Auf der anderen Seite der Nacht - Teil 36

Autor: Nacomi
veröffentlicht am: 20.07.2011


Ein paar Tage später brachen wir mit den Gästen zu einem Tagesritt auf. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, schickte aber bereits ein fahles Licht über den Horizont. Die Pferde schnaubten unternehmungslustig und die Gruppe war aufgeregt. Es handelte sich ausnahmslos um Anfänger und es war ihr erster Ausritt, nachdem ich sie in den letzten Tagen auf dem Platz unterrichtet hatte, um wenigstens ein Minimum an Sattelfestigkeit zu gewährleisten. Ich machte mir keine Sorgen, denn die ausgewählten Pferde waren alle gut ausgebildet und wahre Lebensversicherungen im Gelände. Dennoch hatte ich ein seltsames Gefühl in der Magengegend. Dankbar überließ ich Diego die letzte Kontrolle der Ausrüstung und zog mich noch einen Augenblick in den Stall zurück, in dem eine angenehme Stille herrschte.
Langsam schritt ich die Reihe der Boxen ab, die meisten von ihnen waren leer, da hier eh nur die Reitpferde untergebracht waren. In der letzten Box stand Salvador. Der große Braune fraß genüsslich an seinem Morgenheu und hob nur kurz den Kopf um mich anzusehen. Ich öffnete die Tür und trat ein. Seufzend lehnte ich mich an seinen großen Körper und schloss die Augen. Seid er hier auf unserem Gut war, war er ruhiger geworden, ließ sich aber ungern von anderen Anfassen als von mir. Raul, Diego und ein weiterer Rinderhirte hatten einen ganz guten Draht zu ihm und ich sah in seinen Augen den Respekt vor den Männern. Sein Vertrauen besaßen sie allerdings nicht. Niemals hätten sie so an ihn gelehnt dastehen können. Ich lächelte bei dem Gedanken.
Eigentlich hatte ich Salvador auf den Ritt mitnehmen wollen, aber er hatte vor ein paar Tagen eine leichte Kolik bekommen und so beschloss ich ihn lieber ein paar Tage in Ruhe im Stall zu lassen. Als Gesellschaft hatten wir Diegos Hengst Contador in der Box neben Salvador untergebracht. Die beiden Pferde hatten mittlerweile so etwas wie Freundschaft geschlossen, vielleicht wegen der gemeinsamen Erfahrungen. Jedenfalls war Contador das einzige Pferd welches Salvador an sich heran ließ…
„Juliana, kommst du?“ Ich schlug die Augen auf und streichelte noch einmal über das glänzende Fell des Wallachs. Im Vorbeigehen tätschelte ich auch Contador und machte mich auf den Weg zum Ausgang.
Diego stand im Gegenlicht, seine Schattengestalt zeichnete sich schwarz im Türrahmen ab. Bei ihm angekommen, lehnte ich meinen Kopf an seine Brust. „Geht’s dir nicht gut?“ fragte er leise, weil er instinktiv spürte, dass etwas nicht in Ordnung war. Ich wusste ihm nicht zu antworten und legte stattdessen den Kopf weit in den Nacken um ihm in die Augen zu schauen. Er erwiderte den Blick und lächelte. „Wenn du willst übernehme ich die Gruppe allein.“ Seine Stimme war sorgevoll und ich ihm dankbar für das Angebot, aber ich lehnte ab. Schließlich war ich verantwortlich und wenn es mit dem unguten Gefühl in meinem Magen etwas auf sich hatte, wollte ich in der Nähe sein. Weniger später ritt ich an der Spitze der Gruppe in den Sonnenaufgang.
Wider Erwarten verlief der Ausritt gut und alle waren überglücklich und voll von neuen Eindrücken, als wir gegen Abend wieder auf das Gut zurückkehrten. Ruhig lag es im Licht der Abendsonne, es schien wie ausgestorben. Ich wurde sogleich wieder von einem seltsamen Gefühl ergriffen und als ich mich nach Diego umsah, der am Ende der Gruppe ritt, wusste ich, dass er es auch spürte. „Gut Leute, lasst eure Pferde am Brunnen erstmal ordentlich saufen“ rief ich, während ich mich aus dem Sattel schwang und meine Stute zum Wasser führte. Diego war gleich bei mir und nahm kurz meine Hand. Ich erwiderte seinen Blick und nickte. Wir brauchten keine Worte um uns zu verständigen. Während er mit den Pferden und Urlaubern am Brunnen zurückblieb, eilte ich unauffällig zum Stall.
„Salvador?“ rief ich ängstlich in die Stallgasse hinein und war unendlich erleichtert, als ich sein warmes Wiehern hörte. Ich beeilte mich zu ihm zu kommen, vielleicht hatte ich mir diese ungute Vorahnung nur eingebildet, und erstarrte zu Eis!
Gänsehaut erfasste meinen ganzen Körper, irgendwo in mir zerbrach etwas. Eine ganze Weile konnte ich nur dastehen.
„Ich wusste es“ stieß ich schließlich zwischen zusammen gebissenen Zähnen hervor. Meine üble Vorahnung hatte nicht nur Hand und Fuß, sondern sie stand mit leichtem Lächeln auf den Lippen neben dem Liebsten, was ich auf Erden hatte. Neben Salvador! Und dabei schaute er so gleichmütig aus der Wäsche, als könne ihn kein Wässerchen trüben. Er ließ seine linke Augenbraue in die Höhe wandern. „Ach?“ Seine Stimme war rau und tief, wie ich sie in Erinnerung hatte.
So viele Jahre waren vergangen und doch wischte er sie mit einem kleinen „ach“ fort, als wären es Sekunden. Wie immer in seiner Gegenwart fühlte ich mich schwach, unfähig zu handeln. Wie immer war ich wie elektrisiert und mühsam unterdrückte ich den Drang die Hand nach ihm auszustrecken, ihn zu berühren. Und wie immer brachte er mich auf die Palme. Was fiel ihm ein hier unangemeldet aufzukreuzen? Einfach in den Stall, meinen Stall, zu spazieren und dann auch noch zu meinem Salvador in die Box zu gehen, der zugegeben nicht sonderlich beunruhigt schien.
„Was… willst… du… hier?!“ fragte ich, mich mühsam beherrschend. Luìs regte sich nicht, nur die Augenbraue kehrte an ihren gewohnten Platz zurück, seine Stirn glättete sich. „Komm da raus!“ zischte ich stimmlos. Salvador legte die Ohren an und schnaubte. Ein alarmierter Blick von Luìs huschte zwischen dem Wallach und mir hin und wieder zurück. Ruhig legte er die Hand auf den mächtigen Hals des Pferdes, fuhr langsam darüber und machte dann zwei schnelle Schritte aus der Tür hinaus. Salvador bleckte die Zähne und drehte sich unruhig um sich selbst. Die angespannte Atmosphäre übertrug sich auf ihn. Ich warf Luìs einen ärgerlichen Blick zu und redete dann beruhigend auf den Wallach ein.
„Was willst du?“ wiederholte ich meine Frage, ohne mich nach Luìs umzudrehen. Er lachte leise. Mein Herz setzte sich wie auf Kommando in Galopp. Dieses grausame, wunderschöne Lachen. Sein Lachen. Gänsehaut rann über meine Arme. Ich atmete hörbar aus. Salvador schnaube ärgerlich. Ich musste hier raus! Durfte Salvador mit meinem Gefühlschaos nicht belasten. Hektisch sah ich mich um, während Luìs – die Ruhe in Person – an der gegenüberliegenden Wand lehnte.
„Wohin?“ fragte ich mich. In ein paar Minuten würden die Pensionsgäste mit den Pferden hereinkommen, ich wollte nicht, dass jemand Luìs zu Gesicht bekam. Schon gar nicht Diego. Bei dem Gedanken huschte ein zärtliches Lächeln über mein Gesicht.
Schon hörte ich das Hufgeklapper und fröhliches Stimmengewirr, das sich dem Stall näherte. Zu spät um aus dem Stall zu flüchten. Die Sattelkammer war ebenfalls tabu. „In die Futterkammer“ sagte ich dann mit fester Stimme und deutete Luìs den Weg. „Da, die rechte Tür.“ Er grinste und ließ mir den Vortritt. Rasch trat ich in das Halbdunkel und schloss die Tür hinter ihm. „Sei bloß still!“ zischte ich und erntete einen undefinierbaren Blick seinerseits. Ich betätigte nicht den Lichtschalter und setzte mich auf die große Haferkiste. Luìs lehnte sich an die Futtersäcke gegenüber und sah mich an. Ich versuchte erst gar nicht seinem Blick stand zu halten und sah stur zu Boden. Ein Schauer jagte den anderen auf meiner Haut, seine Augen ruhten schwer auf mir. Mein Herz wehrte sich gegen meine harte Hand, mit der ich es zwang langsam zu laufen. Gewaltsam versuchte ich es zu zügeln. Draußen hörte ich nun Diego, der den Gästen die Boxen der Pferde zuteilte und hilfreiche Tipps gab. Als ich kurz zu Luìs hinüberschielte wusste ich, dass auch er die Stimme erkannt hatte.
Hatte ich mich getäuscht oder hatte ich einen Spur von Überraschung auf seinem ebenmäßigen Gesicht gesehen? Wusste er etwa nicht von Diego und mir? Grimmig lächelte ich in mich hinein. Eine Weile lauschten wir beide stumm auf die Geräusche die aus der Stallgasse kamen. Ich hörte wie die Tür zum Nebenraum, der Sattelkammer geöffnet wurde und wie die Sättel mit leisem Rumpeln ihren Platz auf den Böcken fanden. Fröhliches Geplauder drang durch die Wand. „So, dann wollen wir unseren Pferden noch eine Handvoll Möhren geben“ hörte ich Diego sagen und fast im gleichen Moment stieg Hitze in mir auf. Möhren! Er wollte den Pferden Möhren geben! Hektisch sah ich mich um. Mein Blick blieb an Luìs kleben, der mal wieder eine Augenbraue in die Höhe gezogen hatte. Er verstand sofort. Lächelnd deutete er in die Ecke, wo die Futterkiste und die Säcke eine Nische bildeten. Schon hörte ich die Schritte, es war eine Frage von Sekunden bis die Tür aufgehen und alle uns entdecken würden. Luìs hatte schon zwei Säcke verrückt und war dahinter verschwunden. Ohne noch weitere Gedanken zu verschwenden, folgte ich ihm und quetschte mich in die noch verbleibende Lücke. Da ging auch schon die Tür auf und das Licht an. Mir stockte der Atem und ich presste mich noch enger an die Wand in meinem Rücken und an Luìs an meiner Seite.
Der Kontakt zwischen unseren nackten Armen ließ mich erschauern. Abwechselnd liefen mir heiße und kalte Schauer über den Rücken, die von Luìs unmöglich unbemerkt bleiben konnten. Diego und zwei der Gäste füllten der Weil zwei Eimer mit Möhren und reichten sie an die anderen weiter. Dann löschte Diego das Licht und schloss die Tür. Mit rasendem Atem blieb ich noch eine Weile reglos sitzen. Die Knie angezogen, den Kopf darauf abgestützt. Luìs war mir ganz nah, immer noch berührten sich unsere Arme, aber irgendwie war er mir so fern wie noch nie.
Ich wagte einen Blick zu ihm, er wand sich ab. Stirn runzelnd kroch ich aus dem Versteck und streckte mich. Er folgte mir mit langsamen Bewegungen. Immer noch sah er mich nicht an. Ich zuckte die Schultern und schlich zur Tür. Ich lauschte auf die Stallgeräusche und versuchte festzustellen, ob noch jemand auf der Stallgasse war. Doch ich hörte nur die normalen Geräusche der Pferde. „Ihr lebt also zusammen?!“ Seine Stimme war leise, doch sie verfehlte ihre Wirkung nicht. Ich hielt in der Bewegung inne. Er kam näher und blieb dicht hinter mir stehen. Ich drehte mich nicht um und versuchte meinen Atem unter Kontrolle zu bringen. „Ja“ sagte ich dann schlicht, weil ich zu mehr irgendwie nicht fähig war. Aber das musste er ja nicht unbedingt wissen. Er machte noch einen Schritt und schloss damit die letzte Lücke zwischen uns. Seine Nähe war vertraut und fremd zugleich. Obwohl – so richtig vertraut war sie mir wohl noch nie gewesen. Nun spürte ich seinen warmen Atem, der an meinem Nacken entlang nach vorn über meinen Hals kroch. „Was willst du von mir Luìs?“ fragte ich und lehnte meinen Kopf erschöpft an die Tür. Ich hörte ein Lächeln in seiner Stimme. „Die Frage ist doch viel eher, was willst du von mir!“ Innerlich verdrehte ich die Augen. „Nichts“ hörte ich mich sagen und war selbst über die Kälte in meiner Stimme überrascht. Er lachte trocken. „Das musst du mir erst noch beweisen“ knurrte er dann und drehte mich an der Schulter zu sich um. Ehe ich reagieren konnte spürte ich seine Lippen auf meinen. In mir überschlug sich alles, mein Herzschlag hatte längst die Schallmauer durchbrochen. Irgendwo in meinem Kopf ätzte die altbekannte Stimme. „Was für ein wundervoller Kuss.“ Die blöde Stimme hatte gut reden. Der Kuss war schön ohne Frage, aber ich wollte ihn nicht, wollte ihn nicht. Nicht mehr. Wütend versuchte ich ihn von mir zu stoßen, unbeeindruckt davon hielt er mich fest und sah mir tief in die Augen. „Sag mir, dass du nichts dabei empfindest“ flüsterte er heiser und legte seine Hand an meinen Hals. Ich schluckte und schlug die Augen nieder, konnte damit allerdings nicht verhindern, dass seine Lippen erneut die meinen trafen. Der zweite Kuss war weicher, war zärtlicher und ich spürte wie meine Knie drohten nachzugeben. Erneut versuchte ich ihn wegzustoßen, diesmal gelang es mir. Er machte einen Schritt zurück und lächelte, etwas verlegen. Ich atmete stoßweise und versuchte seinem Blick auszuweichen. „Na los“ spottete er. „Sag es mir! Sag mir, dass es dich kalt lässt. Sag mir, dass es nicht das Geringste in dir auslöst.“ Wut stieg in mir auf. Was fiel ihm eigentlich ein?! Mit seiner unverbesserlichen Arroganz meinte er hier herein spazieren zu können in mein Leben und es mal eben so auf den Kopf zu stellen! Meinte er etwa, dass ich all die Jahre auf ihn gewartet hätte? Ich riss die Tür auf und trat auf die Stallgasse. Die Köpfe der Pferde flogen verwundert nach oben, Salvador wieherte. „Verschwinde!“ zischte ich und ohne mich noch einmal nach ihm umzudrehen verließ ich den Stall.
Ich flüchtete, flüchtete über den Hof und hinauf in die Wohnung. Diego saß am Tisch auf der Terrasse und las. Er sah sofort wie aufgewühlt ich war. Er stand auf und mit zwei großen Schritten hatte er die Distanz zwischen uns überbrückt und mich in seine Arme geschlossen. Fast zeitgleich, als meine Wange seine Brust berührte, begann ich zu weinen. Ich weinte all die Tränen, die ich jahrelang nicht geweint hatte und Diego hielt mich fest, streichelte mir über das Haar. Er stellte keine Fragen, sagte kein Wort, er war einfach da.
Irgendwann hatte ich keine Tränen mehr und mein Atem beruhigte sich. „Komm“ sagte er und führte mich ins Bad. Er stellte das Wasser in der Dusche an und half mir beim Ausziehen und schob mich schließlich energisch unter den Wasserstrahl...






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