Sie kommt

Autor: Berhardt Bless
veröffentlicht am: 13.04.2009




Sie wird mit dem Zug kommen. Aus dem Norden.
Die Lockführer wollten streiken.
Wir haben über alles geredet. Was wäre wenn, wenn sie es tun? Sie müsste dann mit dem Auto nach Berlin kom-men. Doch damit hat sie ein Problem, auch wenn ich versuche, es ihr auszureden, ihr so gut als möglich entge-genzukommen. Sie möchte lieber mit dem Zug fahren.
Und ich stelle fest, dass ich sie auch viel lieber am Bahn-hof abholen würde. Das ist romantischer. Oh Gott, wann habe ich das zuletzt gemacht?
Die Lockführer zögern noch. Die haben kein Verständnis für Leute, die sich kennen lernen wollen. Lockführer sind unsensibel.

Ich nähere mich dem Berliner Hauptbahnhof. Hab noch über drei Stunden Zeit.
Zum Parkhaus. Aber ich bin in der falschen Spur und keiner lässt mich rein. Jetzt bloß keinen Unfall bauen. Zweite Runde. Wieder falsch.
Die Navidame bietet mir an, wenden zu müssen. Die hat keine Ahnung, was hier an einen Freitagmorgen los ist. Wenden!?
Ich versuche eine Nebenstraße. Richtungsverkehr. Die Stimme im Navigationssystem nervt.Der Hauptbahnhof rückt in weite Ferne.
Vor mir ein Gebäude, das sich mir als 'Nordbahnhof' zu erkennen gibt.
Das passt. Parkmöglichkeit ist da und eine S- oder Stra-ßenbahn wird mich schon zum Ziel bringen.
Noch habe ich Zeit. 2 Stunden und 21 Minuten. So schnell kann ich sonst nicht rechnen. Warum heute? Ad-renalinüberschuss?
Auch der Nahverkehr in Berlin soll etwas von uns haben. Ich kaufe zwei Tagestickets, für den Fall des Falles. Die BVB-Fahrer und -Fahrerinnen sollen auch das Gefühl haben, gebraucht zu werden. Ich bin als Ossi schließlich zur Solidarität erzogen worden.
Zum Hauptbahnhof fahren nur Busse. 4 Stationen. Das schaffe ich. Und ich habe noch 2 Stunden und 6 Minuten Zeit.
Das Gebäude, das sich nach dem Aussteigen aus dem Bus vor mir aufbaut, ist riesig.Der Hauptbahnhof der Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland. Gewaltig.
Beim näheren Hinschauen erweist er sich eher als lang-weiliges Monster. Ein Konglomerat aus hastigen Men-schen, lauten Maschinen und dem obligaten Sammelsuri-um immer gleicher Filialen der bekannten Fastfoodketten und Drogeriemärkte. Eingefasst in eine Menge aus Glas, Beton und Stahl.
Ich versuche heraus zu finden, wo ihr Zug ankommt. Das klappt gut. Ganz unten. Wieso verbannt die Bahn ein solches Ereignis in den Keller? Ich weite meine Kritik aus. Nicht nur Lockführer, nein die ganze Bahn an sich erweist sich als völlig unsensibel. Wir gehören nach ganz oben. Aber da fährt kein Zug. Da wird nur umhergeirrt. Zwischen Kommerz und Information.
Und ich habe noch 1 Stunde und 50 Minuten Zeit.
Ob sie überhaupt noch fährt? Was, wenn die Lockführer ihre Drohung doch wahrgemacht haben?
Wozu gibt es Handys?
Die Stimme am anderen Ende begrüßt mich mit 'Pronto' - das macht sie immer, wenn sie nicht weiß, wer sie ge-rade stört. Sie kann es nicht wissen, denn ich habe die Übermittlung meiner privaten Rufnummer unterdrückt.
'Ich bin es, hallo, fährst du noch? Geht es dir gut? Wie fühlst du dich?' - Eine wirkliche Antwort erwarte ich nur auf die erste Frage. Die ist am wichtigsten.
Sie lacht und sagt mir, dass alles okay sei. 'Bis dann, ich freu mich auf dich.' sind ihre letzten Worte am Telefon.

Ihr 'Alles okay' trägt nicht unbedingt zu mehr innerer Ruhe bei mir bei. Sie kommt wirklich.Geht das gut? Ich weiß eigentlich kaum etwas von dieser Frau, die ich bisher nur von ein paar Fotos und aus über 40 E-Mails kenne.
Wird sie enttäuscht sein, wenn sie mich sieht? Wie wird sie überhaupt reagieren? Freundlich, nett aber distanziert, überschwänglich, nervös, unsicher?
In 1 Stunde und 43 Minuten werde ich es wissen.
Inzwischen unternehme ich eine Erkundungstour durch den Bahnhof und stelle fest, dass es kaum etwas wirklich Sinnvolles zu sehen gibt.
Nach 15 Minuten beende ich meinen Rundkurs. Vor ei-nem Blumenladen. Eine Blume ist das Mindeste, was ich ihr zur Begrüßung geben sollte.
Traditionell wäre eine Rose angebracht, beim ersten Date. Eine mehrfarbige.
Zu profan denke ich mir und mein Blick fällt auf einen großen Strauß mit Sonnenblumen.Das erscheint mir originell. Würde auch zu ihr passen. Und alle Leute im Bahnhof würden sie anschauen. Also verwerfe ich den Gedanken. Sie mag es nicht, im Mittel-punkt zu stehen, hat sie mir mal geschrieben. Das sollte ich akzeptieren.

Was bleibt ist letztendlich doch die Rose. Und ich beschließe sie erst 10 Minuten vor Eintreffen ihres Zuges zu kaufen. Die Rose soll wenigstens dann noch etwas frischer wirken, als ich selbst.
Nach weiteren 15 Minuten in einem Presseshop und dem Studium von Stern und Spiegel, die ich dann doch wieder ins Regal zurücklege, weil ich heute überhaupt nicht verstehe, was dort geschrieben steht, entschließe ich mich ruhiger werden zu müssen.
Die Stahlbänke auf dem Bahnsteig sind eigentlich keine Bänke, sondern Einzelsitze. Hart und unbequem.
Niemand soll sich hier wohlfühlen. Warum eigentlich nicht?
Nach einem ersten Sitzversuch gebe ich auf.
Der Bahnsteig misst 168 Schritte. Auf dem Weg von rechts nach links. Auf dem Rückweg sind es nur 165. Habe ich mich verlaufen? Ich schaue mich um. Nein, es ist alles noch okay.Und es sind noch 52 Minuten bis sie kommt.
Ein zweiter Versuch, mit der Härte des Lebens und den Sitzgelegenheiten der Deutschen Bahn zurecht zu kom-men.
Ich muss mich ablenken und fange an, die wenigen Men-schen um mich herum zu beobachten.
Ein junges Mädel steht etwa 10 Meter neben meiner Ge-säß- und Rückenfolter.
Neben ihr eine etwas ältere, abgewetzte Reisetasche. Die scheint sie öfter zu gebrauchen.Vielleicht eine Studentin, die sich ihr Studium auch selbst finanzieren muss. Da bleibt nicht viel für neue Ge-päckstücke übrig.
Sie liest in einer Zeitschrift, deren Titel ich nicht erken-nen kann. Gut das sie nicht merkt, dass ich sie beobachte. Es wäre mir peinlich dabei ertappt zu werden.
Sie ist das, was man für gewöhnlich als vollschlank be-zeichnet. Das geht in Ordnung. Ich mag es eher etwas dünner.
Nur ihr Bauchansatz stört. Darüber täuschen auch die leger getragene Bluse und die offene Jeansjacke nicht hinweg.
Wie mag sie in 15 Jahren aussehen? Wird ihr Mann sie dann verlassen, weil sie ihm zu dick ist? Oder findet sie jemanden, der genau das mag?
Sie hat ein hübsches Gesicht. Das wiegt einiges auf. Und sie scheint klug zu sein. Junge Frauen, die dicke Zeit-schriften lesen, müssen klug sein, sonst würden sie so etwas nicht tun.Ich bin mir sicher, dass sie jemanden finden wird, der sie so mag, wie sie ist. Auch in 15 Jahren noch. Sie wird sich den Richtigen aussuchen und es verstehen ihn zu halten. Sie ist hübsch und klug.

Der Bahnsteig füllt sich und mein Blick zur Uhr sagt mir, dass es Zeit für den Blumenkauf wäre. Wenn ich ganz langsam zum Shop gehe, kann ich die verbleibenden 21 Minuten gut ausfüllen.
Ich bemühe mich langsam zu gehen.
Vor mir im Laden sind zwei ältere Damen, die nur eines offensichtlich ganz genau wissen - was sie nicht wollen. Das dauert. Die Verkäuferin ist die Ruhe selbst. Ich nicht.Die Damen haben sich endlich entschlossen, was sie tun wollen. Sie kaufen nichts.Ich nehme eine Rose. Klar eine rote. Warum auch nicht. Ich lasse es darauf ankommen.'Bitte nicht einwickeln. Ich esse sie gleich.' Die Verkäu-ferin versteht meinen Humor nicht und fühlt sich jetzt irgendwie von mir verarscht. Nach den zwei Damen vor mir, kann ich das verstehen und konfrontiere sie nicht mehr mit meinen Ausflügen in den skurrilen Humor.

Zurück auf dem Bahnsteig, stelle ich fest, dass ich wohl der Einzige bin, der jemanden erwartet. Jedenfalls der Einzige, der dafür Blumen gekauft hat. Welch ein Ereignis.Mache ich etwas falsch? Sind blumige Empfänge out? Hätte ich sie lieber mit einem Eimer voller Kakerlaken begrüßen sollen - Willkommen im Dschungel von Berlin? Das würde zumindest der aktuellen deutschen TV-Kultur entsprechen.
Ich beschließe für mich, das Richtige getan zu haben, auch wenn es wohl nicht mehr der allgemeinen Norm entspricht. Mir fehlt da die Erfahrung. Ist das schlimm?
Wie wird es sein, wenn sie mich mit der Rose sieht? Was ist, wenn sie eine Rosenallergie hat?Werden sie die anderen Menschen hier auf dem Bahnsteig beneiden, wegen dieser Begrüßung oder werden die sie bedauern? Werden sie mich beneiden, um diese Frau? Ich würde es genießen.
Noch zwei Minuten.
Statt der Durchsage, die Gleise zu räumen und dem einfahrenden Zug nicht mit leeren Colaflaschen zu bewerfen, gibt uns eine freundliche Stimme durch den Lautsprecher bekannt, dass sich der ICE um einige Minuten verspätet.
Ich hasse die Deutsche Bahn. Sie ist emotionales Notstandsgebiet.

Nach 8 langen Minuten über die Zeit rollt ein Zug in den Berliner Hauptbahnhof ein und er bringt sie zu mir. Endlich.
Durch die geöffneten Türen spukt er die Menschen wieder aus, die er unterwegs aufgesammelt hat.
Mit dabei ist eine kleine Frau. Mit dunkelrotem Haar, Jeans, einem Shirt und einer weißen Jacke bekleidet und einer riesigen Reisetasche. Viel zu groß und zu schwer für diese kleine und zarte Frau
Sie ist wunderschön. Noch viel schöner als auf ihren Fotos, die sie mir geschickt hat.Sie lacht mich an und ich habe Angst, sie anzufassen. Sie sieht so zerbrechlich aus.Ein flüchtiger Hauch nur auf die Wange als Begrüßung.
'Schön das du gekommen bist' sage ich zu ihr.
'Ich habe es dir doch versprochen.' gibt sie mir als Antwort zurück und unser Tag in Berlin fängt an.









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