe zur Tür, um nachzusehen. Kaum habe ich die Tür geöffnet, spüre ich einen Stoß und dann liege ich, einen erstickten Schrei ausstoßend, auf dem Rücken. Was war das denn? Plötzlich spüre ich etwas Nasses auf der Wange. Eine rosarote Hundezunge fährt mir übers Gesicht. Also auf diese Hundewäsche hätte ich echt verzichten können. Ich mag zwar Hunde, aber das muss ja nun wirklich nicht sein. Ich versuche, das Tier von mir runterzuschieben. Ungefähr so erflogreich, als versuchte ich, einen Berg zu bewegen. Irgendwie funktioniert das nicht so, wie ich mir das vorgestellt habe. Ich ändere meine Taktik und versuche mehr, mein Gesicht zu schützen. Aber dieser Hund muss ein wahrer Meister im Menschenüberfallen und abschlecken sein. Seine Zunge findet auf eine mir unverständliche Weise ihren Weg zwischen meinen Fingern hindurch in mein Gesicht. Also dahin, wo ich sie n i c h t haben will. Ich überlege, ob ich nach irgendjemandem rufen soll, aber die Gefahr, das Schleckorgan dieses schwarzen Fellknäuels in den Rachen geschoben zu bekommen, ist mir dann doch etwas zu hoch. Da vernehme ich auf einmal weiteres Getrappel im Flur. Und ein lautes Geschnaufe. Was soll ich jetzt machen? Rufen geht immer noch nicht, aber ich muss doch diesen potenziellen Retter irgendwie auf mich aufmerksam machen können. Mir kommt eine Idee. Ich rutsche mühsam Richtung Tür. Mann, dieser Hund ist echt schwer! Endlich, ich spüre etwas an meinem Fuß. Ich strecke mein Bein bis zum Geht-nicht-mehr und schlage meinen Fuß mit aller Macht gegen die Tür.

Autsch! Das war wohl etwas zu fest. Ich probiere es nochmal, versuche aber, meine Kraft ein wenig besser zu dosieren. Es funktioniert. Der Hund hat sich mit seiner Waschaktion jetzt bis zu meinem Ohr vorgearbeitet. Das ist echt widerlich. Hattest du schon mal eine Hundezunge im Ohr? Wenn nicht, glaub mir, das ist eine Erfahrung, auf die du getrost verzichten kannst. Das Schnaufen im Flur wird lauter. Es klingt, als ob die unbekannte Peron sich langsam meiner Tür nähert. Ich klopfe mit meinem Fuß wiederholt gegen die Tür. Die Person da draußen scheint etwas gehört zu haben, denn sie wird langsamer und hält den Atem an. Ein weiteres Klopfen meinerseits. Die Person drückt vorsichtig die Tür auf. Endlich!! 'Charlie, aus! Aus! Ich habe AUS gesagt!' Der Hund unterbricht das Abschlabbern kurz um sein Herrchen verständnislos anzusehen und ich wähne mich gerettet. Ich will aufstehen. Das hätte ich lieber nicht tun sollen. Der Hund fährt herum und stürzt sich wieder auf mich. Oh Mann, entweder dieser Hund liebt alle Menschen abgöttisch oder er lässt mir eine besondere Behandlung zuteil kommen.

Der junge Mann, dass es ein solcher ist, konnte ich in der kurzen, viel zu kurzen, Erholungspause sehen, fängt an, am Halsband des schwarzen Wirbelwindes zu ziehen. Ich unterstütze ihn so gut ich kann und drücke mit beiden Händen gegen den Bauch des Tieres. Aber dieses Tier ist verdammt widerspenstig. Ich komme langsam ins Schnaufen. Auch dem Mann ist die Anstrengung deutlich anzumerken. Mit vereinter Kraft gelingt es uns beiden, den Hund von mir runterzuziehen und zu schieben. Ich rapple mich auf, schiebe den Hund vor die Zimmertür und werfe sie mit letzter Kraft ins Schloss. Erschöpft lasse ich mich an der Tür hinuntergleiten und atme tief durch. Meine Brust hebt und senkt sich in schnellem Rythmus. Der Mann hat sich auf den Boden gesetzt. Er sieht genau so aus wie ich mich fühle. Total am Ende. Unsere Blicke begegnen sich, er verzieht leicht das Gesicht. Sollte das ein Lächeln werden? Ich muss auf einmal lachen. Wie oft passiert einem das schon? Die holde Maid wird von einem Dämon in Form eines riesigen schwarzen Hundes überfallen, ein edler Ritter eilt ihr zu Hilfe und nach kräftezehrendem und langem Kampf gewinnen der Ritter und die Maid. Nun sitzen sie vollkommen ausgepumpt auf dem Boden und sehen sich an. Man sollte vielleicht noch erwähnen, dass die beiden sich nicht kennen. Der Mann fällt in mein Lachen ein. Auch ihm muss die Verrücktheit dieser Situation aufgefallen sein. Irgendwann haben wir dann genug gelacht und ich schaffe es, mich bei meinem Retter zu bedanken. 'Danke. Ohne dich wäre ich zu Tode geschleckt worden.' Ein Grinsen huscht über sein Gesicht. Das macht ihn noch schöner. Erst jetzt bemerke ich, wie gut er überhaupt aussieht. Braune Haare, fast schwarze Augen und leicht gebräunte Haut. Das muss noch vom Sommer sein. 'Es ist mein Beruf, in Not geratene, hübsche Frauen zu retten.' Er steht auf und deutet eine leichte Verbeugung an. 'Stephan Wiesenmayer, stets zu Diensten.' Ich sehe zu ihm auf und muss leise lachen. Das ist also das geheimnisvolle Wunderkind, das so schön malen kann. Ich bin, gelinde gesagt, überrascht. Ich hätte nicht gedacht, dass der Schöpfer dieses Kunstwerks ein so attraktiver Mann ist. Die Mädchen müssen ihm in Scharen hinterlaufen. Er räuspert sich. 'Und mit wem habe ich das Vergnügen?' Oh Gott, habe ich ihn angestarrt? Na, das fängt ja gut an. 'Oh. Ähm. Ich bin Kathleen Miller. Ich wohne jetzt hier.' Die beste Vorstellung aller Zeiten. Mit diesem wunderschönen, begabten Menschen zusammen zu leben, in dessen Gegenwart ich mich wie ein Trottel aufführe. Meine Wangen glühen.

'Ich erinnere mich. Mein Vater hat mir von dir erzählt. Aber er hat nur gesagt, dass eine Kathleen Miller hier wohnen wird. Er hat nicht gesagt warum.' Stephan sieht mich erwartungsvoll an. Ich stehe auf, suche verzweifelt eine Möglichkeit, diese Frage zu umgehen. 'Ich...ähm...der Hund, Charlie...ich glaube, ich muss mal duschen gehen.' Meine Wangen müssen tomatenrot sein. Steaphan zuckt die Schultern und sieht mich nachdenklich an. 'Moment, ich kann dir das Bad zeigen.' Er wartet, während ich meine Sachen zusammensuche. Dann geht er voran und führt mich zu einer Tür, vor der er stehen bleibt. Er macht eine auffordende Handbewegung. 'Wir sehen uns später. Ach ja, in einer halben Stunde gibt es Abendessen. Schaffst du das?' 'Klar, ich brauche nicht lange. Und...danke, nochmal.' Ich lächle ihn schüchtern an. Er lächelt zurück. 'Keine Ursache. Bis gleich.'







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