Geliebtes Hochhaus

Autor: AmyLou
veröffentlicht am: 04.07.2009




Eine heftige Böe frischer Herbstluft schlug mir ins Gesicht. Es war windiger und kälter geworden die letzten Tage. Ich hab allerdings gar nichts mitbekommen und gleichzeitig eine ganze Menge. Wie mans nimmt. Ich war nicht gut drauf. Tz, nicht gut drauf. Das ich nicht lache. Beschissen gings mir. Total neben der Spur. Alles ist nur so an mir vorbei gezogen, ohne dass ich was gespürt habe. Ich war allein. Allein mit dem Schmerz. Allein mit der Trauer. Allein in meiner Welt. Eine Welt ohne Sonne, Licht und Fröhlichkeit. In meiner Welt gibt's nur Regen und Dunkelheit. Alles ist grau in grau. Eine Welt schwarz weiß. Eingeschlossen im Nichts, wie in einer dicken Wolke, die mich Tag und Nacht umgibt saß ich also die letzten Tage hier auf dem Hochhaus und hab natürlich gemerkt, dass es kälter geworden ist und das mir der Wind stärker durch die Haare weht. Nur so wirklich mitbekommen hab ich es nicht.
Das kann auch daran liegen, dass mir nie kalt war. Wenn ich hier oben über den Dächern Hamburgs saß, eingeschlossen in meiner Welt, in der Wolke hat mein Körper meine Empfindungen ausgeschaltet. Knips und ich hab nichts mehr gespürt. Nicht die Regentropfen, die mir schon nach kurzer Zeit den Rücken runter liefen und meine Jeans durchnässten. Nicht die kalten Windböen, die mir die Haare ins Gesicht wehten und nicht die vereinzelten kleinen Schneeflocken, die meinen Körper versteiften, geradezu einfroren. Aber mein Körper schaltete ab, ließ mich einfach nichts spüren. Das einzige was er tat war meine Abwehrkräfte zu stärken und mich gesund zu halten. Reichte ja auch.
Klirr. Ein heftiges Scheppern riss mich aus meinen Gedanken. Vorsichtig beugte ich mich über den Abgrund. Alles drehte sich. Erst ziemlich heftig, aber mit der Zeit ging es. Scheiß Wodka, schoss es durch den schmerzenden Kopf. Auf dem Boden, 30 Meter unter mir lagen die Scherben. Als diese Scherben noch ein Ganzes waren, machten sie mir das Leben erträglich. Doch so? Als ein Haufen? Wow, was für ein Wink des Schicksals. Bringen Scherben nicht bekanntlich Glück? Nur bei mir will das Glück auf sich warten lassen. Besser gesagt, verließ es mich die letzten Tage immer mehr.
Ich sah wieder runter auf den Scherbenhaufen. Die Kopfschmerzen wurden schlimmer. Verdammt, wo war sie? Suchend wanderten meine Hände neben und hinter mir über das nasse Dach. Mist. Da unten. Scherben. Ich stöhnte und stand auf. Oh Gott. Erdbeben. Wackelkontakt. Karussell. Drehwurm. Mist. Wo ist die Flasche? Ach ja. Unten. Runter gefallen. Ohne mich. Zersprungen in tausend kleine Splitter. Wie mein Leben. War sie überhaupt schon leer? Oh Gott. Kopfschmerzen. Kopfschmerzen. Kopfschmerzen. Ich torkelte rückwärts. Immer weiter. Bis mein Fuß ins Leere trat...
Man sagt, dass man in den letzten Sekunden sein ganzes Leben vor dem inneren Auge noch Mal vorbei ziehen sieht. Bei mir waren es die letzten Tage.
Es war wie ein furchtbares deja vu. Noch einmal musste ich meinen achtzehnten Geburtstag erleben. Noch einmal fühlen, wie es ist wenn der Junge, mit dem man zwei Jahre zusammen war einen verlässt. Der ganze Schmerz kommt zurück. Man weiß wieder, wie es ist, sich so hilflos zu fühlen. Das einzige was einem helfen kann ist der Alkohol. Noch einmal die verächtlichen Blicke der Verkäuferinnen sehen und hören wir sie hinter dem Rücken tuscheln. Gerade achtzehn geworden und schon muss der Alkohol her. Die haben ja keine Ahnung, wie es ist seine große Liebe zu verlieren. Sich nutzlos und fehl am Platz zu fühlen. Keine Perspektive für die Zukunft. Die Zukunft ein schwarzes Loch.
So gerne möchte man diesem entkommen. Doch wie? Wie, verdammt, wenn einen der Schmerz erdrückt. Wenn man nicht mehr atmen kann. Wenn man sich nicht rühren kann. Hilflos. Im Nichts. Ausgesaugt. Total schlaff. Und dann kommt etwas durch das du wieder etwas empfinden kannst. Etwas anderes als Schmerz. Wärme. Wohltuende Wärme, die durch deinen ganzen Körper schleicht. Und du bekommst gute Laune. So ein tolles Gefühl im Kopf. Alles ist so leicht. Schwerelos. Als ob man fliegen kann. Dieses Gefühl ist süchtig. Du willst es wieder und wieder. Ein bisschen Wodka, dazu dieses Freiheitsgefühl auf dem Hochhaus reichen aus. Du fühlst dich gut. Endlich ein bisschen glücklich sein. Aber das Gefühl hält nicht lange. Du brauchst es wieder. Du willst den Schmerz vergessen. Wieder glücklich sein. Du trinkst, stehst auf dem Hochhaus und es regnet. Glück. Du brauchst mehr, mehr, mehr. Und das holst du dir. Holte ich mir.
Ich brauchte es, um meinen Schmerz zu vergessen und alles andere um mich herum. Dieser Zustand war überlebenswichtig für mich. Besonders in der Schule. Wenn dein Verstand benebelt ist, lässt sich alles leichter aushalten. Alles. Das Predigen der Lehrer. Das gemecker der Mutter. Besonders die Treffen mit Jonas. Er wollte noch mal reden. Wann er seine Sachen holen kann. Und wann er mir meine am Besten vorbei bringt. Jonas, das ist mir egal. Hol was wann du willst. Lass mich in Frieden. Ich brauch meine Freiheit. Meine Freiheit auf meinem Hochhhausdach. Meine Freiheit in meiner Welt. Oh meine liebe schwarz weiß Welt. Ich erlebte die Tage nach meinem Geburtstag. Den Stress mit der Family. Streit mit meinen Freunden. Ärger in der Schule. Das einzige was mich interessierte war mein Hochhausdach. Und das Trinken. Ich erlebte noch einmal all diese dunklen Stunden, die ich dort zu brachte. Allein. Auf dem Dach. Allein mit meiner Freiheit und dem guten Gefühl im Kopf, was sich allerdings immer schlechter anfühlte. Und der Schmerz kam immer schneller wieder zurück. Aber ich hatte ein Mittel gefunden ihn zu ertränken und das tat ich. Jeden Tag aufs Neue. Ich erlebte den heutigen Tag. Saß noch mal in der Praxis. Noch mal auf dem Stuhl. Hörte noch mal den Arzt, der mit mir sprach. Ich hab ihm nicht zugehört, heute Nachmittag. Hab nur an mein Dach gedacht. Aber jetzt hörte ich ihm zu. Er redete von meinem Schmerz. Von meinem Problem mit dem Alkohol. Ich sah den Alkohol nicht als mein Problem. Ich sah ihn als Lösung für meine Probleme und als einzigen Freund, der noch zu mir hält. Der Arzt redet auch von Jonas und meinen Freunden. Sie wollen mir helfen von dem Alkohol loszukommen. Ich will nicht. Will nicht. Will nicht. Nein. Nein. Nein. So geht das nicht. Lass mich in Ruhe. Noch einmal erlebe ich, wie ich aus der Praxis laufe. Hier auf mein Dach. Ich nehme den Umweg. Erst noch am Kiosk vorbei. Dann aufs Dach. Ich mit meinen Wodka Flaschen. Die eine ist leer. Noch einmal erlebe ich, wie ich sie wütend weg schmeiße. Sie ist leer. So leer wie ich. Egal. Hab noch die zweite Flasche. Krieg sie kaum auf. Doch. Jetzt. Ganz in Gedanken bin ich. Jetzt passiert was Schreckliches. Pass auf die Flasche auf! Will ich schreien. Sie rutscht. Ich erlebe, wie die Flasche runter fällt, auf der Erde aufschlägt, in tausend Scherben zerbricht und wie ich das Gleichgewicht verliere.....
Das alles sehe ich vor mir, während ich falle. Meinem Scherbenhaufen entgegen. Meinem zerbrochenen Leben. Alles wird schwarz. Ich bin in meiner Welt. Scherben bringen doch Glück.









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