Auf der anderen Seite der Nacht - Teil 31

Autor: Nacomi
veröffentlicht am: 27.01.2011


„Juliana?!“ rief es vom Haus her und ich musste all meine Willenskraft aufbringen, um mich aus Luìs Umarmung zu befreien. Nur widerwillig ließ er sich von mir weg schieben. „Ich komme!“ schrie ich in die Richtung aus der die Stimme kam und stürmte los. Sicher war mein Bruder Raul endlich angekommen und da konnte mich weder ein portugiesisches Pferd, noch ein spanischer Hufschmied halten. Bei dem Gedanken musste ich lächeln. Was für ein Kuss! Und ehe ich noch länger darüber nachdenken konnte, war Luìs schon wieder an meiner Seite und lief leichtfüßig neben mir her. Ich zwang mich ihn nicht anzusehen, weil ich sonst mit Sicherheit gestolpert wäre und beschleunigte meinen Lauf. Wild flatterte mein Haar hinter mir her, als ich den Weg zum Hof hinauf rannte und um die Ecke bog.
Und da stand er. Raul. Ein Freudenschrei drang aus meiner Kehle, Luìs fiel hinter mir zurück und im nächsten Moment fand ich mich wieder in zwei Männerarmen die mich fest umschlossen. Ich war überglücklich.
Nach der langen Zeit die ich mit Luìs und Salvador von Spanien, über die Grenze und dann quer durch das halbe Land auf der Flucht gewesen war. Nach all den Strapazen, der Angst, den Schmerzen und dem Verliebtsein in Luìs. Nach all dem war es mir als wäre ich angekommen. Angekommen in den Armen meines geliebten Bruders, der nach dem Tod unserer Eltern nicht nur Bruder, sondern auch Vater und Mutter für mich gewesen war.
Ich klammerte mich an ihm fest, wie eine Ertrinkende und heulte wie ein Schlosshund an seiner Brust. Raul schwieg und drückte mich nur fest an sich, schaukelte mich hin und her, bis ich mich irgendwann beruhigte und ihm in die Augen schauen konnte. Er strahlte. „Na Schwesterlein!“ Ich lachte und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. „Ich bin so froh, dass das alles vorbei ist“ gestand ich. Raul grinste und nickte bedächtig. Wäre ich nicht so außer mir gewesen hätte ich vielleicht den Zweifel in seinen Augen bemerkt. Stattdessen aber wand ich mich strahlend zu Rosa und ihrem Mann um, stellte meinen Bruder noch einmal vor. Auch einige der Arbeiter, inklusive Diego standen neugierig um uns herum und so musste Raul sich erst einmal die Hände schütteln und Namen nennen lassen.
Rosa lud zum Mittagessen und so saßen bald alle um den langen Tisch und waren in fröhliche Plaudereien verstrickt. Als ich meinen Blick einen Moment von Raul abwandte, begegnete ich den dunklen unergründlichen Augen eines Mannes, der einfach nicht dazu zu gehören schien. Lustlos stocherte er in seinem Salat, den Wein hatte er nicht angerührt. Er lächelte als er meinen Blick bemerkte, aber das Lächeln war nicht echt. Ich vermisste die Fältchen um seine Augen, die wie die Strahlen der Sonne seine Augen noch mehr strahlen ließen. Ich versuchte mit meinen Blicken eine Frage zu formulieren. Aufmerksam verfolgte er meine Bemühungen und lächelte wieder. Dieses Mal kam es von Herzen. Dann legte er seine Gabel nieder, tupfte sich mit der Serviette über die Lippen und stand auf. Kaum jemand achtete auf ihn. Nur Rosa warf mir einen bedeutungsschweren Blick zu, nachdem er den Raum verlassen hatte. Ich seufzte. Ich wusste, dass ich Klarheit schaffen musste. Schließlich würde ich bald abfahren. Ich flüsterte Raul zu, dass ich auf die Toilette müsse und eilte dann ebenfalls aus dem Raum. Ich hätte eh nichts mehr essen können.

Ich fand Luìs im Stall bei den Kälbern. Er saß im Stroh und streichelte den Kopf eines schwarzen Stierkälbchens. Mir wurde warm ums Herz, als ich ihn so sah.
„Luìs?“ fragte ich in die Stille hinein. Er wand den Kopf und bedeutete mir mit einem Blick mich neben ihn zu setzten. Wieder brodelte es in mir, wegen dem Befehl. Dieses Mal aber unterdrückte ich die Wut und gehorchte, wenn auch widerwillig. Sobald ich neben im saß, griff er nach meiner Hand. Sofort war ich wie elektrisiert. „Was wird jetzt?“ hörte ich ihn sagen, während mir mein Herzschlag wieder einmal davon galoppierte. „Ich weiß nicht“ antwortete ich ihm kleinlaut und versuchte der Versuchung zu widerstehen meinen Kopf an seine Brust zu lehnen. Eine Weile schwiegen wir, hin und wieder streichelte er meine Hand. „Wann fahrt ihr?“ brach er schließlich die Stille ohne mich dabei anzusehen. „Vermutlich morgen früh…“ sagte ich leise und verspürte auf einmal nicht mehr die geringste Lust davon zu laufen. „Also ist dies unser letzter Tag“ stellte er nüchtern fest.
Ich schluckte und schloss einen Moment die Augen. Sollte ich ihm Recht geben? Sollte ich ihn gemeinsam mit dieser unmöglichen Reise abhaken? Oder sollte ich ihn fragen, ob er mit mir kommen wollte? Und was wollte er eigentlich?
Ich schlug die Augen wieder auf und versuchte mich ganz und gar auf das Gefühl zu konzentrieren, welches mich erfüllte, während ich so neben ihm im Stroh saß. Mittlerweile hatte er von dem Kalb abgelassen und meine Hand in beide Hände genommen. Ich betrachtete sein Profil und stellte wieder einmal fest, wie wunderschön er war. Äußerlich stimmte einfach alles an ihm. Aber war er auch charakterlich das, was ich mir unter meinem Traummann vorstellte? Er war wahnsinnig überheblich, besserwisserisch, unverbesserlich arrogant und viel zu sehr von sich selbst überzeugt und beim besten Willen wollte mir nicht einfallen, warum ich all diese Eigenschaften an ihm so unglaublich sexy fand. Stopp! Hatte ich gerade sexy gedacht?! Ich wusste, ich musste mich entscheiden: hier und jetzt! Oder ich würde noch durchdrehen.
Wieder sah ich ihn an und diesmal drehte er sich zu mir um. Eine kleine Ewigkeit blickten wir uns in die Augen und ich schaffte es tatsächlich stark zu bleiben und seinen Blick zu erwidern. Wieder ließ er seine Blicke unverschämt ungeniert über meinen Körper streifen, was ungeahnte Stürme in meinem Inneren auslöste. Die Luft hatte auf einmal weniger Sauerstoff und so musste ich mehrmals tief ein und ausatmen. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Und es erforderte höchste Konzentration und Selbstbeherrschung mich nicht an seinen Hals zu werfen. Nervös schlug ich die Augen nieder, um mein Gefühlschaos wenigstens geheim zu halten.
„Was denkst du?“ fragte er dann plötzlich, während er immer noch meine Hände hielt. „Nichts“ brachte ich heiser hervor und meiner Stimme war meine Nervosität deutlich anzumerken. Augenscheinlich hatte er genau darauf gewartet, denn seine nächste Frage war wohlüberlegt. „Oder sollte ich besser fragen, was du fühlst?“ Seine Worte schienen in mir wiederzuhallen. Hilflos zuckte ich die Achseln. Ich wusste, dass ich nicht mehr lange standhalten konnte. „Ich weiß nicht, es ist alles so…“ hob ich an, brach aber gleich wieder ab, weil ich keine Worte fand. „Ungewohnt?“ schlug er vor und fuhr gleich fort: „Berauschend, überwältigend und nicht einzuordnen?“ Woher wusste er das alles so genau? Ich sah ihm probeweise in die Augen und schon war es vorbei mit der Selbstkontrolle. „Küss mich doch endlich“ dachte ich und erwiderte endlich den Druck seiner Hände. Er lächelte und zog mich nah zu sich heran. „Stopp!“ brach es dann aus mir hervor, als unsere Lippen nur noch wenige Zentimeter von einander entfernt waren. „Was?“ fragte er, ein Bisschen ungehalten. „H-hab ich das jetzt laut gesagt?“ Er machte ein unwilliges Geräusch, aus dem schließlich mit etwas gutem Willen ein Lachen heraus zu hören war. Einen Moment schloss er die Augen und sammelte sich. Dann sah er mich wieder an und kam noch ein Stückchen näher, sodass ich mich kaum noch beherrschen konnte. „Oh ja“ sagte er dann und grinste unverschämt. „Das hast du und diesmal kannst du wohl kaum deine imaginäre Freundin gemeint haben.“ Mir lag eine spitze Bemerkung auf der Zunge, obwohl er mir nun so nah war, dass ich meinte er wäre selbst in meinem Kopf. Ehe ich jedoch zum Sprechen ansetzten konnte, kam er mir zu vor. „Ich warne dich, Juliana!“ knurrte er leise und der Tonfall ließ mich angenehm erschauern. Aber noch wollte ich mich nicht geschlagen geben. „Ich…“ „Still!“ zischte er und seine Lippen berührten dabei die meinen. Sofort setzte mein Atem aus und er nutze den Augenblick und küsste mich. Der Kuss war das wunderschönste was ich je erlebt hatte. War schon der Kuss am Morgen unglaublich gewesen, so war dieser wohl das Paradies auf Erden.
Ich verlor jegliches Zeitgefühl und ich wünschte es würde nie enden. Er war es der den Kuss schließlich beendete. Einen Moment noch ließ ich die Augen geschlossen und kostete das Gefühl aus, welches seine Lippen auf meinen hinterlassen hatten.
„Atmen nicht vergessen“ flüsterte es neben meinem Ohr und unwillkürlich musste ich Lächeln. „Du kannst so charmant sein“ erwiderte ich und schlug endlich die Augen auf, um seinen Blick zu suchen. Er lag neben mir im Stroh, den Kopf auf einen angewinkelten Arm gestützt und sah mich an. Mit der freien Hand zupfte er mir einen Strohhalm aus dem Haar. „Und du sehr liebenswürdig“ neckte er. Ich lachte. Eine Weile sahen wir uns nur schweigend an.
Das Gefühl in mir war zu schön, um es gleich wieder entfliehen zu lassen. Ich wollte es so lange wie möglich festhalten. „Luìs?“ fragte ich schließlich leise. „Träume ich gerade?“ Ein zartes, wehmütiges Lächeln huschte über sein Gesicht. „Nein“ sagte er mit beschlagener Stimme und streichelte meinen Arm. Ich seufzte und fuhr mit der Zunge über meine Lippen, die noch immer von seinem Kuss brannten. „Beweis es mir“ meinte ich dann. Er grinste wieder einmal sein unverschämtes, wunderschönes Grinsen. Er richtete sich halb auf und rückte wieder ein Stück näher zu mir heran. „Soll ich dich zwicken oder…?“ Er sah mich herausfordernd an und ich musste nicht lange überlegten, um mich für „oder“ zu entscheiden. Ich schlang die Arme um seinen Hals und verlor mich für eine weitere kleine Ewigkeit in seinem Kuss.
Ein energisches Räuspern ließ uns hochschrecken. Im hellen Sonnenlicht vor der Stalltür stand Diego mit seinem Pferd am Zügel...






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