Auf und Ab

Autor: Principessa
veröffentlicht am: 07.06.2009




Irgendwie schien ich sie eingeschüchtert zu haben, jedenfalls blieben sie stehen und Jess rettete sich hinter Leo.
'Noch so eine Tussi, die glaubt, wir hätten Angst vor ihr! Los Jungs, mal sehen, ob sie in ein paar Minuten immer noch so denkt!'
Au Backe! Jetzt wurde es heiss! Hilflos sah ich mich um und diese Psychos kamen immer näher.'Da hab ich auch noch ein Wörtchen mitzureden! Carina lasst ihr mir schön in Ruhe.', mischte sich Flavio ein.Ach ich hätte ihn knutschen können! Ich stutzte. Das war ja wohl die Höhe! Mit eingezogenen Schwänzen huschten die drei davon! War Flavio wirklich so viel gefährlicher als ich? Das musste unbedingt ausgeglichen werden!
'Danke!', flüsterte ich ihm ins Ohr.
'Für süsse Mädchen tu ich alles!', grinste er.
Ach je, wie süss! Ich wurde rot, glaubte ich jedenfalls. Verlegen betrachtete ich den Boden. War mir bis jetzt noch gar nie aufgefallen, dass der ein so interessantes Muster hatte. ich musste ihm unbedingt mal mehr Zeit widmen! Vielleicht Mittwoch Nachmittag?
'Carina?'
'Ja? Hast du was gesagt? Tschuldigung, ich hab gerade...', den Boden studiert konnte ich ja nicht sagen, 'An den Ball gedacht!' Ach was war ich doch genial!
'Wegen dem hab ich dich eigentlich gefragt!' Okay, ich war doch nicht so genial.
'Ich wollte dich fragen ob...ob du vielleicht mit mir...na ja, ob du mit mir an den Ballgehen willst?'
Ob ich mit ihm an den Ball gehen will? Hatte er mich das jetzt ganz im Ernst gefragt? Ob ich mit ihm zum Ball gehen will?
'Ja klar! Ich kann mir nichts schöneres vorstellen, als mit dir an den Ball zu gehen! Echt!', rief ich begeistert.'Super! Ich freu mich! Bis die Tage!'
Ich sah ihm nach. Er war so wunderbar. Ich hatte noch nie vergleichsmässig starke Gefühle für jemanden gehabt. Mein Leben hatte sich komplett verändert, seit ich ihn kannte. Alles fiel mir leicht, ich fühlte mich so selbstbewusst wie noch nie und gleichzeitig kam ich mir doch so verletzlich vor. Wenn er etwas falsches sagte oder mit einem anderen Mädchen lachte, brach meine Welt in tausend Stücke, die mir schmerzlich ins Herz schnitten. Im Gegensatz konnte mich ein Lächeln von ihm zu Höchstformen auflaufen lassen. Ein Tag, an dem ich ihn nicht sah, war ein verlorener Tag. Armes Wochenende. Aber es war wirklich so. Vor den Wochenenden oder den Ferien grauste mir. Jedenfalls anfangs. Und ich freute mich das erste Mal seit dem ersten Schultag auf die Schule. Und jetzt würde ich mit ihm, meiner Kraftquelle und meinem Leben, zum Ball gehen!'Jess!', kreischte ich.
'Jess! Flavio hat mich gefragt, ob ich mit ihm zum Ball gehe! Jess!'
'Carina, Leo hat mich auch gefragt! Er hat mich wirklich gefragt!', kreischend hüpfte sie auf mich zu.Zusammen tanzten wir durchs Klassenzimmer.
'Du sag mal, was ziehen wir eigentlich an? Hast du zufälligerweise ein Abendkleidergeschäft zuhause?', fragte ich.
'Nee, aber eine Verwandte von mir hat eins. In der Hohlgasse. Da bekommen wir auch noch Vergünstigung. Wann wollen wir hin? Morgen? Da haben wir einen freien Nachmittag.'
'In Ordnung. Morgen um Zwei.', stimmte ich zu, 'Ach du Scheisse! Schon halb Eins! Meine Eltern bringen mich um!'
Wir rannten durch den Regen, ungeachtet der grossen Pfützen, die dazu zu existieren schienen, um mir meine Hose zu versauen.

Als ich nachmittags von der Schule kam, regnete es immer noch. Ich hasste Regen. Eigentlich. Heute war er mir egal. Heute hätte es mich einschneien können, es wäre mir egal gewesen. Alles was zählte war, dass ich mit Flavio zum Ball ging.
Zuhause stopfte ich meine Turnschuhe mit Zeitungspapier aus und stellte sie unter die Heizung. Meine nassen Kleider steckte ich in die Waschmaschine, schüttete etwas Pulver dazu und liess sie einmal durchlaufen. Die Schultasche hatte auch gelitten, das heisst, vor allem das Schulmaterial. Meine Hefte legte ich auch auf die Heizung.
Dann rubbelte ich mir die Haare trocken und schlüpfte in meinen Trainer. Aufgaben hatte ich zum Glück schon alle gemacht. Ich wollte mich gerade mit einer Tasse Kakao und einem Stück Schokoladentorte (Keine Ahnung wo die herkam, aber es war mir auch egal, solange ich sie essen durfte) dem Fernsehprogramm widmen, als mein Handy vibrierte. Sms. Ich quälte mich aus den Kissen und schlurfte in mein Zimmer. Ich hatte gleich drei neue Nachrichten. Die erste war von Jess. Sie erklärte mir die ungefähren Kosten für die Abendkleider. Okay, das hielt sich noch im Rahmen. Mal schauen, wie viel meine Eltern zu zahlen bereit waren.
Die zweite kam von Flavio! Er sagte mir, dass er sich wahnsinnig freue, mit mir an den Ball zu gehen und dass er sich Mühe geben werde beim Tanzen. Ich schmunzelte und schrieb ihm zurück, dass, wenn nötig, ich führen werde.
Die dritte war von Lucian. Ich runzelte die Stirn. Keine Ahnung, was ich davon halten sollte.Hey carina! ich warne dich, halt dich aus unseren angelegenheiten raus! heute hast du glück gehabt. aber flavio wird nicht immer da sein. noch einmal und du bist dran. ich sag's dir nur dieses eine mal! jess und flavio sind dir doch wichtig oder? dann pass auf!

Ich war geschockt. Wollte der mir tatsächlich drohen? Panik breitete sich in mir aus. Mein Gott, die würden Ernst machen! So was Hinterhältiges, die wussten genau, wie sie mich ködern konnten. Jess und Flavio! Ich wurde wütend. Zurückschreiben würde ich ihm ganz bestimmt nicht! Ich drückte auf `Löschen` und besann mich im letzten Moment. Besser ich behielt die Sms noch. Als Beweismittel.
Die Lust auf 'Gute Zeiten, schlechte Zeiten' war mir gehörig vergangen. Also beschloss ich, mich wieder einmal im Haushalt zu betätigen. Ausserdem brauchte ich noch ein paar Pluspunkte bei meinen Eltern, damit nicht mein ganzes Taschengeld für das Abendkleid draufging. Ich band mir eine Schürze um, kramte im Kochbuch nach meinem Spezialrezept und begann zu kochen.

Den nächsten Morgen verbrachte ich wie in Trance. Jess hackte mehrmals nach dem Grund meiner Besorgnis, aber ich hielt den Mund. Ich würde sie ganz bestimmt nicht mit reinziehen.
Wie in Trance schrieb ich Formeln auf, wie in Trance konjugierte ich französische Verben, wie in Trance bestimmte ich Subjektive und Objektive. Wie in Trance liess ich Lucians Sticheleien über mich ergehen, wie in Trance nahm ich wahr, dass Flavio ihn zurechtwies, wie in Trance lief ich nach Hause. Jess war verzweifelt, das merkte ich selbst in meinem trancenähnlichen Zustand.
'Tschüss! Bis um Zwei!', verabschiedete ich sie.
Sie atmete erleichtert auf, als sie hörte, dass ich wieder sprach.
'Bis um Zwei! Ich freu mich!'

Punkt Zwei Uhr stand ich an der Bushaltestelle und zählte die Tropfen an den Scheiben des Wartehäuschens. Sie verliefen nie so, wie man es vorausgedacht hatte. Ihre Bahn wurde immer wieder durch unsichtbare Hindernisse abgelenkt.
'Buh!' Jemand hatte sich von hinten an mich rangeschlichen und mir die Hände auf die Augen gelegt.Jess lachte. Ich lächelte müde. Zum Glück kam gerade der Bus, sonst hätte sie vielleicht weiter gebohrt. Unterwegs in die Stadt erzählte sie mir irgendwelche Alpträume, die sie letzte Nacht gehabt hatte. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu.
Als wir die Hohlgasse endlich gefunden hatten, fiel kein Wasser mehr vom Himmel. Das erste Mal seit zwei Tagen hatte es aufgehört zu regnen.
Jess zog einen Flunsch. Sie sagte, sie wäre so gerne noch einmal durch den Regen getanzt.
Wir stiessen die schwere Tür zum Geschäft auf. 'Bellissimo' hiess es.
Drinnen schlug uns ein dichter Geruch entgegen. Es roch nach altem Stoff, nach Mottenkugeln und einem schweren Damenparfüm. Die Frau, die auf uns zukam (Jess` Verwandte) war rundlich, stark geschminkt und hatte die grauen Haare zu einem strengen Knoten gebunden.
'Jessica! Wie schön dich zu sehen! Ich freue mich, dass du meinen Rat zu Hilfe ziehst! Kommt, wir beginnen! Schaut euch ruhig mal um!'
Für das sie so streng aussah, war sie erstaunlich nett und herzlich. Ich sah mich um. An den Wänden waren Stangen befestigt, daran hingen Hunderte von Kleidern. Am Boden stand eine Holzbank. Unter jedem Kleid standen die passenden Schuhe und oberhalb, auf einem Regal, lagen die richtigen Kopfbedeckungen und die sonstigen Accessoires. Die freien Wände waren mit Spiegeln ausgekleidet, die vom Boden bis zur Decke gingen. Im hinteren Teil des Ladens standen zwei Paravents mit chinesischen Drachen. Am Boden lag ein dicker Teppich und von der Treppe beim Eingang bis zu den Paravents verlief ein Streifen Linoleumboden. Ich nahm an, dass es sich hier um den 'Laufsteg' handelte. Das Licht kam von drei Kronleuchtern an der Decke. Die winzigen Glasteile warfen kleine Lichtpunkte an die Wände und die Kleider und liess es überall funkeln und glitzern. Rund um die Spiegel war das Licht greller. Am Rande der Spiegel waren rundum viele kleine Glühbirnen befestigt. Es erinnerte mich sofort an eine Schauspielergarderobe.
Ich traute mich kaum, einen Fuss auf den Teppich zu setzen, um mir die Kleider genauer anzusehen. Schliesslich siegte meine Neugier. Staunend tauchte ich ein, in eine Welt voller Samt, Seide und Chiffon. Ich zog ein hellgelbes Trägerkleid, dessen Ausschnitt mit kleinen Glitzersteinen besetzt war, hervor und hielt es mir vor den Körper.
'Um Himmels Willen, Nein! Kindchen, das passt überhaupt nicht zu dir! Darin siehst du völlig blass und unscheinbar aus. Das steht jemandem mit dunkler Haut und schwarzen Haaren. Zu deinen Haaren würde es schon gehen, aber du siehst damit viel zu käsig aus. Lass mich mal sehen.', mischte sich Margareta ein.Stirnrunzelnd betrachtete sie mich. Dann schnippte sie mit den Fingern, als hätte sie eine Idee.'Ich weiss was! Einen Moment!'
Suchen tastete sie über die Kleider und zog schliesslich eines aus smaragdfarbenem Samt hervor. Es war bodenlang, oben eher eng und gegen unten etwas weiter geschnitten. Der Ausschnitt war rund und nicht zu tief. Die Ärmel waren enganliegend und aus dunkelgrünem Brokat. Etwas oberhalb der Ellenbogen hingen Trompetenärmel aus feiner mintgrüner Seide bis zu den Knöcheln. Die Borte an Handgelenk und Ausschnitt waren mit silberfarbenen fingerbreiten Bändern eingefasst. Sonstige Verzierungen fehlten.
Etwas skeptisch betrachtete ich das Wunderwerk. Und das sollte mir stehen? Margareta schien mein Zögern zu bemerken, jedenfalls drückte sie mir das schwere Stück Stoff in die Hand und führte mich hinter den Paravent.'Ich suche den passenden Schmuck und die Schuhe raus.'
Umständlich kämpfte ich mich durch die vielen Schichten und Unterröcke. Zum Glück war ich nie ein Burgfräulein!, schoss es mir durch den Kopf.
Endlich sass alles. Ich musste zugeben, wenn man es erst mal trug, war es ziemlich bequem. Der Samt schmiegte sich sanft an meinen Oberkörper und liess meinen Beinen die Freiheit, die sie brauchten um zu tanzen. Andächtig fuhr ich über den Stoff.
Margareta reichte mir den Schmuck und die Schuhe. Sorgfältig legte ich mir die Kette um. Es war eine weisse Perlenkette, die Perlen wurden zum Verschluss hin immer kleiner. Zwischen den Kostbarkeiten glänzten kleine trapezförmige Glassteinchen. An den Handgelenken trug ich nichts und an der linken Hand nur einen silbernen, mattglänzenden Ring. In meine Ohren kamen zwei kleine Perlen.
Die Schuhe waren der Hit. Ich war so froh, als ich sah, dass sie keine Absätze hatten. Sonst hätte ich mir sicher noch einen Umknickser geleistet.
Die Ballerinas glänzten ebenfalls in Silber. Vorne drauf sass eine kleine, dezente Schleife. Sie passten wie angegossen.
Margareta nestelte in meinen Haaren herum und zauberte aus meinen unzähmbaren (hatte ich bis zu diesem Tag jedenfalls geglaubt) Locken eine wunderschöne Hochsteckfrisur. Sie machte auf meinem Kopf einen Pferdeschwanz, befestigte ihn mit einer Spange in der Form eines kleinen Krönchens und liess meine Haare locker über meinen Hinterkopf fallen.
'So! Jetzt darfst du dich anschauen gehen.', sagte sie und betrachtete mich zufrieden.
Ich trat hinter dem Paravent hervor, kniff die Augen zusammen, stellte mich vor den Spiegel und öffnete sie langsam.
Mir blieb vor Staunen der Mund offen stehen. War ich das? Konnte das sein?
Ein Mädchen mit weit aufgerissenen Augen staunte mir entgegen. Das Kleid umschmeichelte meinen Körper und fiel fliessend an mir herunter. Der Silberschmuck glänzte wie kleine Tautröpfchen auf grünem Moos. Die aus der Spange herausgefallenen Locken umspielten weich mein Gesicht. Alles an mir wirkte weich und zerbrechlich.Ein Schrei drang an meine Ohren. Jess stand hinter mir und hielt sich die Hände vor den Mund.
'Mensch Cari!! Du siehst wunderschön aus!', hauchte sie andächtig.
Erst jetzt betrachtete ich sie genauer. Sie trug ein dunkelviolettes Seidenkleid mit weiten Chiffonärmel, die an den Handgelenken zusammengefasst wurden. Das Kleid war schulterfrei und bodenlang. Auf ihren Haaren sass ein silberner Haarreif aus mehreren dünnen Drähtchen an denen unregelmässig kleine und grössere Perlen aufgefädelt waren. Sonst trug sie keinen Schmuck. Besser so, mehr Schmuck hätte das Kleid in den Schatten gestellt.
Wie sie so dastand und mich bewunderte, konnte ich plötzlich bestens nachvollziehen, dass sie in Leo den Beschützerinstinkt weckte. So zart und zerbrechlich wie sie aussah. Und doch wusste ich, dass sie ein sehr eigenständiges Geschöpf mit einem ausserordentlichen Dickkopf war.
Margareta klatschte freudig in die Hände.
'Ihr seht toll aus, Kinder! Die Jungs werden euch den ganzen Abend verehren. Ihr werdet euch vor lauter Angeboten kaum noch retten können!'
Jess legte den Kopf in den Nacken und lachte ihr glucksendes Lachen. Alle Last der letzten Tage fiel von mir ab, als ich sie lachen hörte. Sie steckte mich an. Das Lachen krabbelte meine Kehle hoch, legte sich auf meine Zunge und rollte schliesslich von meinen Lippen in die Freiheit. Margareta lachte mit.

Als wir das 'Bellissimo' so gegen Vier Uhr verliessen, war meine Laune so gut wie schon lange nicht mehr. Wir waren beide schwer bepackt mit je zwei Riesentaschen. Trotzdem entschieden wir uns, im Starbucks einen Milchshake trinken zu gehen. Kichernd und lachend betraten wir den Laden und setzten uns an einen Fensterplatz mit Sofas. Stöhnend legte ich mein Gepäck ab.
'Bleibst du hier bei den Taschen? Die Kleider sind mir zu teuer, um sie einfach dem nächstbesten Gauner vorzusetzen. Ich hol dir auch einen Milchshake.', sagte Jess und verschwand an der Bar.
Tatsächlich waren die Kleider trotz Vergünstigung ziemlich teuer. Jedenfalls für unsere Taschengeldverhältnisse. Ich schloss die Augen. Der Nachmittag hatte mich geschafft. Ich war froh, dass Jess mich ohne zu fragen einfach wieder aufgenommen hatte und mir weiterhin zeigte, wie sehr sie mich mochte. In der Strassenbahn hatte sie sich plötzlich an mich gekuschelt. Einfach so.
'Huhu! Da bin ich wieder!'
'Ach danke Jess!'
Ich schlürfte an dem kalten Milchgetränk und genoss den Vanillegeschmack.
'Hey ihr Hübschen! Können wir uns zu euch setzen?', fragte eine mir bekannte Stimme. Sie erinnerte mich an unseren Leo, den kleinen Macker.
Bevor wir antworten konnten, sass Leo neben Jess und Flavio neben mir.
'Wo kommt ihr denn her? Von einer ziemlich grossen Shoppingtour, wies aussieht.', meinte Flavio mit einem Seitenblick auf unsere Taschen.
'Tja weisst du, ich hab mir eben bereits Gedanken darüber gemacht, was ich nächste Woche anziehen will!', erwiderte ich.
Er wurde rot. Getroffen! Hundert Punkte! Er hatte sich überhaupt noch nicht darum gekümmert! Typisch Jungs!'Kann ich mal sehen?'
'Sicher nicht! Der Bräutigam darf die Braut auch erst an der Hochzeit sehen!', rutschte es mir heraus. Ach nee, wie peinlich!
Er grinste nur. Ich lehnte mich zurück, die Hände entspannt auf das Polster gelegt und schaute aus dem Fenster. Plötzlich schoss eine Berührung wie ein elektrischer Schlag durch meinen Körper. Flavios Hand hatte sich auf meine gelegt und er sah mich dabei unverwandt an, wohl um zu sehen, wie ich reagierte. Ich drehte meine Hand mit der Handfläche nach oben. Er verstand den Wink und schloss sanft seine Finger um meine. Ich fühlte mich im siebten Himmel. Seine Hand war warm und weckte in mir ein Gefühl der Geborgenheit. Zitternd vor Unsicherheit und Nervosität drückte ich seine Hand. Er lächelte. So sassen wir da, hielten uns an den Händen und genossen beide die einfache, aber so liebevolle Berührung.
Jess hatten ihren Kopf an Leos Schulter, er hatte ihr seinen Arm um die Hüfte gelegt. Beide grinsten bis über beide Ohren.
Eigentlich hätte ich jetzt eifersüchtig werden müssen, wurde ich aber nicht. Denn ich war überzeugt, dass unser Tempo genau das Richtige war.

Wir sassen zu viert im Bus in einem Viererabteil und amüsierten uns köstlich über irgendeine blöde Moonliner-Werbung. Flavio hielt ganz offen meine Hand und streichelte mit seinem Daumen unaufhörlich über meinen Handrücken. Jess strahlte mich an und machte - als die Jungs nicht hinsahen - das Siegeszeichen. Die Taschen mit den kostbaren Kleidern standen zwischen unsere Füssen. Als wir ins Dorf kamen, stiegen die Jungs aus. Flavio umarmte mich. Ich war wie elektrisiert. Dann zwinkerte er mir zu und drückte den Stopp-Knopf. Die Türen öffneten sich quietschend und die beiden sprangen raus in den Regen. Mittlerweile regnete es nämlich wieder. Sehr zu Jess` Zufriedenheit.

An diesem Abend wunderte sich meine ganze Familie über meine gute Laune. Und als ich ihnen stolz mein Kleid vorführte, waren sie so entzückt, dass ich nur noch einen Viertel der Kosten übernehmen musste. Das tat meinem Budget nicht wahnsinnig weh. Um Zehn Uhr klingelte mein Handy. Jess. Wir telefonierten bis um Zwölf.

Noemi und Annik waren von den Kleidern und unsere detaillierten Berichten begeistert. Ich lachte mit ihnen, doch je näher wir der Schule kamen, desto unwohler fühlte ich mich. Die Angst vor Lucian und seiner Bande schnürte mir die Kehle zu. Doch die Angst um Flavio und Jess war noch viel schlimmer. Ich versank immer mehr in meinen Grübeleien. Zum Glück war Jess zu sehr beschäftigt, als dass sie was gemerkt hätte.
Als wir ins Klassenzimmer kamen, versuchte ich, Lucians Blick auszuweichen. Er grinste hämisch.Unser Klassenlehrer, Herr Gferrmeister, erkundigte sich nach dem Wohlbefinden der Klasse. Auffordernd sah er mich an. Er erwartete eine Antwort. Ich reagierte gereizt und sagte ihm, das Wohlbefinden der Klasse sei ausgezeichnet. Prüfend sah er mich an.
'Bist du dir da ganz sicher? Du kannst mir alles erzählen. Komm einfach zu mir, wenn du ein Problem hast.'Ich warf einen Blick zu Lucian. Er machte nur eine ganz kleine Geste, jemand, der ihn nicht genau beobachtete, konnte diese gar nicht erkennen. Seine Hand fuhr kaum merklich seiner Kehle entlang. Ich wusste, was das bedeutete: Kein Wort!
Und ich hielt mich daran.
'Ich habe kein Problem Herr Gferrmeister. Ich bin nur etwas müde in letzter Zeit.'
Meine Antwort befriedigte ihn nicht und Jess auch nicht. Sie schrieb mir während der ganzen nächsten Lektion Zettelchen. Ich ignorierte sie.
In der Pause zog sie mich auf die Toilette und stellte mich zur Rede. Sie war wütend. Trotzdem versuchte sie auf mich einzugehen, was ihr nicht wirklich gut gelang. Als ich ihr sagte, sie solle aufhören, überall Probleme zu sehen, wo gar keine seien, platzte sie. Sie schrie mich an, ich hätte sehr wohl ein Problem und wenn ich es ihr nicht erzählen wolle, dann müsse ich halt damit rechnen, dass sie sich Sorgen mache und ausserdem sei ich schon seit Tagen so komisch. Ich schwieg. Sie stapfte mit dem Fuss auf, schlug die Faust gegen die Wand und stürmte erzürnt aus der Toilette. Ich blieb allein zurück. Als Noemi und Annik auch noch kamen, um nach mir zu sehen, wies ich sie hart zurück. Noemi verschwand beleidigt und Annik hob hilflos die Hände und ging. Den Rest der Pause verbrachte ich auf der Toilette.







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