Auf und Ab

Autor: Principessa
veröffentlicht am: 19.07.2009




Als Flavio nach der Schule mit mir reden wollte, blockte ich ihn ab. Ich müsse ganz dringend nach Hause. Ich hatte mich entschieden. Ich würde mich von all denen, die mir am liebsten waren, abwenden. Dann konnte Lucian ihnen nichts mehr tun. Es war die beste Lösung. Nie verschwendete ich auch nur einen Gedanken daran, dass ich mir mit meiner Entscheidung am meisten schaden würde. Wie sollte ich leben ohne Jess, Annik, Noemi und Flavio? Die Frage stellte ich mir gar nicht erst.

Ich hielt meinen Plan eisern durch. Nach drei Tagen hatte ich sie soweit, dass sie mir nur noch traurige Blicke zuwarfen, mich aber nicht mehr ansprachen. Einzig Jess blieb hartnäckig. Und Flavio unterstützte sie. Mir schien, als hätten sie sich gegen mich zusammen gerauft. Sie lauerten mir nach der Schule auf, sprachen auf mich ein und warfen mit allerlei Problemlösemöglichkeiten, die nichts mit meinem wirklichen Problem zu tun hatten, um sich.Ich stand auch diese Schwierigkeit durch und glaubte bereits, Lucian geschlagen zu haben, bis zu dem Tag vor dem Frühlingsball. Wir hatten Zeichnen. Allein schlurfte ich ins Zeichnungszimmer, setzte mich auf einen Platz ausserhalb der anderen und beschäftigte mich mit meinen Grübeleien. Frau Geize trug uns eine bescheuerte Aufgabe auf und liess uns alleine, da sie ein Gespräch mit einem Neuntklässer führen musste. Ich zeichnete völlig versunken vor mich hin, als mich plötzlich ein Papierkügelchen am Kopf traf. Ich sah nicht einmal auf.
Da rief Lucian: 'Seht sie euch an, eure ach so tolle Carina! Sie ist zum Aussenseiter geworden! Armselig!'
'Halt die Klappe!', rief Noemi und bereute es im nächsten Augenblick, als Lucian ihre Zeichnung zerriss. Demütig senkte sie den Kopf. Ich war erstaunt. Sogar die sonst so furchtlose Noemi hatte Angst. Annik machte sich möglichst klein auf ihrem Stuhl. Lucian hatte sich vor mir aufgebaut und zwang mich, ihn anzusehen. Ich warf ihm einen kalten Blick zu und schaute wieder auf mein Pult. Da packte er mich an den Haaren und riss meinen Kopf nach hinten. Niemand sagte etwas. Im Zimmer war es totenstill. Ich konnte durch die geschlossenen Fenster die Vögel zwitschern hören, so still war es.
'Lucian.', kam es leise und scharf vom anderen Ende des Zimmers. Jess war aufgestanden und mass Lucian mit vernichtenden Blicken. Ich sah ihre geballten Fäuste, sie zitterten. Ihr Ton jagte mir einen Schauer über den Rücken. Lucian anscheinend auch. Seine Hand krallte sich fester in meine Haare. Ich biss die Zähne zusammen, um nicht zu schreien.'Lass sie los. Sofort.', sagte sie genau gleich leise und scharf.
Tatsächlich lockerte sich sein Griff. Da sprang Mirko auf und schubste Jess an ihren Platz. Lucian schien sich wieder an mich zu erinnern, er drehte sich zu mir und zog meinen Kopf noch ein wenig mehr nach hinten.
Und plötzlich spürte ich nichts mehr. Seine Hand war weg. Erstaunt sah ich auf. Flavio hatte Lucian zu Boden geworfen und hielt ihn in Schach. Seine Gesichtszüge waren verzerrt vor Wut. Mirko und Moritz stürzten sich auf ihn und überwältigten ihn. Leo kam ihm zu Hilfe. Zwei gegen drei versuchten sie verzweifelt ihre Stellung zu verteidigen. Mirko schaffte Leo aus dem Verkehr. Wimmernd lag er auf dem Bauch.
Kurz darauf war auch Flavio fällig. Er lag auf der Seite, die Hände schützend vor den Bauch gelegt. Sie traten ihn in seine Weichteile. Sein Schrei ging mir durch Mark und Bein. Lucian trat ihm aufs Gesicht. Seine Nase begann zu bluten. Er kugelte sich zusammen wie ein kleines Baby und versuchte soviel wie möglich zu verbergen. Mir wurde schwindlig. Und dann stieg eine unbeschreibliche Wut in mir hoch. So sprang niemand mit Flavio um! Ich dachte an Jess, die mich bis jetzt nicht aufgegeben hatte und immer noch alles für mich riskierte. Ihr zuliebe, Flavio zuliebe! Mit diesem Gedanken stand ich entschlossen auf und schrie gegen den Kampflärm an. Langsam wurde es leiser, bis alle drei zu mir aufsahen. Stockend begann ich zu reden.
'Lucian hör auf! Das hat doch keinen Sinn! Was bringt es dir, Flavio und Leo zu verprügeln, wenn du es auf mich abgesehen hast? Deine Prügeleien bringen dir sowieso nichts. Nur Ärger. Irgendeinmal kriegst du Probleme mit dem Schulleiter. Lucian, Moritz, Mirko, denkt nach. Denkt an eure Zukunft! Wenn ihr euch jetzt stellt, wenn ihr jetzt für euren Fehler gerade steht, dann habt ihr noch eine Chance, euer Zukunft zu retten! Bitte, macht jetzt keine Scherereien! Setzt euch, bleibt sitzen und zeigt endlich Reue. Alles andere hat keinen Sinn! Ihr macht euch kaputt!' Gegen den Schluss war meine Rede immer leidenschaftlicher geworden. Vielleicht verstanden sie mich?
Lucian legte den Kopf schief und schien nachzudenken. Dann nickte er langsam und bedächtig und ging schweren Schrittes an seinen Platz. Mirko und Moritz taten es ihm gleich. Ich seufzte erleichtert auf.
Annik, Noemi und Leo waren aufgestanden und behielten die drei Übeltäter im Auge. Ich kniete mich neben Flavio und strich ihm sanft übers Gesicht. Er lächelte. Dann erhob er sich schwerfällig und humpelte zu seinem Platz.
'Alles in Ordnung?', fragte ich leise. Er nickte.
'Nicht mehr so schlimm! Was du da eben geleistet hat, ist absolut rekordverdächtig! Aber etwas wüsste ich gerne: Warum hatte es Lucian so auf dich abgesehen?'
'Ich...Ich kann es dir nicht sagen!' Immer noch sass mir die Angst im Nacken.
'Warum nicht? Vertraust du mir nicht? Ich würde nie wollen, dass dir etwas geschieht! Carina bitte, ich liebe dich!'
Überrascht schaute ich ihn an. Wollte er mich verarschen? Doch seine grünen Augen funkelten mich ernst und gleichzeitig leidenschaftlich an.
Ich blieb ihm die Antwort schuldig und strich ihm stattdessen über die Haare. Er nahm meine Hand, führte sie an seinen Mund und hauchte mir einen Kuss auf die Innenfläche. Ich lächelte glücklich. Doch statt mir Zeit zu lassen, mich an den Gedanken, vom schönsten Jungen der Welt geliebt zu werden, zu gewöhnen, nahm er mein Gesicht in seine Hände und küsste mich zärtlich. Ich erwiderte den leichten Druck seiner weichen Lippen. Soviel Liebe! Die Tränen schossen mir in die Augen. Dann presste ich mich an seine Brust und begann zu schluchzen. Und erzählte ihm alles.

Als ich geendet hatte, blieb ich an seiner Brust liegen, hörte sein Herz schlagen und spürte, wie sich sein Brustkorb unter den gleichmässigen Atemzüge hob und senkte. Er schien zu überlegen.
'Also erstens: Gut, dass dus mir erzählt hast! Zweitens: wir gehen jetzt gleich zu Frau Geize und melden den Vorfall, dann wünschen wir ein Gespräch mit Herrn Gferrmeister und ihm berichten wir alles bis ins Detail. Er wird es dem Schulleiter melden. Keine Angst, ich lasse dich nicht alleine! Nie mehr! Alles wird gut!'
Ich begann schon wieder zu schluchzen, diesmal vor Erleichterung. Der Alptraum war vorbei!

Die drei wurden noch am selben Tag vor den Direktor geholt und bekamen eine Verwarnung, eine saftige Strafe und mussten mit den Eltern zu einem ernsthaften Gespräch antraben. Ich hätte mich freuen sollen, aber ich war einfach nur müde. Unendlich müde.
Jess hatte mich nach meiner Geschichte nur wortlos umarmt und mich hin und her gewiegt wie ein kleines Kind. Natürlich würde ich wieder etwas Zeit brauchen, um meinem Alltag normal nachzugehen aber ich vertraute fest darauf, dass mir das mit Hilfe von Flavio, Jess, Annik und Noemi schnell gelingen würde. Jetzt freute ich mich erst mal auf den Ball. Und auf Flavio, der draussen auf mich wartete. Ich rannte aus dem Schulhaus. Da stand er, lässig an eine Säule gelehnt. Ich warf mich ihm um den Hals. Er lachte und küsste mich sanft auf den Mund.
'Komm Süsse, wir gehen zu mir.', sagte er. Heute war mein freier Nachmittag und ich hatte meinen Eltern gesagt, dass ich ihn bei Flavio verbringen würde.
Hand in Hand schlenderten wir zur Bushaltestellen. Die ganze Busfahrt hatte er seine Hand auf meinem Bauch und streichelte unaufhörlich auf und ab. Ich kraulte ihm den Nacken. Seine warmen Lippen suchten mein Ohr. Sanft küsste er mein Ohrläppchen, rutschte weiter meinen Hals herunter und küsste mich schliesslich spielerisch auf den Mund. Wir kicherten. Eine ältere Dame, die uns gegenüber sass, schaute uns pikiert an, sagte aber nichts und als ich Flavio auf die Nase küsste, schmunzelte sie.
Bei ihm zuhause warf ich mich auf sein Bett und klopfte einladend neben mich. Grinsend folgte er meiner Aufforderung. Wir schmusten wieder und blödelten rum, bis er direkt vor mir sass. Er legte seine Hände an meine Hüfte. Sein Gesicht näherte sich meinem und irgendein Gefühl sagte mir, dass dieser Kuss nicht wie alle andern sein würde. Bis jetzt hatten wir uns immer nur auf die Lippen geküsst, nicht mehr.
Zart legte er seinen Mund auf meinen und küsste mich. Und dann wurden seine Lippen drängender, fordernder. Ich spürte seine Zungenspitze über meinen geschlossenen Mund gleiten. Mein Herz klopfte wie wild als ich langsam meine Lippen öffnete. Sanft und vorsichtig, als wollte er mich nicht überfordern, drang seine Zunge in meinen Mund. Ich überliess mich ganz seiner Führung und genoss die unendliche Zärtlichkeit.
Auch der schönste Kuss endete irgendwann einmal und so löste er sich langsam von mir, entwirrte unsere Zungen und schaute mich liebevoll an. Doch er hatte mein Verlangen erst geweckt und so legte ich meine Arme um seinen Nacken, zog ihn zu mir herunter und küsste ihn so, wie er vorher mich.

Ächzend trug ich den Stuhlstapel die Treppe hoch. Warum mussten ausgerechnet die Terzia-Schüler den Ball vorbereiten? Die Stuhlbeine schlugen mir immer wieder gegen die Schienbeine und machten ein normales Hochkommen fast unmöglich. Plötzlich spürte ich, wie ich irgendwo hängen blieb.
'Mist!', schimpfte ich.
Die Stühle rutschten mir aus der Hand und die Treppe runter. Ich stolperte und schlug mir das Knie.
'He! Willst du mich umbringen?', drang eine amüsierte Stimme die Treppe hoch.Flavio kletterte über die Stühle und setzte sich neben mich. Ich rieb mir das schmerzende Knie.
'Hast du dich verletzt?', fragte er besorgt.
'Nicht schlimm.', presste ich hervor.
Er beugte sich über mein Knie und hauchte einen Kuss auf die schmerzende Stelle. Augenblicklich fühlte ich mich besser. Er hob den Kopf, grinste mich schelmisch an und verschloss meine Lippen mit einem leidenschaftlichen Kuss. Ich wuschelte durch seine Haare und erwiderte gleichzeitig den Kuss.
'Ähm...', Herr Gferrmeister räusperte sich vernehmlich, 'Darf ich kurz stören? Ihr wärt jetzt entlassen, den Rest machen die Siebtklässler.' Er stand unten am Treppenabsatz und musterte uns kritisch. Wir fuhren auseinander. Ich wurde rot und auch Flavio hatte leicht gerötete Wangen. Herr Gferrmeister grinste und drehte sich um.
'Ups.', sagte ich tonlos.
'Grosses Ups.', korrigierte mich Flavio.
Anstelle einer Antwort gab ich ihm einen kurzem Kuss, nahm ihn an der Hand und führte ihn nach draussen.
Er verabschiedete sich mit einem langen, intensiven Kuss.
'Bis heute Abend! Ich freu mich auf dich Kleines!', hauchte er mir zärtlich ins Ohr.Ich stieg in den Bus und winkte ihm nach. Seit heute Morgen war die ganze Welt in ein goldenes Licht getaucht und das lag nur zum Teil an Flavio. Der Frühling war da. Unverkennbar. Ich lehnte den Kopf gegen die kühle Scheibe und liess die Welt an mir vorbei rauschen.







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