Mein Leben, die Anderen und ich

Autor: Yana
veröffentlicht am: 08.02.2009




'Ich frag mich, was daran so schlimm gewesen wäre, wenn man dich untersucht hätte! Dann hättest du doch wenigstens auch eine Bestätigung, dass mit dir alles in Ordnung ist! Ich meine, dass das nicht normal ist, einfach ohnmächtig umzukippen bei einer Frequenz von was weiß ich wie viel das war!' Bla, bla, bla. Schon seit zwanzig Minuten konnte ich mir die nervigen Vorwürfe von Jessy anhören. Immer fragte sie dasselbe. Warum, warum, warum. Und das in einem viel zu lauten, schrillen Ton.
'Ich lass mich halt nicht gerne anfassen', zischte ich und ging etwas schneller. Wir waren auf dem Schulweg nach Hause.
'Nicht anfassen, pah!', machte sie und lachte verächtlich. 'Von Jungs lässt du dich doch auch immer begrabschen!' Ich warf ihr einen Blick zu, zu dem der Spruch 'Wenn Blicke töten könnten, wärst du jetzt tot', passte. Sie wusste genau, dass ich mich nur einmal hatte anfassen lassen, als ich betrunken gewesen war. Einmal. Nicht mehr. Und sonst flirtete ich nur. Aus sicherem Abstand.
'Sogar mit Jack fummelst du rum!' Aha, daher wehte der Wind. Jack war Jessy's heimliche Liebe. Er hatte mich einmal richtig arg angebaggert - genau vor ihren Augen,
beziehungsweise Ohren, und das hatte ihr gar nicht gepasst hatte. Was ich auch verstehen konnte, doch was konnte ich dafür, wenn er baggerte? Ich hatte ihn schließlich nicht dazu angestiftet.
Jedenfalls hatte sie mir das ziemlich übel genommen und Tagelang nicht mehr mit mir geredet. Und scheinbar war sie ziemlich nachtragend.
'Würde mich nicht wundern, wenn du mit ihm schon im Bett warst!', provozierte sie mich weiter.
'Jessy, halt einfach deine Klappe. Du weißt genau, dass ich das niemals machen würde. Schon gar nicht hinter deinem Rücken!'
'Achja? ACHJA?', sie blieb stehen und fing an zu schreien. 'UND DAS SOLL ICH DIR GLAUBEN??? MIT WIE VIEL TYPEN HAST DU EIGENTLICH SCHON GESCHLAFEN, HÄ? ZWANZIG, DREISIG? ODER SOGAR SCHON MIT DER GANZEN
MÄNNERSCHAFT UNSRER SCHULE???'
Ich hielt mir die Ohren zu und schüttelte den Kopf. 'JAJA, HALT DIR NUR DIE OHREN ZU UND IGNORIER MICH! ICH BIN JA NUR EIN HÄSSLICHES ENTLEIN, DEM MAN NICHT ZUHÖREN MUSS!'
Wütend stapfte sie an mir vorbei. Sobald die Schmerzen in meinem Kopf verklungen waren, lief ich ihr hinterher, packte sie an der Schulter und riss sie zu mir herum. 'Sag mal, Jessy, was ist eigentlich dein Problem? Was hab ich dir getan? Ich habe nie mit Jack geschlafen, das schwöre ich dir!' Warum rechtfertigte ich mich eigentlich vor ihr?
'DAS IST ES DOCH GAR NICHT!!!' Ihre Stimme wurde lauter, doch in ihre Augen stiegen die Tränen.
'Was dann?' Wenn sie weinte, bekam ich immer sofort Mitleid mit ihr. Ich hasste das.'MAN BIST DU BLIND ODER WAS? ICH DACHTE DU BIST TOT!!! MEINE BESTE FREUNDIN T-O-T!!!' Wie ein begossener Pudel sank sie in sich zusammen. Sie setzte sich mitten auf den Fußgängerweg und vergrub das Gesicht in die Hände. 'Und dann lässt du dich nicht einmal untersuchen, schreist mich nur an, dass ich aufhören soll zu schreien und redest fast kein Wort mehr mit mir!' Ich kniete mich neben sie und legte eine Hand auf ihr Knie. Natürlich, so war sie. Statt sofort ihre Tränen zu zeigen, zeigte sie sich als grausam und kalt. 'Jessy, ich würd dich doch niemals alleine lassen. Ich sterbe nicht so einfach dahin. Keine Sorge', ich legte einen Arm um ihre Schulter und drückte sie an mich. 'Das war doch nur eine harmlose Ohnmacht.'
'Du hattest keinen Puls mehr!', schluchzte sie.
'So ein quatsch. Wahrscheinlich warst du einfach zu aufgeregt und hast ihn deshalb nicht gefunden.'
Langsam, aber sicher beruhigten sich die wilden Schluchzer meiner besten Freundin und gingen in ein leises Schniefen über. 'Die Hauptsache ist doch, dass ich noch lebe, oder? Und dass ich mich nicht untersuchen lassen hab, ist doch auch kein Weltuntergang. Mir ging es noch nie besser. Ehrlich.' Ich war schon immer gut im Lügen gewesen.
'Ich hatte so Angst dich zu verlieren…', wieder schluchzte sie und weitere Tränen flossen über ihre geröteten Wangen. Sanft wiegte ich sie in meinen Armen. Ich konnte sie verstehen. Wenn man dachte, man hätte jemanden verloren, stand man unter einem leichten Schock.

Meine arme, sensible Jessy. Da lag sie Minuten lang in meinen Armen und heulte Rotz und Wasser. Oh, wie leid sie mir damals tat. Sie sah aus, wie ein kleines, hilfloses Kind, das seine Mutter verloren hatte.
Doch damals hätte ich sie niemals los lassen sollen. Dann wäre das alles gar nicht passiert. Dann wäre sie vielleicht noch am Leben, würde neben mir stehen und darüber lachen, dass ich euch eine Geschichte Erzähl. Meine Geschichte.
Oh Jessy! Wie sehr ich dich vermisse. Dein glockenartiges Lachen, dein Engelslächeln, deine befreiende Art, deine Worte. Wenn ich könnte, würde ich dich zurück holen, zu mir.Doch ich weiß, dass es nicht geht. Ich muss mich mit dem Gedanken, dass du bei mir bist, ich dich nur nicht sehen, riechen und hören kann, abfinden, sonst kann ich den Schmerz nicht verdrängen. Und Schmerz kann ich mir nicht erlauben. Schmerz ist eine Schwäche.

'Geht es wieder?', fragte ich vorsichtig, als die letzten Schluchzer verebbt waren, und schob sie sanft von mir.
'Ja… danke', sie schniefte ein letztes Mal und richtete sich anschließend auf. 'Tut mir leid, dass ich dir vorhin so ekliges Zeug an den Kopf geworfen habe. Das war nicht Richtig von mir.'
'Ist schon okay, Jessy. Aber lass uns jetzt weiter gehen, sonst kommen wir Beide zu spät zum Mittagessen', sagte ich und packte ihre Hand.
'Okay.'
Nebeneinander, Hand in Hand gingen wir weiter. Als sich unsere Wege trennten und wir voneinander Abschied nehmen mussten, umarmten wir uns kurz und versprachen, wie jedes mal, dass wir aufpassen würden, dass uns selbst nichts passierte. Es war sozusagen ein Art Ritual.

Doch dieses Mal sollte es keine Wirkung haben. Doch das wusste ich nicht. Damals war es noch die heile Welt für mich.

Als ich durch die Haustür trat, kam mir ein saftiger Geruch von gebratenem Fleisch entgegen. Und wenn ich mich nicht irrte, lag da noch ein Hauch Kartoffel in der Luft. Und Knoblauch.'Hey Mum, ich bin zu Hause!', schrie ich uns kickte meine Schuhe in die Ecke.
'Kind, da bist du ja endlich! Ich hab mir schon Sorgen gemacht! Wo warst du denn so lange? Komm, setz dich erst einmal und iss etwas. Sonst verhungerst du mir noch', sie packte meine Schultasche und stellte sie auf die unterste Stufe der Treppe, die zu den Schlafzimmern führte.Meine liebenswürdige Mutter schob mich den Flur entlang in ein weiteres, kleines Zimmer. Unser Esszimmer. Es war nicht besonders groß, doch das musste es auch nicht sein. Denn meine Mutter und ich wohnten alleine. Mein Vater hatte sie sitzen gelassen, als sie mit mir schwanger gewesen war.
'Was gibt es denn?', fragte ich neugierig und setzte mich auf einen der Stühle.
'Bratkartoffeln, Hühnerfleisch und Knoblauchsoße', antwortete sie und nahm mir gegenüber Platz. 'Gut?', fragte sie.
'Spitze!' Ich lachte kurz auf und knallte meinen Teller voll.
'Wie war die Schule?' Sie häufte sich den halben Teller mit Bratkartoffeln voll. 'Gibt es etwas Interessantes zu berichten?'
Ich zögerte kurz, doch schließlich entschied ich mich, ihr nichts von meiner kurzen Ohnmacht zu erzählen. 'Och, eigentlich nicht.'
'Hat dich jemand geärgert?'
'Nein!'
'Hast du einen Test oder eine Arbeit geschrieben?'
'Nein!'
'Hast du eine Note gesagt bekommen?'
'Nein!'
'Hast du viele Hausaufgaben auf?'
'Nein!'
'Schreibst du morgen was?'
'Nein!'
'Einen Test vielleicht?'
'Nein, Mum!', sagte ich leicht genervt. Jeden Mittag bombardierte sie mich mit diesen Fragen. Immer in derselben Reihenfolge.
'Wie willst du das wissen? Schließlich werden Tests nie angesagt, da kann der Lehrer immer mal einen schreiben!'
'Ich weiß es eben.'
'Das kannst du gar nicht wissen! Also was wirst du heute Mittag machen?'
Ich verdrehte die Augen und antwortete: 'Lernen, für jedes Fach!'
Zufrieden klatschte sie in die Hände und sprang auf. 'Super. Ich muss jetzt schon wieder los. Bis später, Schatz.' Sie gab mir einen fetten Knutsch auf die Wange und rauschte aus dem Zimmer.
Ich aß noch fertig, räumte dann rasch den Tisch ab und spülte das Geschirr. Anschließend packte ich meine Schultasche und verzog mich in mein Zimmer. Dort schaltete ich die Musikanlage an und summte leise mit, während ich meine Schulbücher und Hefte auspackte. Als ich einen Blick in mein Hausaufgabenheft war, stellte ich entsetzt fest, dass ich noch ziemlich viel zu tun hatte. Ich würde wohl den ganzen Nachmittag dafür brauchen.Ich legte erst den Stift nieder, als das Telefon klingelte. Rasch rannte ich die Treppen hinunter und griff nach dem Hörer, der unter der Treppe auf einer Kommode lag.
'Catherine McCan?'

Ja, ich habe einen englischen Namen. Das liegt daran, dass meine Mutter eigentlich aus England stammte und wie sie mir einst erzählte, mein Vater aus Spanien. Da sie wollte, dass ich einen englischen Namen trug, wie sie, nannte sie mich 'Catherine'.
Ich mag den Namen. Ich finde er hat etwas. Und wenn ER ihn ausspricht, klingt es wie Gesang.

'Hallo, Catherine! Ist Jessica vielleicht bei dir?', fragte eine ziemlich aufgewühlte Stimme. Es war Frau Zimmermann, die Mutter meiner besten Freundin.
'Nein', antwortete ich und runzelte die Stirn. 'Nein, wieso? Ist sie denn nicht zu Hause?'Ich hörte ein Schluchzen auf der anderen Seite der Leitung. 'An ihr Handy geht sie auch nicht ran! Oh, ich habe ja solche Angst, dass ihr etwas passiert sein könnte! Was soll ich denn tun? Ich weiß es nicht!'
'Beruhigen Sie sich erst einmal, Frau Zimmermann. Vielleicht hat Jessy nur eine alte Freundin getroffen und ist mit ihr so sehr in ein Gespräch vertieft, dass sie ganz die Zeit vergessen hat.' Ich wusste, dass es ein schwacher Versuch war, die arme Frau zu beruhigen, doch etwas anderes viel mir in diesem Moment nicht ein.
'Du kennst sie doch, Catherine! Jessica ist verantwortungsbewusst! Sie hätte mich angerufen, wenn sie noch etwas länger weg bliebe! Und jetzt ist es schon achtzehn Uhr! Ich warte schon seit vier Stunden auf sie!'
Ein ungutes Gefühl machte sich in mir breit. 'Ich werde sie suchen, okay? Beruhigen Sie sich erst einmal und kochen Sie sich einen Tee. Wir werden sie schon finden.'
'Oh vielen, vielen Dank! Ruf mich dann gleich an, Kleines, wenn du wieder zu Hause bist, einverstanden?'
'Mach ich, Frau Zimmermann. Bis dann!', ich knallte den Hörer auf die Gabel und starrte erstarrt an die weiße Wand.
Nach einigen Minuten konnte ich mich aus meiner Steifheit befreien, schnappte mir meine Jacke vom Haken, schlüpfte in meine Schuhe und rannte nach draußen.
Ich begann meine Suche an Jessy's und meinem Lieblingsplatz am See. Doch da war sie nicht. Nicht einmal eine Spur im Gras, die darauf hin deuten könnte, dass sie hier gewesen war.
Also lief ich weiter. Durch die Straßen, teilweise durch den Wald und rief ihren Namen. Doch niemand antwortete mir. Eine fürchterliche Angst machte sich in meinen Gliedern breit. Jessy, wo warst du? Was war passiert?
Völlig aufgelöst gab ich die Suche nach ihr schließlich auf. Als ich wieder nach Hause kam, war es einundzwanzig Uhr. Meine Mutter wartete schon ungeduldig auf mich und nahm mich schließlich besorgt in die Arme. 'Kind, wo warst du denn?'
'Jessy ist verschwunden', sagte ich ausdruckslos. Bitte, bitte lieber Gott, lass Jessy nichts passiert sein.
'Wie, Jessy ist verschwunden?'
'Sie ist von der Schule nicht nach Hause gekommen!'
'Das muss doch nichts zu bedeuten haben…'
'Sie hätte ihre Mutter angerufen, oder wäre zumindest an ihr Handy ran gegangen, wenn sie nur eine Freundin getroffen hätte und mit ihr irgendwo hingegangen wäre!'
'Vielleicht hat sie es einfach nur vergessen!', versuchte sie mich zu beruhigen. Doch ich wusste, dass Jessy so etwas niemals vergessen hätte. Nie im Leben.
'Ich muss Frau Zimmermann anrufen und ihr bescheid sagen, dass ich sie nicht gefunden habe', ich löste mich aus der Umklammerung meiner Mutter und schnappte mir das Telefon.

Die Vermisstenanzeige ging noch am selben Abend hinaus. Was mich wunderte, denn normal hätte die Polizei erst einige Tage oder wenigstens bis zum nächsten Tag abgewartet, ob die Vermisste nicht doch noch auftauchte. Doch heute weiß ich, warum sich die Polizei sofort auf die Suche machte. Ein Serienmörder war unterwegs. Es waren schon etliche Mädchen im näheren Umkreis verschwunden. Und man war jedes Mal zu spät gekommen.

Um Mitternacht stand ich vorm Spiegel, der in meinem Zimmer hang. Mit leerem Blick starrte ich auf den großen, roten Pickel, der auf meiner Wange erschienen war. Doch das war egal. Alles was zählte, war Jessy. Ich wusste, dass ihr etwas passiert sein musste.'Oh Jessy, hätte ich dich nur nicht los gelassen…', murmelte ich und lehnte die Stirn gegen den kalten Spiegel. 'Hätte ich dich nur nicht los gelassen…' Schluchzer brachten meinen Körper zum beben. Ich versuchte meine Tränen aufzuhalten, denn ich hatte Angst, meine Mutter könnte in mein Zimmer platzen und mich so sehen. Und das wollte ich nicht. Schließlich war ich die Stärkere von uns Beiden. Ich durfte keine Schwäche vor ihr zeigen. Niemals.
Doch sie kamen, diese Tränen. Sie rannen meine Wangen hinunter und tropfen auf den Boden. In meinem Zimmer war es still. Nur mein leises Wimmern war zu hören.
Das ungute Gefühl, das sich schon seit dem ersten Anruf von Frau Zimmermann in mein Herz genagelt hatte, ließ mich einfach nicht mehr los. Jessy, was war passiert? Wo warst du? Hattest du nicht versprochen, auf dich aufzupassen?
Irgendwann, es musste so um vier Uhr morgens sein, schmiss ich mich in mein Bett und schlief schließlich ein.

Der darauffolgende Morgen, es war ein Samstag, war der Horror. Mein Kopf brummte, als hätte man mir mit einem Baseballschläger draufgeschlagen. Es schien, als wäre jedes normale Geräusch doppelt so laut wie sonst.
Und als ich in den Spiegel schaute, traf mich der Schlag. Geschockt riss ich die Hand vor den Mund, um einen überraschten Aufschrei zu verhindern.







Teil 1 Teil 2 Teil 3 Teil 4


© rockundliebe.de - Impressum Datenschutz