Mein Leben, die Anderen und ich

Autor: Yana
veröffentlicht am: 17.05.2009




Eine Woche später stand ich mit gepackter Tasche auf der Türschwelle, die hinausführte. Meine Mutter hatte die Hände auf meine Schultern gelegt und musterte mich ausführlich.'Hast du alles verstanden was ich dir gesagt habe? Zuerst nimmst du ein Taxi, das dich zu dieser Adresse fährt', sie tippte auf den Zettel in meiner Hand. 'Dann stehst du wahrscheinlich schon vor einem gewaltigen Gebäude. Du gehst dann einfach auf die große Eingangstür zu, dann durch den Gang der kommt, anschließend rechts, links und wieder rechts, dann stehst du vor der Tür des Sekretariats. Dort meldest du dich beim Direktor…''Mum, ich habe es verstanden. Ich weiß wo ich hin muss', sagte ich genervt und trat ungeduldig auf der Stelle. 'Das Taxi wartet doch schon.'
Sie nickte. Diesmal panisch. 'Pass auf dich auf, Schatz. Und ruf an, sobald du angekommen bist.'
'Mach ich, Mum.'
Sie nahm mich in den Arm und drückte mich. Es fühlte sich… komisch an. 'Und es ist wirklich nicht schlimm, dass ich dich nicht begleiten kann? Ich würde…'
'Es ist okay, Mum. Bis dann.' Ich gab ihr einen Kuss auf die Wange - eher aus Gewohnheit als aus Liebe - und drehte mich um.
'Pass auf dich auf, Schatz!', schrie sie. Ihre Stimme klang weinerlich.
Ohne mich noch einmal umzudrehen, stieg ich ins Taxi.

Die Fahrt dauerte zwei Stunden. Der Verkehr war ziemlich dicht und es gab Kilometer lange Staus auf den Autobahnen. Als ich schließlich genervt und müde den Taxifahrer bezahlte und anschließend mit dem Gepäck in der Hand auf das Gebäude trat, das weniger eindrucksvoll war, als ich es mir vorgestellt hatte, wünschte ich mir einfach nur ein weiches Bett und Ruhe.Entschlossen die Anmeldung mit allem drum und dran möglichst schnell hinter mich zu bringen, schritt ich durch die große Tür, die sich leicht öffnen ließ. Wie meine Mutter mir mindestens 10 Mal erklärt hatte, lief ich den Gang hinunter, bis ich vor dem Sekretariat stand. Ohne zu zögern klopfte ich und trat ein, als ich hineingebeten wurde.
Eine freundlich wirkende Frau saß hinter einem Schreibtisch. An den Wänden, sowohl hinter, als auch rechts und links von der Frau, hingen Bilder, Urkunden und Fotos der Schule.'Sie müssen Catherine Swan sein! Willkommen an unserer Schule.' Sie sprang auf und packte meine Hand. 'Es ist immer wieder schön, ein neues Gesicht hier zu sehen - und dann noch so ein hübsches! Ich hoffe, Sie werden sich hier wohl fühlen. Aber Schluss jetzt mit dem Geschwafel, Sie sind sicher müde von ihrer Reise. Setzen sie sich doch kurz, ich möchte ihnen alles erklären.'
Ohne ein Wort von mir zu geben, setzte ich mich auf den kleinen Holzstuhl. In mir brodelte es. Diese geschwätzige Frau wirkte zwar sympathisch und ehrlich, jedoch ging sie mir mit ihrer hohen, ätzenden Stimme gehörig auf die Nerven.
'Sie müssen wissen, dass dieses Gebäude nur die Schlafkabine ist. Der Unterricht beginnt in dem etwa zwanzig Minuten entferntem Gymnasium. Es ist nämlich so, dass das Gymnasium zu wenig Schüler hatte, also hat der Staat beschlossen, einige Schlafräume und eine Busverbindung zu errichten und die Schüler dann auf dem Gymnasium zu unterrichten. Und es klappt hervorragend!'
Als ob mich das interessieren würde! 'Sie haben Glück; ihr Zimmer liegt im neuen Gebäude und ist daher ziemlich neu. Außerdem können sie dort zurzeit alleine wohnen. Ich hoffe, das macht ihnen nichts aus?' Fragend musterte sie mich. Schlecht gelaunt schüttelte ich den Kopf. 'Nun gut. Hier ist ihr Schlüssel und Ihre Zimmernummer lautet 13. Wenn sie möchten, führe ich sie hin…'
'Nein, nein, ich werde es schon alleine finden.'
'Wie Sie meinen. Wundern Sie sich nicht, wenn sie keine anderen Schüler sehen. Sie werden erst in drei Stunden zurück sein.'
Ich erhob mich. 'Vielen Dank für den freundlichen Empfang.'
Sie nickte mir zu und reichte den Schlüssel über den Tisch. 'Ich hoffe, Ihnen wird es gefallen.'
Ohne ein weiteres Wort verließ ich den Raum.

Den restlichen Tag verbrachte ich alleine in meinem neuen Zimmer. Es war nicht gerade groß, hatte allerdings ein kleines, eigenes Bad mit Toilette, Dusche und Waschbecken. Ich machte mir nicht die Mühe, den Speisesaal um 19 Uhr aufzusuchen, sondern aß lustlos die Brote, die mir meine Mutter sicherheitshalber mitgegeben hatte.
Um 22 Uhr ging ich schlafen. Auf einen nächtlichen Spaziergang verzichtete ich.

Am nächsten Morgen klopfte es in aller Frühe an meiner Tür. Todmüde schleppte ich mich dorthin und öffnete sie griesgrämig.
'Guten Morgen, Catherine! Ich darf doch Catherine sagen, oder? Ich dachte mir, ich wecke sie vorsichtshalber, da ich Ihnen ganz vergessen hatte zu sagen, wann sie aufzustehen haben. Das Frühstück beginnt nämlich um halb sieben, der Schulbus fährt um halb 8. Haben Sie noch eine Frage?'
Schlecht gelaunte schüttelte ich den Kopf und knallte die Tür wieder zu. Es war mir egal, was sie von mir dachte. Ich schmiss mich wieder in mein Bett und steckte den Kopf unter das Kissen. Erst um viertel nach 7 sprang ich auf, bürstete mein Haar und zog mich an. Dann machte ich mich auf den Weg zur Bushaltestelle, die nicht schwer zu finden war, da ich einfach nur den anderen Schülern folgen musste, die in Scharen durch die Gänge eilten und mir neugierige Blicke zuwarfen.
Als ich wenige Minuten später aus dem Gebäude trat sah ich schon von weiten den Bus. Auf dem Kiesweg, der durch einen schönen, grünen Garten mit großen Bäumen führte, lief ich auf den großen, grauen Bus zu. Einige Schüler tummelten sich schon davor. Als ich mich umschaute, entdeckte ich noch fünf weitere Busse. Kopfschüttelnd über solchen Umstand, so viele Schüler jeden Morgen zu der Schule zu transportieren, stieg ich in einen Bus. Er war noch ziemlich leer, daher hatte ich freie Platzauswahl. Schließlich setzte ich mich auf einen der hintersten Plätze und starrte aus dem Fenster. Hoffentlich würden die Lehrer okay sein.Wenige Minuten später füllte sich der Bus, bis plötzlich eine große Gestalt vor mir auftauchte, Träge hob ich den Blick und starrte in das Gesicht eines attraktiven Jungen. Es war ein typischer Durchschnittsmensch. Braune, kurze Haare, graue Augen, langweilige Gesichtszüge. 'Du sitzt auf meinem Platz, Mädchen.' Stirnrunzelnd musterte ich seinen Körper. Breite Schulter, schmale Hüfte, muskelbepackt. Nicht zu viel und nicht zu wenig. Perfekt.
'Was ist?', fragte ich, obwohl ich ihn verstanden hatte.
'Das ist mein Platz, auf den du sitzt', wiederholte er mit einem knurrenden Unterton. Sein Blick blieb an meinem Ausschnitt hängen.
'Falsch. Es WAR dein Platz, auf dem ich sitze.'
Der Junge stutzte kurz, als wunderte er sich, dass ich ihm wiedersprach. Ich wandte den Blick von ihm und drehte ihm den Rücken zu.
Ich konnte seine Wut hinter mir spüren, hören wie er mit den Zähnen knirschte und die Luft scharf einsog. Eine tiefe Zufriedenheit durchschoss mich, als mir klar wurde, dass ich ihn verärgert hatte.
'Du bist ziemlich frech, Mädchen. Du solltest dich nicht mit mir anlegen.'
Ich wandte mich ihm wieder zu. 'Ich habe einen Namen.'
'Das interessiert mich nicht, Mädchen. Steh von meinem Platz auf.'
'Ich wüsste nicht warum. Such dir einen anderen.'
Ich sah die Bewegung schon kommen, machte mir allerdings nicht die Mühe, auszuweichen. Grob packte der Kerl mich am Arm und zerrte mich hoch. 'Weil ich es dir befehle, Mädchen. Leg dich nicht mit mir an', wiederholte er. 'Sonst mach ich Kleinholz aus dir.'
Kalt musterte ich ihn. 'Vielleicht solltest du dich lieber vor mir in Acht nehmen, Idiot.'Er warf den Kopf zurück und lachte. 'Das sagt mir ein Mädchen mit dünnen Armen und Beinen! Von wo willst du bitte den Indianerstamm hernehmen, um mich zu besiegen?!''Ich brauche keinen.'
Wieder lachte er. 'Du kannst dich nicht einmal wehren!' Seine Hand schoss hervor und landete auf meiner Brust. Ich versuchte zurückzuweichen, doch ich stieß gegen den Sitz. 'Nehm deine dreckigen Pfoten von mir', zischte ich und versuchte seine Hand wegzuschlagen. Doch mit seiner anderen Hand umfing er mein Handgelenk. 'Warum sollte ich? Ich dachte du kannst dich wehren? Oder willst du das gar nicht? Gefällt es dir? Hm?' Angeekelt riss ich mich mit einer geschmeidigen Bewegung los und rammte ihm das Knie in den Unterleib. Er sank mit einem unterdrückten Schrei auf die Knie. 'Fass mich nie wieder an, Idiot.' Provozierend nah drängte ich mich an ihm vorbei und machte mich auf die Suche nach einem anderen Platz.

Ich hätte ihn nicht provozieren dürfen. Doch wie hätte ich ahnen können, dass er nicht das war, für den ich ihn hielt? Wie hätte ich ahnen können, dass das Gefühl der Überlegenheit, das ich in dieser Situation verspürt hatte, mich nur in Schwierigkeiten bringen würde? Wie hätte ich ahnen können, dass genau dieses Handeln mich noch tiefer in den Abgrund stürzen würde? Wie hätte ich ahnen können, dass er mein Leben zerstören würde?
Vielleicht hätte ich es ahnen können, wenn ich ihn mir näher angeschaut hätte, wenn ich auf seine Augen, seine Körperhaltung und seinen Geruch geachtet hätte. Doch in meiner Blödheit und Selbstsicherheit, war ich nicht einmal auf die Idee gekommen, tief in ihn hineinzuschauen.

'Willst du dich setzen?' Der Bus fuhr seit einigen Minuten und schaukelte beträchtlich, als ein Junge mich ansprach. Schwankend wankte ich zu der Stimme um und starrte in strahlend blaue Augen. Ich brauchte einige Sekunden um mich wieder zu fangen und aus der Farbe dieser Iris wieder aufzutauchen.
'Äh… nein… nein. Ist schon okay.' Ich musterte sein ganzes Gesicht. Es war kantig und ließ ihn älter wirken, als er wahrscheinlich war. Über seine leicht hervortretenden
Wangenknochen spannte sich braune Haut. Blondes Haar fiel ihm ins Gesicht. Auch sein Körper war nicht zu bemängeln.
'Bist du sicher? Du siehst etwas unsicher auf deinen Beinen aus.'
Verärgert kniff ich die Augen zusammen. Ich war nicht sauer über seine Feststellung, sondern eher auf mich, weil er recht hatte. Ich fühlte mich schwach und ausgelaugt, seit dem heutigen Morgen.
'Ist schon okay', fauchte ich zickiger, als ich beabsichtigt hatte.
Entschuldigend und abwehrend schob er die Hände vor sein Gesicht. 'Pardon. Ich wollte dir nicht zu nahe treten.' Er setzte sich wieder auf seinen Sitzplatz und wandte mir seinen muskulösen Rücken zu.
Super, wenn ich so weiter machte, hatte ich bald die ganze Schule gegen mich.Seufzend klammerte ich mich fester an die Haltestange des Busses und hoffte, nicht umzufallen. Ich spürte selbst, das Zittern meiner Beine. Vielleicht sollte ich mehr essen.Als der Bus 15 Minuten später hielt, atmete ich erleichtert auf. Mittlerweile zitterte ich am ganzen Körper. Doch ich ignorierte es und folgte den anderen Schülern.
Als ich die Stufen aus dem Bus runter laufen wollte, rutschte ich aus, beziehungsweise stolperte über irgendetwas. Ich dachte schon, ich würde auf der Nase landen, als sich eine Hand um meinen Arm legte und mich festhielt und mich so vor einer Blamage hinderte.'Danke', murmelte ich, ohne der Person einen Blick zu schenken.
'Kein Problem. Pass das nächste Mal aber am besten besser auf', kicherte ein Mädchen. 'Du musst die neue sein, nicht wahr? Ich bin Jessica. Wir gehen in dieselbe Klasse. Du hast sicher keine Ahnung wo du hin musst, nicht wahr? Folg mir einfach. Ich zeig dir wo es lang geht. Und wenn du möchtest zeig ich dir in der Mittagspause das ganze Schulgebäude.'Wie die Stimme vieler anderer Menschen auch, fand ich ihre ätzend. Sie verursachte mir Kopfschmerzen. 'Ich schau mir das Gebäude lieber alleine an', antworte ich ohne längeres Umschweifen. 'Aber vielen Dank für das Angebot', presste ich hervor, als ich ihren verletzten Blick sah. Ich musste es mir ja nicht auch noch mit ihr verderben.
Ein zaghaftes lächeln breitete sich auf ihrem elfenbeinfarbenen Gesicht aus. 'Okay, dann komm.' Der geflochtene Pferdeschwanz schwang von rechts, nach links, als sie sich umdrehte und loslief. Wie ein Dackel, folgte ich ihr.

Die Schule und ihr Unterricht unterschieden sich sehr, von den anderen Schulen, die ich bisher kannte. Man hatte zum Beispiel keine eigenen Schulbücher, sondern man musste sie vor Unterrichtsbeginn aus dem Schrank im Unterrichts- und Fachraum holen. Stifte standen auf den Schulbänken bereit. Außerdem war der Unterricht lockerer, unterhaltsamer und interessanter. Die Lehrer waren relativ normal, nicht so verkorkste wie bei vielen anderen Schulen. Sie machten Witze, lachten und alberten teilweise mit uns Schülern mit. Es gab keine unangekündigte Tests oder mündliche Noten. Wenn man wollte, konnte man eine Zusammenfassung über ein abgeschlossenes Thema des Unterrichts machen und dann beim Lehrer abgeben, um seine Noten zu verbessern.
Alles verlief so ziemlich relaxed. Es gab höchstens eine Arbeit pro Woche, sagte man mir. Es kam nie vor, dass man unter Druck kam - wegen dem Lernen und so.
All das erfuhr ich vor der Mittagspause. Als schließlich die Klingel nach zwei Stunden Englisch, einer Stunde Deutsch und Biologie klingelte, machte ich mich auf den Weg zum Pausenhof, den ich am Morgen überquert hatte, als ich zur ersten Stunde gegangen war. Mittlerweile hatte ich auch meinen Stundenplan, auf dem sogar die Unterrichtsräume draufstanden.
Da ich eine Stunde frei haben sollte, suchte ich mir schnell ein ruhiges Plätzchen und rief mir das Bild einer getigerten Katze in Erinnerung. Ich spürte, wie sich mein Körper zusammenzog. Wie jedes mal, schmerzte es. Doch dafür verschwand der psychische Schmerz, der mich immer begleitete. Doch die Schwäche, die seit heute in meinen Gliedern schlummerte, bestand weiterhin.
Auf Samtpfoten machte ich mich auf Erkundungstour. Ich strich um die Ecke und mischte mich unter die Schüler, die mich erstaunt musterten. Anscheinend waren Katzen hier nicht sonderlich häufig.

Natürlich hätte ich meine Erkundungstour damals auch als Mensch starten können, doch ich fand es interessanter, toller die Umgebung abzusuchen, ohne erkannt zu werden. So konnte ich mir ein Bild von mehreren Menschen machen, ohne dass sie sich eines von mir machen konnten.
Außerdem machte es mir Spaß, mich in ein Tier zu verwandeln und es erfüllte mich mit Ruhe, keine Kopf- und Herzschmerzen zu haben.
Heute würde ich jeden Schmerz hinnehmen, nur um meine Selbstverachtung und meinen Selbsthass loszubekommen.

Fünf Minuten streifte ich ziellos über den Hof, als ich den Typen aus dem Bus wiedersah. Es war der, mit den braunen Haaren und dem durchschnittlichen Aussehen. Ich lief auf ihn zu.'Seht, was haben wir denn da? Ein Kätzchen. Ist das nicht niedlich?', sagte er verächtlich zu seinen Freunden. 'Komm her, Mietze.' In einem Meter Entfernung blieb ich stehen und musterte seine Freunde. Unter ihnen war auch der Blonde aus dem Bus.
'Komm doch her, Mietz, Mietz.' Er machte einen Schritt auf mich zu. Ich ließ ihn gewähren. 'Komm her.' Er streckte die Hand aus, ich duckte mich und schoss unter ihm hindurch, als er mich packen wollte. Blitzartig wirbelte ich wieder herum, um ihn wieder im Auge zu haben.Verwundert musterte er mich. Dann verfinsterte sich sein Blick. 'Ich weiß nicht, wer du bist', zischte er so leise, dass seine Kumpels ihn unmöglich verstehen konnten 'doch ich werde dich finden, fangen und dann zerreißen.'
Ich fauchte und schlug mit meinen Krallen nach ihm, obwohl ich wusste, dass ich ihn nicht treffen konnte. Es sollte eine Drohung an ihn sein.

Ich verstehe bis heute nicht, wie dumm ich damals hatte sein können. Seine Worte waren damals leere Drohungen für mich gewesen. Ich hatte sie nicht ernst genommen. Wie dumm von mir.

'Komm, Marc, lass die Katze.' Einer seiner Kumpels klopfte ihm beschwichtigend auf die Schulter. 'Lass uns lieber in die Stadt fahren und ein par Mädels aufreißen.'
Marc riss seinen Blick von mir los und antwortete: 'Ich habe keine Lust, auf Stadt. Ich habe noch etwas zu erledigen.' Er wandte sich ab, und ging. Ohne zu zögern wollte ich ihm folgen, doch plötzlich schlossen sich zwei Hände um mich und hoben mich hoch. Fauchend protestierte ich.
'Ich komm auch nicht mit. Ich glaube, ich weiß wem die Katze gehört', murmelte der Blonde, der mich hochgehoben hatte und entfernte sich von seinen Freunden. Ich schnappte nach seiner Hand. 'Jetzt hör schon auf. Ich tue dir nichts', sagte er leise. Merkwürdigerweise spürte ich, dass seine Stimme mich beruhigte. Sie drang in mein Bewusstsein ein und schien meine Seele zu streicheln. Ich hielt still.
'So ist es gut.' Er blieb etwas abseits von allen anderen stehen, ließ mich jedoch nicht los. 'Es wäre keine gute Idee gewesen, ihm zu folgen. Er mag keine Katzen.'
Ich peitschte mit dem Schwanz. 'Du solltest dich besser von ihm fernhalten. Er ist gefährlich.' Mein Kopf neigte sich zur Seite, als er anfing, mich hinter meinem Ohr zu graulen. Mir wurde bewusst, dass ich schnurrte. Erschrocken zuckte ich zusammen und sprang aus seinen Armen, die locker gelassen hatten, als er gemerkt hatte, dass ich mich entspannte. Mit einigen Sätzen kletterte ich den Baum hinauf, unter dem der Junge stand, und brachte so Abstand zwischen uns. Meine Instinkte sagten mir, dass ich mich von keinem Fremden anfassen lassen durfte - und ER war ein Fremder.
Zu meiner Verwunderung machte er keine Anstalt, mich zurück zu holen, sondern drehte sich einfach nur um und ging. Verwundert blickte ich ihm nach.
Als er meinem Sichtfeld entschlüpft war, sprang ich mit einem Satz von dem Baum und blieb unentschlossen stehen. Vielleicht sollte ich mir das Gelände etwas genauer ansehen.

Kurz bevor die Mittagspause zu Ende war, verwandelte ich mich zurück in meine menschliche Gestalt und machte mich auf den Weg zu meinem Klassensaal.Ratlos irrte ich durch das Schulgebäude. Meine Orientierung war heute nicht gerade die Beste.
'Kann ich dir irgendwie helfen?' Ich zuckte zusammen, als eine Gestalt neben mir auftauchte. Es war der blonde Junge. 'Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken.'
Ich schüttelte den Kopf. 'Du kannst nichts dafür. Es liegt wohl eher an mir.' Seine Stimme… es verwirrte mich. Irgendwie hatte sie eine beruhigende Wirkung auf mich. Wie hatte ich das heute Morgen im Bus nicht merken können? Ich wunderte mich über mich selbst, wie ich ihn hatte anschnauzen können.
'Wohin musst du?', fragte er mich.
'Saal 204.'
Er lachte auf. 'Du bist im völlig falschen Gebäude. Dafür musst du den Schulhof überqueren und auf die andere Straßenseite.'
Ich stöhnte auf. 'Na super. Wieso ist die Schule auch nur so groß?'
'Keine Sorge. In ein paar Wochen kennst du dich hier aus. Das war bei mir auch so.''Wie heißt du eigentlich?' Es fiel mir leicht, ein normales Gespräch mit ihm zu führen. Vielleicht, weil mich seine Stimme nicht ankotzte.
'Can.'
Ich erwartete, dass er mich auch fragen würde, wie ich hieße. Doch stattdessen fragte er: 'Soll ich dich rüber bringen? Meine Lehrerin kommt eh meistens zu spät, da macht es nichts aus, wenn ich nicht pünktlich komme.'
'Das wäre nett', antworte ich, da ich keine Lust hatte, weiter durch die Gegend zu irren.Auf dem Weg zu meinem Saal unterhielten wir uns ein wenig. Ich erfuhr von ihm, dass er zwar auf diese Schule ging, allerdings bei seinen Eltern wohnte, die gegenüber dem Schlafhaus lebten. Außerdem war er 17 Jahre und hatte eine kleine Schwester. Das war alles, was ich von ihm in so kurzer Zeit erfahren konnte.
Von mir selbst erfuhr er eher weniger. Ich erzählte ihm nur, dass ich unbedingt wissen wollte, wie es sich ohne die eigene Mutter lebte. Das war alles. Über mehr war ich nicht bereit zu reden.
'Da wären wir', sagte er schließlich. 'Wir sehen uns dann später, ciao.' Er drehte sich um und ging.

Als um 16 Uhr endlich die Schule vorbei war, hatte ich stechende Kopfschmerzen und schmerzende Glieder. Mein Körper war so kraftlos, wie nach einer schweren Grippe.'Na? Den Tag überstanden?', zwitscherte Jessica neben mir, die den ganzen Unterricht lang neben mir gesessen hatte.
'War gar nicht so schlimm', murmelte ich und schlappte hinter ihr her.
'Ja, die Lehrer sind echt der Hammer, was?'
Ich nickte bloß.
'Ich muss mit dem blauen Bus da drüben fahren, sonst ist meine Freundin total eingeschnappt, wenn ich nicht mit ihr fahre. Das ist doch okay, oder?', fragte sie mich.'Klar', ich versuchte nicht einmal meine Erleichterung zu überspielen.
'Bis dann', sie umarmte mich und verschwand schließlich.
Als ich in den grauen Bus einstieg und mich auf einen freien Platz sinken ließ, war ich erleichtert, den ersten Tag hinter mir zu haben.
'Siehst ganz schön fertig aus, Mädchen.' Ich musste nicht einmal die Augen öffnen, um zu wissen, wer mich an gelabert hatte. 'Eine Nacht mit mir und du bist wieder fit wie ein Turnschuh', baggerte er mich an und setzte sich neben mich. Genervt und leidend unter meinen Kopfschmerzen hob ich den Kopf und starrte ihm in seine grauen Augen. 'Lieber sterbe ich, als eine Nacht mit dir zu verbringen.'
Durch zusammengekniffene Augen starrte er mich an. 'Du solltest dich nicht mit mir anlegen, Mädchen. Es ist nicht gut Kirchenessen mit mir.' Er erhob sich und ging.
'Wixxer', murmelte ich.
'Ich hoffe doch, dass du nicht mich meinst?', lächelnd setzte sich Can neben mich. 'Aber Marc hat recht. Du solltest dich nicht mit ihm anlegen.'
'Wieso nicht? Was habe ich zu verlieren', murmelte ich schläfrig und legte den Kopf gegen die Glasscheibe.
'Ich weiß es nicht', antwortete er, obwohl er wissen musste, dass ich keine Antwort von ihm verlangt hatte. 'Geht es dir gut?'
Ich überlegte kurz. 'Abgesehen davon, dass ich total fertig und müde bin, und dauernd an meine beste Freundin denken muss, die gestorben ist beziehungsweise umgebracht wurde und ich immer noch keine Ahnung habe warum, weil mir niemand sagen will, was passiert ist, geht es mir berauschend', dachte ich, sprach es jedoch nicht laut aus. Es ging ihn schließlich nichts an.
'Mir geht es super, danke der Nachfrage', sagte ich stattdessen.
Wieder lachte er. 'Ich glaube dir kein Wort.'
'Musst du auch nicht.'
'Dann sag mir doch einfach die Wahrheit.'
'Welche Wahrheit denn?'
'Die Wahrheit über dein befinden', half er mir nach.
'Ich habe Kopfschmerzen, das ist alles. Und ich will meine Ruhe.'
'Wenn du möchtest, lass ich dich in Frieden', sagte er.
Ich zuckte mit den Schultern. Er erhob sich und ging.
Super.

Diesen Abend hatte ich eigentlich vorgehabt, etwas zu essen. Doch irgendwie hatte ich mich auf mein Bett gelegt und war eingeschlafen. Um 22 Uhr wachte ich schließlich wieder auf und fühlte mich noch schlechter als zuvor. Mein Kopf pochte wie verrückt und meine Glieder waren steif und schwer. Und nicht nur meinem Körper ging es schlecht. Auch meiner Psyche. Ich musste viel zu oft an meine Freundin denken und ich wollte unbedingt wissen, was mit ihr geschehen war. Doch aus meiner Mutter und Frau Zimmermann war nichts rauszubekommen. Und in der Zeitung war auch nichts gestanden. Irgendwann würde mich die Ungewissheit auffressen, das wusste ich.
Zu allem übel musste ich an Can und seine Stimme denken, die meine Kopfschmerzen in den Hintergrund drängte. Vielleicht sollte ich…?
Ich sprang auf und riss das Fenster hoch. In wenigen Sekunden war ich die gestreifte Katze und sprang aus dem Zimmer. Schwerfällig durchquerte ich den Garten und rannte auf die andere Straßenseite. Ich hatte keine Ahnung wo er wohnte, daher dauerte es eine Weile, bis ich ein Schild mit der Aufschrift 'Magaret, Albert und Can Black' entdeckte. Was für ein Glück, dass nicht nur der Nachnamen darauf stand.
Ich duckte mich zum Sprung und überwand den Gartenzaun. Langsam strich ich die Hauswand entlang und überlegte, wo wohl sein Zimmer sein könnte. Als erstes schaute ich durch die Fenster des Erdgeschoss. Doch dort war alles dunkel und still. Also schoss ich unter einer großen Kraftanstrengung die Hauswand hinauf und blieb schließlich auf einem Fensterbrett sitzen. Ich starrte durch das Glas und entdecke mühelos im Dunkeln ein Bett. Er schlief schon.
Ich miaute, in der Hoffnung er würde mich hören - und nicht die Nachbarn. Doch da drin regte sich nichts. Schließlich kratzte ich am Fensterrahmen. Lauter und lauter scharrte ich. Endlich bewegte er sich. Ich kratzte energischer. Er setzte sich auf. Ich fauchte. Er erhob sich, schaute mich verwirrt an und kam schließlich auf mich zu. Ich fauchte. Endlich öffnete er das Fenster.
'Was machst du denn hier, Mietze?' Schlagartig entspannte sich mein Körper, beziehungsweise der Körper der Katze, als ich seine Stimme hörte. 'Dann komm doch rein.' Er nahm mich vom Fensterbrett und schloss es wieder. 'Dir war wohl langweilig, was?', lachend setzte er mich ab und schmiss sich wieder auf sein Bett. Mit einem Satz sprang ich zu ihm. Herrlich weich - im Gegensatz zu dem Bett in meinem Zimmer. Unentschlossen trat ich auf der Stelle und suchte die Dunkelheit mit den Augen ab.
'Ich wundere mich nur, was du hier willst. Für eine Katze bist du schon ziemlich seltsam.' Ich ließ mich auf den Bauch fallen und schloss die Augen. Eine Weile hörte ich ihm noch beim Reden zu, dann schlief ich ein.

Am nächsten morgen wachte ich auf, als Can versuchte aus dem Bett zu schlüpfen, ohne mich von seiner Decke zu schmeißen. Missmutig sprang ich auf und erhaschte einen Blick auf seine Nachtischuhr. 7.15 Uhr. Das Frühstück hatte ich schon einmal verpasst. Und wenn ich mich nicht beeilte, würde auch noch der Bus ohne mich fahren.
'Tut mir leid fürs Wecken, Mietze. Hast du vielleicht Hunger?' Ich miaute zustimmend und reckte mich. Ich fühlte mich seltsam entspannt, jedoch immer noch schwach auf den Beinen.'Ich bin gleich wieder da.'
Ich konnte nicht auf ihn warten, denn würde ich zu spät zum Bus kommen, würde ich auch gleichzeitig zu spät zur Schule gelangen. Und schon am zweiten Tag mitten in den Unterricht zu platzen, machte sich auch nicht gerade gut.
Nur war die Frage, wie ich das Fenster aufbekam, ohne mich zurück zu verwandeln. Mit einem weniger federnden Sprung sprang ich auf das Fensterbrett und versuchte das Fenster mit der Schnauze aufzuschieben. Es knackte nicht einmal. Enttäuscht schlug ich mit der Pfote gegen das Glas.
'Sag doch gleich, dass du nach draußen willst.' Can tauchte auf und riss an dem hölzernen Rahmen. Eilig machte ich mich aus dem Staub.

Ich schaffte es in fünf Minuten zu meinem Zimmer. Dort nahm ich wieder meine menschliche Gestalt an und zog mir andere Kleidung an. Den Kamm schnappte ich aus meinem Koffer, den ich noch nicht einmal ausgepackt hatte, und fegte aus der Tür. Die Gänge waren schon leer. So schnell mich meine schwachen Beine trugen, rannte ich nach draußen. Zu meiner Erleichterung standen die Busse noch da. Nach wenigen Sekunden erreichte ich schon den Grauen und stieg ein. Eine Sekunde darauf fuhr er los. Hastig griff ich nach einer Haltestange und klammerte mich fest.
'Hier ist noch ein Platz frei', Can deutete auf den Sitz neben sich. 'Im Sitzen kämmt das Haar sich leichter.' Er deutete lächelnd auf den Kamm in meiner Hand. 'Hast wohl verschlafen, was?!'
Ohne ihm zu antworten, ließ ich mich neben ihn fallen.
'Keine Sorge, du bist nicht die einzige, die den Wecker überhört hat.' Er deutete auf seine zerzausten Haare. 'Darf ich mir mal deinen Kamm borgen?'
Ich zuckte mit den Schultern und verkniff mir den Kommentar, dass er so viel süßer aussah. 'Du solltest mal etwas essen', redete er weiter.
'Wieso?', brach ich schließlich mein Schweigen.
'Du bist zu dünn', antwortete er schlicht. 'Außerdem hört man deinen Magen durch die ganze Stadt.'
Darauf erwiderte ich nichts. Stirnrunzelnd gab er es schließlich auf, ein Gespräch mit mir anfangen zu wollen und kramte eine Zeitung hervor. Desinteressiert warf ich einen Blick auf das Titelblatt und stockte.
'Identität des Mädchenmörders preisgegeben.' So lautete die Überschrift.
'Darf ich mal?', ich wartete nicht auf seine Antwort, sondern riss ihm das Blatt aus der Hand. Starr starrte ich auf das Bild eines Mannes. Er war groß, kräftig, hässlich. Schweigend und hastig überflog ich den Artikel. Dann ließ ich die Zeitung sinken.
Er war von der Polizei noch nicht geschnappt worden. Allerdings stand es außer Frage, dass er nichts mit den toten Mädchen zu tun hatte. Und ich war mir totsicher, dass er auch meine beste Freundin auf den Gewissen hatte.
Heiße, hasserfüllte Wut stieg in mir auf. Wie eine geballte Flutwelle kroch sie durch meine Glieder, Muskeln und explodierte schließlich, wie ein gewaltiger Vulkan. Mein Körper zitterte, als ich einen wütenden Schrei unterdrückte und mich zwang, sitzen zu bleiben. Ich war wortwörtlich blind vor Wut. Ich sah rot und schwarz, aber keine Umrisse.Und ich hatte nur ein Ziel vor Augen: Ich musste meine beste Freundin rächen. Und das so schnell wie möglich.
Ich ballte die Hände zu Fäusten, um nicht wie wild um mich zu schlagen. Ungeduldig wartete ich darauf, dass der Bus endlich anhielt. Doch er fuhr und fuhr… schaukelte, wackelte, bebte…
'Alles in Ordnung mit dir?', fragte Can neben mir.
'Ja', presste ich hervor, die Wut unterdrückend. Es schien mir, als wäre dieses heiße Gefühl in mir ein Monster, das jeden Moment meinen Körper verlassen konnte und alles und jeden zu Kleinholz zerhacken würde.
'Du siehst so aus, als würdest du gleich platzen', sagte er noch, befand es dann wohl aber besser, zu schweigen.







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