Vom ewigen Alltagstrott, Jungs, komplizierten Gedanken und allerlei anderen Dingen- Teil 28

Autor: himbaereis
veröffentlicht am: 23.10.2010


„Die letzten 2 Stunden allein?“
„Ich denke schon.“
„Das müssen wir nutzen!“
„Was willst du denn machen? Muscheln sammeln?“ Er grinste mich an.
„Gibt’s denn hier Muscheln?“ Ich grinste zurück.
„Vielleicht? Aber willst du unsere letzten 2 Stunden wirklich mit Muscheln sammeln verbringen?“
„Ich glaube nicht.“
Es war nicht mehr als ein harmloses Geplänkel zwischen uns aber trotzdem waren die Funken zum greifen nah. Er sah mir bei jedem Wort so tief in die Augen, sodass ich Angst um mein Gleichgewicht bekam. Wenn er wüsste welche Wirkung er auf mich hatte!

„Was machst du eigentlich, wenn ich wieder in Deutschland bin?“
„Na ja wahrscheinlich hoffen, dass ich dich so bald wie möglich sehe und dann...versuchen mich von der Tatsache, dass du in Deutschland bist, abzulenken. Ich denke Jake, Simon und die ganzen anderen helfen mir dabei. Und du? Was machst du, wenn du wieder in Deutschland bist?“
„Weinen? Hoffen das du dich in keine andere verliebst? Noch mehr weinen, weil ich dich eine Ewigkeit nicht sehen werde? Und ansonsten das, was du gesagt hattest: ablenken von der Tatsache, dass du weg bist.“
„Ich will nicht, dass du weinst. Ihr Mädchen weint immer so schrecklich viel. Ist das normal?“
„Ihr Kerle bringt uns in 90% aller Fälle dazu. Ist das normal?“
Er grinste.
„Wenn ihr euch dazu bringen lasst...was können wir bitte dafür?“
Das was ich jetzt sagen würde, klang so schrecklich geschleimt. Und noch schrecklicher war, dass es die reine Wahrheit war...
„Es gibt durchaus Kerle um die man weinen kann, weil sie so toll und so unbeschreiblich sind.“
„Das sind dann, nehme ich an, die australischen Jungs?“
Ich seufzte über seinen furchtbaren Stolz.
„So schaut es aus. Aber bild dir nicht zu viel darauf ein! Sooooooooooo toll bist du gar nicht.“
Er sah mich herausfordernd an.
„Wetten?“
„Vergiss es! Mit dir Wette ich nicht!“
„Wieso nicht? Hast du Angst zu verlieren?“
Er kam immer näher zu mir heran und meine Hände fingen an zu zittern.
Verdammt! Langsam war das ja schon nicht mehr normal! Er wirkte wie eine Naturgewalt auf mich. Ich glaube er war inzwischen einer derer geworden, die es geschafft hätten mir den Lebenswillen zu rauben. Er war einer derer, die mich so tief verletzen konnten, wie es andere nie schaffen würden. Er hatte mein Herz, meinen Verstand...er hatte alles von mir. Ich betete inständig, dass er mich nie verletzen würde, denn das würde ich mit Sicherheit nicht verkraften.
Aber ich glaube das würde er nie tun. Jedenfalls nicht vorsätzlich. Er weiß wie es ist, wenn jemand dein Herz in seiner Gewalt hat. Und er weiß ganz sicher auch, wie es ist, wenn es zerfetzt wird.
Plötzlich wedelte eine Hand vor meinem Gesicht hin und her. Erschrocken sah ich in sein ernstes Gesicht.
„Was war denn jetzt los? Du warst auf einmal wie weggetreten. Alles okay?“
Ich grinste um mir meine Erschrockenheit nicht anmerken zu lassen. Es war alles in Ordnung. Eigentlich.
„Alles klar. Ich hab nur – ach egal. War sowieso unwichtig. Ich war nur ein wenig abgelenkt. Wo waren wir?“
„Also eigentlich wollte ich gerade auf dich zukommen, dich dabei gehörig aus der Fassung bringen und dir dann beweisen, wie toll australische Männer sein können.“
„Alles klar. Na dann mach mal weiter.“
Er grinste mich an. Dann kam er langsam näher und seine Augen...Ja seine Augen fraßen mich regelrecht auf. Es kam mir vor, als würde er direkt in mich hineingucken können.
Er nahm meine Hände und zog mich langsam zu sich hin. Dabei sah er mir unablässig in die Augen und meine Hände fingen wieder an zu zittern. Je näher sein Gesicht meinem kam, desto schneller begann mein Herz zu klopfen.
Und dann küsste er mich. Er küsste mich so heftig und einnehmend, dass vor meinen Augen Sterne tanzten. Und dann gaben meine Knie nach.
Lachend hielt er mich und ich klammerte mich an ihn. Wieder fühlte ich mich wie eine Ertrinkende im stürmischen Ozean.
Ich weiß nicht so genau, wann ich mit der Dramatisierung der Ereignisse angefangen hatte, aber ich glaube seit ich mit Shane zusammen war, hatte ich eine starke Neigung dazu. Ob das bei allen Verliebten so war? Oder machten das nur die, die Kitschromane und Liebesschnulzen mögen?
Als Shane sich meine Hand schnappte und mich hinter sich herzog, hörte ich auf über Liebesschnulzen und Kitschromane nachzudenken und konzentrierte mich nur noch auf das Wesentliche: Die verbleibende Zeit mit ihm.

Wir spazierten lachend und kichernd zurück in Richtung Coral Bay und konnten nicht voneinander lassen. Weit kamen wir natürlich nicht. Shane rief wieder das Auto an und es brachte uns zurück zum Haus, in dem wir schon von vielen Menschen erwartet wurden.
Gefrühstückt hatten sie bereits alle und da ich ja sowieso de halben Kühlschrank mit mir herumtransportierte, machten wir uns auf den Weg zum Privatflieger.
Irgendwann kurz bevor wir an dem Miniflughafen ankamen, fiel mir ein, dass mein Freund ja gar nicht mal arm war. Im Gegenteil! Der Junge war mit extremst reichen Eltern gesegnet. Das war mir während der Zeit hier komplett entfallen und ich war schon irgendwie stolz auf mich und meine Gefühle, dass sie unabhängig von irgendwelchen Einflüssen waren. Ich würde Shane selbst dann lieben, wenn er auf der Straße leben würde. Für mich zählte nur, dass er der war, der er war. Alles andere war mir total egal.

Der Flug zum richtigen Flughafen verlief ziemlich ereignislos. Sascha und Reggie hatten sich in eine Ecke verzogen, Shane und ich hatten uns in eine andere Ecke positioniert und die Erwachsenen mussten mit dem Rest vorlieb nehmen. Aber die hatten sicherlich nicht einmal halb so wichtige Themen zu bereden wie ihre Kinder.
Na ja genau genommen hatten auch die Kinder nicht sonderlich viel zu bereden. Die Kinder waren damit beschäftigt sich abzuknutschen und sich aneinander zu kuscheln. Die Eltern quittierten das mit einem Lächeln, wohl wissend, dass dieses unansehnliche Geturtel bald vorbei sein würde.
Eltern hatten einfach keine Ahnung.
Während des Fluges sah ich aus dem Fenster und versuchte schon jetzt, krampfhaft die Tränen zurückzuhalten. Das kam erst nachher. Nebenbei dachte ich über meine Gedanken von vorhin nach. ‚Ich würde Shane selbst dann lieben, wenn er auf der Straße leben würde.’ Was genau war mein Gefühlszustand jetzt eigentlich? War ich einfach nur bis über beide Ohren in ihn verliebt...oder liebte ich ihn? So oft hatte ich schon gehört, dass man einen Menschen erst nach einer gewissen Zeit lieben konnte. Wenn man all seine Fehler kannte und sie einem egal waren. Irgendjemand hatte mir mal erzählt, dass man sich ohne den anderen nicht komplett fühlte. Fühlte ich mich nur komplett wenn Shane bei mir war? Wirklich getestet hatte ich das bis jetzt noch nicht, weil ich sowieso jede Minute an ihm klebte. Aber was war nun?
Sicherlich wäre es cool, wenn ich ihm zum Abschied etwas Schmalziges wie ‚Ich liebe dich’ ins Ohr hauchen könnte. Aber wäre das nicht zu theatralisch? Ein schlechter Kitschfilm konnte so etwas ja bringen...aber im echten Leben laufen die Dinge wohl doch etwas anders. Und würde er sich überrumpelt fühlen, wenn ich ihn mit dieser Tatsache konfrontieren würde?
War es ethisch überhaupt korrekt, wenn man über Liebe genauso nachdachte und sinnierte wie über irgendeine mathematische Gleichung? Gab es irgendwo ein Buch, das ‚Regeln in und über die Liebe’ hieß? Wenn ja, wo konnte man es kaufen?
Ich glaube das würde mein großes Nachdenkthema für den richtigen Flug werden. Liebe. Etwas anderes war ja sowieso nicht möglich und selbst darüber würde ich erst Stunden nach dem Start nachdenken können. So wie ich mich kannte, würde ich in den ersten Flugstunden Rotz und Wasser heulen. Hoffentlich saßen wir irgendwo da, wo mich keiner so richtig mitbekommen würde. So wären alle ungestört. Sowohl die ganzen Leute im Flieger, als auch ich. Denn besonders redselig würde ich ganz sicher nicht sein.
Wieder musste ich die Tränen unterdrücken. Ich war mir nicht sicher was schlimmer sein würde. Die Stunden im Flugzeug oder der große Abschied am Flughafen.
Ich hatte Angst. Angst vor den Gefühlen. Denn emotionslos würde das Szenario sicherlich nicht ablaufen. Nicht wenn ich anwesend war.

Irgendwann landeten wir. Ich umklammerte Shane’s Hand und versuchte so viel Sonne, wie nur möglich aufzusaugen. Vielleicht etwas spät aber besser als gar nicht. Auch wenn die Sonne zu den Dingen zählte, die ich zwar auch aber nicht so sehr wie andere, vermissen würde.
Na ja obwohl. Eigentlich stand sie auf der Liste der zu vermissenden Dinge an dritter Stelle. Platz 1 war natürlich Shane, Platz 2 war Australien mit all den tollen Leuten und den ganzen Landschaften und Stränden und Platz 3 war die Sonne dort.

Schweigend gingen wir in das Flughafengebäude und meine Tränen ließen sich immer schwerer zurückhalten. Irgendwann gab ich meinen Widerstand auf und schon kullerten vereinzelt Tränen über mein Gesicht.
All die Dinge die man am Flughafen halt so macht, sprich Einchecken und alles das, wurden getan und kaum jemand von uns sagte etwas. Die Koffer wurden abgegeben und ich sah die metaphorische Sanduhr des Lebens vor mir. In der Rubrik ‚Zeit in Australien’ liefen die letzten Körnchen durch die Uhr und mit jedem Körnchen wurde mein Herz schwerer. Immer mehr Tränen liefen über mein Gesicht.
Wahrscheinlich waren die Anzahl meiner Tränen und die Anzahl der Sanduhrkörner proportional zueinander. Während das Eine stieg, sank das Andere.
Irgendwann wurde unser Flug dann ausgerufen und ich war nicht mehr die Einzige, die Tränen in den Augen hatte.
Reggie, meine Mutter, Gina aber auch Shane. Selbst Sascha hatte ein verdächtiges Glitzern in den Augen, was er aber leugnen würde, spräche man ihn darauf an.
Wir schritten wie eine Trauerprozession zu den Schaltern an denen wir uns endgültig trennen würden. Am liebsten würde ich auf dem Absatz kehrt machen und aus dem Flughafen rennen. Aber das das nicht ging, war klar.
Unaufhörlich liefen Tränen über mein Gesicht und ich musste mich zusammenreißen, dass ich nicht laut losschluchzte. Als wir schließlich an den Glastüren standen, die die Fluggäste von den anderen Leuten trennten, ging es mir so dreckig, dass ich mich am liebsten auf den Boden geworfen und hemmungslos geheult hätte. Ich ging zu Gina und Ray, umarmte beide und bedankte mich für die tolle Zeit hier. Dann warf ich mich Reggie in den Arm und wir heulten uns gegenseitig einen vor. Ich kann nicht genau sagen wer mehr weinte aber viel nahmen wir uns nicht.
„Vergiss mich nicht Reggie. Selbst wenn ich dich für manche Dinge verprügeln könnte. Du wirst mir schrecklich fehlen. Komm mich sobald du kannst besuchen, okay?“
„Okay“, schluchzte sie mir ins Ohr. Ich drückte sie noch einmal fest und dann ging ich zu Shane.
„Das Beste zu Schluss.“ Matt lächelte ich ihn an und er zog mich in seine Arme.
„Selbst in den unpassendsten Situationen kannst du noch Witze machen. Pass gut auf dich auf und lass dich nicht von irgendwelchen zwielichtigen Typen anfassen.“
Ich klammerte mich an ihn und versaute ihm dadurch wahrscheinlich gerade das T-Shirt.
Dramaqueen. Das dachten wahrscheinlich alle Leute, die das jetzt mit ansehen durften. Aber das war mir jetzt so egal! Man lebt nur einmal. Deshalb küsste ich ihn fast tot und ließ ihn dann schweren Herzens los.
Er zog mich noch einmal zurück an sich und flüsterte mir etwas ins Ohr: „Auch wenn das jetzt vielleicht etwas früh kommt, wollte ich dir eins noch sagen und dir dabei ins Gesicht sehen können. Ich liebe dich, kleine Eisprinzessin.“
Mein Herz setzte einen Schlag aus, als er das sagte und dann musste ich noch mehr weinen. Einerseits, weil ich so unendlich glücklich war und andererseits weil mir mein Glück genommen wurde. Ich küsste ihn noch einmal voller Inbrunst und flüsterte dann zurück: „Du hast Recht, es ist wirklich viel zu früh. Aber ich liebe dich auch.“
Er grinste sein wundervolles Grinsen und dann mussten wir durch die Glastüren.
Sooft ich konnte, warf ich einen Blick zurück und sah ihn dort mit seinen Eltern und seiner Schwester stehen. Obwohl winken meiner Meinung nach ziemlich komisch kam, winkte ich ihm und wischte mir anschließend die Tränen vom Gesicht.
Als wir dann im Flieger saßen rollte ich mich, so gut es ging, auf meinem Flugzeugsitz zusammen. Ich fühlte mich so unendlich klein und schutzlos. Wie ein Kind.
Die Arme um mein Kuschelkissen geschlungen, starrte ich aus dem Fenster. Die Sonne schien unverändert und der Himmel war immer noch blau. Grauer Himmel und Regen hätten jetzt besser zu meiner Stimmung gepasst, aber das war schließlich Australien. Hier musste die Sonne scheinen. Die Sonne war sicherlich die Allerletzte, die auf meine Gefühle Rücksicht nahm.
Plötzlich ging ein Ruckeln durch die Maschine. Der Pilot machte noch eine kurze Begrüßungsrede und dann fuhren wir los.
Jetzt war es wirklich soweit. Ich schloss die Augen und verabschiedete mich zum letzten Mal von Australien.
Immer schneller fuhr das Flugzeug und die Flughafenlandschaft verschwamm vor meinen Augen. In mir drin brach wieder etwas und das fühlte sich stark nach meinem Herz an. Schniefend kramte ich meine Taschentücher aus der Tasche. Ich schloss die Augen, dachte an ihn und fühlte wie das Flugzeug sich vom Boden löste.




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