Auf und Ab

Autor: Principessa
veröffentlicht am: 23.12.2009




Zuhause liess ich mir ein Bad ein und kippte etwas von meinem Mandelöl dazu. Mit einem guten Buch, der Nagelschere und meinem durchsichtigen Nagellack stieg ich in die Wanne.
Nach einer Stunde baden, zwanzig frisch lackierten Nägeln und hundert gelesenen Seiten entstieg ich den Fluten, die mittlerweile auf ungefähr achtzehn Grad runtergekühlt waren. Jetzt hatte ich noch gut eine Stunde Zeit, um mich fertig zu machen. Zuerst natürlich das Kleid, dann den Schmuck und die Schuhe und zum Schluss die Schminke. Normalerweise schminkte ich mich nicht, aber heute war die ultimative Ausnahme. Zum Glück hatte sich Jess bereit erklärt, mir zu helfen. Bestens gelaunt stieg sie mit gerafftem Kleid unsere Treppe hoch.
'Okay, Kajal muss drauf, Wimpertusche ist Pflicht, Abdeckstift gehört so oder so dazu, Puder wäre auch nicht schlecht, Lidschatten ist immer gut und Lipgloss rundet alles ab. Wenn du willst, kann ich dir Smokey Eyes schminken.', begann sie aufzuzählen und griff zu meinen Schminksachen.
'Ach...Eigentlich lieber keine Smokey Eyes und auf Kajal verzichte ich sonst auch gerne.'Sie zog ein langes Gesicht. Aber ich war fest entschlossen, mir keine schwarze Farbe unter die Augen zu schmieren. Das schien sie einzusehen.
'Na gut, dann eben nicht.'

'Wow! Sehen wir super aus! Huiuiui! Die Jungs werden staunen!' Jess drehte sich vor dem Spiegel und warf sich selbst Kusshändchen zu. Ich verdrehte die Augen.
'Komm schon Süsse, unser Privattaxi wartet nicht ewig!'
'Kinder, die Limousine ist vorgefahren! Euer Chauffeur wartet!' rief mein Vater ungeduldig und klimperte mit den Autoschlüsseln.
'Wir kohommen!', flötete Jess und riss mich die Treppe runter.
Gar nicht so einfach, mit einem bodenlangen Kleid in ein Auto zu steigen. Ach tschuldigung, ich wollte sagen: in die Limousine!
Ich nestelte nervös an meinem Kleid. Was würde Flavio dazu sagen? Vielleicht gefiel es ihm nicht? Oder vielleicht hasste er grün? Oder...
'Cari! Die Jungs! Sie warten auf uns!!', quietschte Jess.
Tatsächlich. Und sie sahen toll aus. Und Flavio sah extra toll aus. Er trug einen schwarzen Anzug, schwarze Schuhe und an seiner linken Brust war eine rote Rose befestigt. Ich konnte die Augen gar nicht mehr von ihm lassen.
Mein Vater hielt uns die Tür auf. Umständlich stieg ich aus.
'Viel Spass! Und passt auf euch auf! Ach übrigens, deine Sachen für die Nacht liegen bereits im Klassenzimmer!', sagte mein Vater und zwinkerte mir zu.
Meine Sache für die Nacht? Ähh...Was?
'Putzelchen, wir können in unseren Klassenzimmer übernachten! Alle Klassen dürfen das! Das wird lustig!', sagte mir Jess leise ins Ohr.
Au ja! Davon war ich überzeugt!
Flavio kam auf mich zu, die Augen weit auf vor Staunen. Vor mir blieb er stehen und schaute mich einfach an. Von oben nach unten und wieder zurück.
'Wow Süsse! Du bist wunderschön! So was schönes hab ich noch nie gesehen! Du bist schöner als alle Sonnenunter- und aufgänge der Welt zusammen! Neben dir verblassen sogar die Sterne! Kleines, du bist meine absolute Traumprinzessin!'
Freudig drehte ich mich um die eigene Achse. Er hackte sich bei mir ein und führte mich, ganz der Gentleman, in den 'Ballsaal' (Hier: die Turnhalle).
Die Turnhalle wurde zur Aula hin geöffnet und bot daher viel Platz zum Tanzen. Sie wurde festlich geschmückt mit Lampions und Girlanden und an den Wänden standen Tische mit kleinen Häppchen und Leckereien. Einige Paare drehten bereits unsicher die ersten Runden auf der Tanzfläche. Die meisten jedoch standen am Buffet.
Ich grüsste hier und dort jemanden, hielt hier und dort mit einigen ein Schwätzchen. Flavio tat es mir gleich. Unsere Hände hatte sich ineinander verschränkt und jeder konnte sehen, dass wir zusammen waren. Einige grinsten, andere rissen überrascht die Auge auf und wieder andere begannen zu tuscheln. Mir war das egal. Ich schnappte mir einen kleinen Schokomuffin und knabberte daran. Eigentlich hatte ich noch gar nicht richtig Hunger.'Wollen wir tanzen?', fragte Flavio.
'Mit Vergnügen. Komm, wir bringen Schwung in die Bude!!', antwortete ich begeistert.Er führte mich auf die Tanzfläche. Langsam begannen wir uns zu wiegen. Die klassische Musik verführte zu Engtänzen. Flavio zog mich sanft an sich. Ich schlang meine Arme um seinen Hals und legte den Kopf an seine Brust. Unsere Bewegungen wurden eins, perfekt passten sie sich aneinander an. Ich hörte seinen Herzschlag und spürte seinen Atem in meinem Nacken. Die Welt, die anderen Schüler, die grinsenden Lehrer und alle anderen Gefühle ausser die Liebe, vergass ich, schloss ich aus, aus meiner Kugel, die aus Liebe und nichts als Liebe bestand. In ihr fühlte ich mich sicher und geborgen. Aufgehoben wie in einem Wattebausch, der alle Geräusche, alle Gerüche und alle sonstigen Empfindungen dämpfte und dafür Flavio ums tausendfache verstärkte. Wir tanzten und tanzten.
Als wir uns voneinander lösten, war es bereits zehn Uhr. Wir hatten zwei Stunden getanzt. Glücklich, aber absolut erschöpft, holten wir uns was zu trinken und liessen uns in die Kissen der extra zu diesem Anlass hergerichteten Kuschelecke fallen. Zwei Paare knutschten völlig vergessen. Die liessen sich nicht stören. Und wir hatten mehr Spielraum für uns. Auch Flavio schien das aufgefallen zu sein, denn er grinste mich spitzbübisch an. Und da lag ich auch schon in seinen Armen. Er küsste mich, zuerst sanft und vorsichtig, als wollte er prüfen, wie fit ich noch war und dann stürmischer, fordernder. Ich tat ihm den Gefallen nur zu gern, schlang meine Arme um seinen Hals und küsste ihn leidenschaftlich zurück. Seine Hände wanderten langsam zu meiner Hüfte, blieben dort liegen. Dann liess er plötzlich von mir ab, küsste meine Stirn, meine Wangenknochen, mein Kinn, meine Nase und meine Augenlieder. Sanft fanden seine Lippen wieder die meinen und schon entschwebten wir wieder in eine ferne Welt voller Liebe. Seine Hände streichelte meine Hüfte, meinen Bauch, fuhren langsam hoch, über meine Brust und schliesslich zu meinem Gesicht. Als er mich so berührte, lief mir ein Schauer über den Rücken und ich war sicher, dass es genau richtig war, dass er genau der Richtige war und dass ich gar nichts anderes wollte.
'Schatz, wir sind hier leider nicht alleine. Kommst du am Wochenende zu mir? Du kannst in meinem Zimmer schlafen?', flüsterte er mir ins Ohr.
Ich verstand die Anspielung nur zu gut und nickte freudig. Dann kuschelte ich mich an ihn, tastete nach seiner Hand, verschlang seine Finger mit meinen und schloss die Augen um ein wenig vor mich hin zu dösen, geborgen und gut aufgehoben bei ihm, oder besser gesagt, mit ihm in meiner Wattebausch-Liebes-Kugel.

Wir tanzten danach noch einmal und irgendwann war der Ball zu Ende. Die Schüler verteilten sich langsam in ihre Klassenzimmer und die Lehrer quatschten noch ein wenig über dies und das. Ich war irgendwie aufgekratzt. Ich hatte meinen Einschlafpunkt längst überschritten und hatte überhaupt kein Schlafbedürfnis mehr. Den anderen ging es ähnlich.
So beschlossen wir, als wir alle unsere Matten ausgerollt und uns häuslich eingerichtet hatte, Wahrheit oder Pflicht zu spielen. Alle waren begeistert. Und das im Alter von Sechzehn! Na ja, vielleicht war das ein Rückfall in der Entwicklung, ich spielte jedenfalls auch mit. Als ich an die Reihe kam, fiel Jess nichts besseres ein, als mich Flavio küssen zu lassen. Okay, von mir aus. Er grinste mir erfreut entgegen. Ich beugte mich zu ihm herunter und küsste ihn auf den Mund. Die Klasse johlte.
Irgendwann wurde aber selbst dieses Spiel langweilig und so einigten wir uns auf Gruselgeschichten. Irgendjemand begann. Ich schmiegte mich an Flavio und hörte nur mit halbem Ohr zu. Ich war damit beschäftigt, Flavios Bauch zu streicheln. Zum Glück hatten wir das Licht ausgemacht um den Effekt der Gruselgeschichten zu verstärken, so konnten wir ungestört rumschmusen. Seit kurzer Zeit überfiel mich immer, wenn er mich küsste oder berührte, eine gewaltige Sehnsucht. Eine Sehnsucht, die ich nicht kannte. Es war, als hätte ich einen schier unstillbaren Hunger. Einen Hunger nach mehr. Nach noch mehr Flavio. Das machte mir Angst und gleichzeitig fühlte es sich gut und richtig an.
Aus einem plötzlichen Gefühl heraus, beugte ich mich zu ihm und flüsterte: 'Ich liebe dich! Du bist mein ein und alles!'
'Süsse, du bist das absolut kostbarste in meinem Leben! Durch dich sehe ich die Welt in all ihren Farben. Ohne dich würde die Sonne farblos auf- und untergehen. Ohne dich wäre Lachen und Glücklichsein eine Seltenheit. Du hast mir gezeigt, wie man liebt! Durch dich wird das Leben erst lebbar! Ohne dich würde ich ein trostloses, karges Dasein führen und ich würde immer das Gefühl haben, dass mir etwas fehlt, ohne je zu wissen was genau. Ein Teil meines Ichs würde in völliger Dunkelheit liegen und niemand könnte es jemals erhellen. Niemand ausser dir! Du bist mein Stern!'
Glücklich kuschelte ich mich noch enger an ihn und liess meine Finger über seine Wirbelsäule gleiten. Ich spürte, wie er erschauderte.

Mühsam brachte ich meine Augen auseinander. Rund um mich schliefen alle. Ich hörte das gleichmässige Atmen und hier und da einen leisen Schnarcher. Keine Ahnung mehr, wie ich in meinen Schlafsack gekommen war, aber ich nahm an, dass mich Flavio hierher getragen hatte. In der Dunkelheit konnte ich nur Konturen erkennen, aber das reichte, um ein paar Schlafsäcke weiter Jess und Leo beim knutschen zuzusehen. Ich schmunzelte. Auch wenn es jetzt fast so aussah, weiter als so würde Jess nie gehen. Jedenfalls nicht im nächsten halben Jahr. Ich auch nicht. Neben mir atmete Flavio ruhig und gleichmässig. Ich rutschte etwas näher zu ihm und legte den Arm um ihn. Verschlafen schlug er die Augen auf.'Hey Süsse!', nuschelte er und zog mich an sich.
Er küsste mich kurz und legte sich wieder hin. Ich legte den Kopf an seine Schulter und schloss noch einmal die Augen. Es wurde bereits hell.

'Na? Gut geschlafen?', fragte Elena mit einem bedeutungsvollen Blick auf Flavio, der immer noch seinen Arm um mich gelegt hatte.
Ich lachte.
'Ausgezeichnet! Aber nicht so, wie du denkst!'
'So? Wie denk ich den?' Schnell verschwand sie in der Toilette, bevor ich ihr das Kissen an den Kopf werfen konnte.
Flavio hatte sich aufgesetzt und mir von hinten die Arme um die Hüfte gelegt. Ich drehte den Kopf nach hinten, um ihm in die Augen schauen zu können. Sein Blick ruhte zärtlich auf mir. Langsam näherte sich sein Gesicht. Ich schloss die Augen und wartete. Seine weichen Lippen trafen auf meine, seine Zunge drückte meinen Mund auseinander und erforschte die meine. Ich legte ihm von vorne die Arme um den Hals und drehte den Kopf noch ein wenig mehr zu ihm. Wie küssten uns gemächlich, langsam. Keiner von uns war auf Geschwindigkeit aus. Wir genossen ganz einfach den Geschmack des anderen, sogen ihn in uns auf.
Ich hatte furchtbaren Muskelkater. Meine Oberschenkel schmerzten so, dass ich kaum noch Treppen steigen konnte. Das kam vom vielen Tanzen. Flavio ging es ähnlich. Er sagte allerdings, das läge daran, dass er mich in den Schlafsack hatte tragen müssen. Doch während er mir das vorwarf, umspielte ein schelmisches Lächeln seine Lippen.
Totmüde aber glücklich, stieg ich mit Jess in den Bus nach Hause. Die Leute schauten uns amüsiert an, wir sahen auch wirklich aus, als würden wir von einer Faschingsparty kommen. Unterwegs döste ich kurz weg und wurde durch den Lautsprecher wieder geweckt. Jess gähnte mir einen Abschied ins Ohr und torkelte die Strasse runter. Ich lud mir ächzend meine Tasche auf die Schulter und stieg mühsam die Treppe hoch. Die Haustür war verschlossen. Ich kramte nach dem Schlüssel, den ich irgendwo in meiner Tasche gesehen hatte. Kaum war ich drinnen, schmiss ich die Tasche auf den Boden, schleuderte die Ballerinas von den Füssen, zwängte mich aus dem Kleid und warf mich in Unterwäsche auf die Couch. Das Letzte, das ich sah, war mein Hund der sich zu meinen Füssen hinlegte, dann war ich für die nächsten fünf Stunden weg.

Als ich aufwachte, roch es in der ganzen Wohnung nach Pfannkuchen. Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen und bewegte meine steifen Glieder.
'Morgen, du Schlafmütze!', begrüsste mich mein kleiner Bruder und spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht.
Wie liebenswürdig!
Ich warf einen Blick auf die Uhr. Oh Gott! Bereits sechs Uhr! Hatte ich echt so lange gepennt?!
'Hallo Schatz! Und, wie war's?', fragte meine Mutter.
'Ganz toll!', gähnte ich.
'Wer ist denn der Junge, der dich begleitet hat?'
'Das ist...', Wahrheit oder Unwahrheit, das ist hier die Frage, '...mein Freund' Uff! Jetzt war es draussen!
'Dein...Freund?'
'Genau! Mein Freund!'
Meine Mutter wandte sich wieder ihren Pfannkuchen zu und schien darüber nachzudenken, dass ihre kleine Schnurzel-Purzel-Tochter einen Freund hatte.
Als mein Vater nach Hause kam, sprang mein Bruder ihm entgegen.
'Papa, Carina hat einen Freund! Carina hat einen Freund!', schrie er und warf mir einen schadenfreudigen Blick zu, als mein Vater erschrocken nach Luft schnappte.
'Ist das wahr Carina?'
'Na ja...Weisst du...', druckste ich herum, so ein Mist! Was sollte ich jetzt sagen!? 'Ja, ich habe einen Freund!' Puh, jetzt war es draussen.
'Schön. Was gibt's zum Abendessen?'
Wie bitte? Das war alles? Ich hatte ihm gerade eröffnet, dass ich einen Freund, hallo! einen Freund!, hatte und er wollte wissen, was es zu Essen gab!? Nicht mal seinen Namen? Oder sonst irgendetwas über ihn!? Ich könnte schwanger sein oder HIV-Positiv oder entjungfert oder vergewaltigt oder... Ja was könnte ich noch sein? Na ja, egal. Pfannkuchen, ich komme!







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