Märchen oder wie jetzt?

Autor: Amy
veröffentlicht am: 07.12.2008




'..und so konnte er Tigerlilly aus den Klauen des schrecklichen Käpt'n befreien.'

Seufzend schloss ich das bereits sehr zerfledderte Buch, das schon seit Urzeiten im Besitz meiner Familie war. Geschrieben hatte es meine Urgroßmutter. Ich hatte es schon so viele Male gelesen und doch war ich immer wieder fasziniert von den vielen Geschichten, die in dem Buch aufgeschrieben waren.
Alle Geschichten und Abenteuer handelten von ein und derselben Person:
Peter Pan.
Eigentlich glaubte ich nicht an Peter Pan, doch es schien alles so real, als wäre meiner Urgroßmutter alles selbst passiert. Ich warf einen kurzen Blick auf die Uhr, schnappte mir meine Jacke und mein Skateboard und rollte in Richtung Park.
Ich drehte noch ein paar Runden und setzte mich dann auf eine Bank, wie ich es immer tat, wenn ich hier war. Ich kuschelte mich in meine Jacke, holte meinen MP3 - Player heraus und schloss die Augen zur Entspannung.
Auf einmal vibrierte mein Handy. Ich öffnete es und las die SMS meiner Mutter:
'Hey Schätzchen, kommst du bitte nach Hause?! Wir wollen noch zusammen zu Abend essen. Mum'
Ich seufzte und machte mich auf den Weg zurück zu unserer Wohnung.

'Na Liebling? Warst du mal wieder im Park?' Ich nickte. 'Mum?! Meinst du es gibt ihn wirklich?' Eigentlich konnte ich mir die Antwort schon denken. Solche Gespräche hatten wir schon oft geführt. Mum hielt inne und stellte die Teller auf den Tisch.
'Ach Emma, du weißt doch was ich davon halte. Ja, ich finde die Geschichten von Urgroßmutter Wendy auch sehr spannend, aber man sollte nicht wegen einer Person, die vermutlich gar nicht existiert, die Realität aus den Augen verlieren. Du denkst viel zu sehr über so etwas nach.' Sie gab mir noch einen Kuss auf die Stirn, bevor sie das Brot in Scheiben schnitt.
Ich deckte den Tisch zu Ende und lief ins Zimmer meiner kleinen Schwester Kate.
'Hey du, na? Wie wars beim Ballett?'
'Emmaaaaa!' Strahlend rannte Kate auf mich zu und erdrückte mich beinahe. Lachend schob ich sie von mir. 'Kommst du? Wir wollen jetzt zu Abend essen.'
Trotz unseres großen Altersunterschied und unserer verschiedenen Interessen waren wir ein Herz und eine Seele. Wir waren ohne Vater aufgewachsen und wir hatten auch nicht das Bedürfnis nach einer männlichen Bezugsperson im Haus, denn wir verstanden uns beide prächtig mit unserer Mum. Sie war für mich auch eher eine gute Freundin als eine Mutter.

'Mum?!' - 'Ja Liebling?' - 'Ich brauch neue Rollen für mein Board! Die sind schon ganz kaputt.' 'Schon wieder?' - 'Echt mal, Emma! Und überhaupt, was findest du so toll daran, auf sonem Ding zu stehen? Ist doch voll öde.' - 'Danke Kate…Und das ist überhaupt nicht öde! Das macht total Spaß, glaub mir!' - 'Schatz, wenn du mir ein bisschen im Haushalt helfen würdest, dann würde ich dir die Rollen auch bezahlen. Aber du skatest lieber anstatt mir zu helfen! Versuch doch ne Mitte zu finden. Dann brauchst du auch nicht ganz sooo oft neue Rollen und ich bezahl sie dir auch!' Meine Mum zwinkerte mir zu und biss von ihrem Brot ab. 'Jah…ich schau mal…Guck nicht so blöd Kate!' Sie schnitt mir eine schadenfrohe Grimasse. Okay, gut, FAST ein Herz und eine Seele.

Wie üblich setzte ich mich abends noch an mein großes Fenster, das mitten zur Stadt zeigte, nachdem ich noch meine kleine Schwester ordentlich durchgeknuddelt hatte. Ich las wiedermal in dem Buch von Urgroßmutter Wendy. Mein Fenster hatte ich geöffnet, denn es war sehr warm.
Auf einmal war etwas auf der Seite des Buches. 'Nanu?! Was ist das denn?...Glitzer?!' Ungläubig betrachtete ich das funkelnde Zeug zwischen meinen Fingern. 'Ich glaub ich geh lieber ins Bett…'

Auch am nächsten und übernächsten Abend fand ich immer wieder Glitzer in meinen Büchern, die ich am Fenster las.
Dann, am vierten Abend, legte ich das Buch weg, nachdem ich wieder mit Glitzer überhäuft worden war, und atmete die frische Luft ein, die durch das geöffnete Fenster kam.

Dann hörte ich ein leises klingeln. Wie von einer Glocke. 'Shh!', machte eine Stimme.Jeder normale Mensch hätte in dieser Situation sicherlich fürchterliche Angst, aber 1. war ich nicht normal und 2. hatte ich einfach nicht das Gefühl 'Angst' im Bauch, sondern eher 'Neugierde'.
Ich beugte mich weiter aus dem Fenster und blickte nach links und rechts. Ich stützte mich auf meine Hände und blickte über die Dächer Londons. Grade als ich meinen Kopf wieder ins Zimmer ziehen wollte, rieselte Glitzer auf meine Nase und ich musste niesen.
'Huh, Gesundheit!' Geschockt riss ich die Augen auf und blickte direkt in das Gesicht eines Jungen. Erst dann begriff ich, dass das nicht normal war und erschrak noch mal. Aber diesmal so heftig, dass ich einen Satz in die Luft machte und aufschrie. 'Wer bist du und was machst an meinem Fenster?!' Die Frage, WIE er an meinem Fenster war, beschäftigte mich noch gar nicht. 'Ich…moment, du bist nicht Jane, oder?' 'Jane?! Nein, ich bin Emma…Wer bist DU?' - 'Ich? Ich bin Peter Pan!' Der Junge warf sich stolz in die Brust. Ich überlegte erst, ob ich träumte, mir irgendjemand einen Streich spielen wollte oder Ähnliches. Dann hätte ich diesem Jemand aber ordentlich meine Meinung gesagt. Schlagfertig war ich ohne Zweifel. Aber alles was ich tat, war, dass ich rückwärts taumelte und mich auf den Boden plumpsen ließ.Zögernd kam Peter in mein Zimmer.
'Ehm…bist du wirklich…äh nunja, DER Peter Pan?' - 'Nach was seh ich denn aus?!', fragte er mich gekränkt.
Das war wirklich eine gute Frage, denn wie der Peter Pan, wie ich ihn mir immer vorgestellt habe, also mit diesen grünen Strumpfhosen und dem Hut mit der Feder, sah er eindeutig nicht aus. Beruhigend, aber irgendwie auch nicht. 'Nunja…Peter…sag mal kann ich dich auch Pete nennen?' Er zuckte mit den Achseln. 'Wenn du möchtest.'
'Das glaubt mir keiner…die erklären mich für verrückt!', leise vor mich hinmurmelnd ging ich in meinem Zimmer hin und her. 'Wem willst du von mir erzählen?', fragte er nun scharf und trat einen Schritt auf mich zu. 'Huh…', erschrocken über seine Größe zuckte ich zurück. 'Äh…keinem…?' Der konnte ja ganz schön bedrohlich wirken…Schnell lenkte ich ab.'Warst du das mit dem Glitzer am Fenster?', fragte ich ihn nun doch ziemlich neugierig, als mir einfiel, wieso ich aus dem Fenster geschaut hatte.
'Nein, das war Glöckchen.', er schaute mich immer noch so an, als würde er lieber noch mal auf das vorige Thema zurückkommen. 'Also. Nur damit dus weißt:
Du darfst niemandem hiervon erzählen. Und damit mein ich wirklich NIEMANDEM!' - 'Aber…wieso nicht?' Er sah mich ernst an. 'Weil, wenn du ihnen von mir erzählst, würdest du wahrscheinlich Glöckchen erwähnen und-' Ich unterbrach ihn bevor er enden konnte: 'Wenn du mir jetzt sagst, sie ist eine Fee…Es gibt keine Fe-' Er hatte scharf nach Luft geschnappt, mir seine Hand auf den Mund gepresst und funkelte mich nun böse an. 'DAS darfst du NIE sagen! Das ist auch der Grund, warum du niemandem davon erzählen darfst!' Ich verstand nicht. Hatte ich in dem Buch etwas überlesen? 'Wieso nicht?', nuschelte ich zwischen seinen Fingern. 'Weil irgendwo eine Fee stirbt, wenn jemand das sagt und dann kann ich sie nicht finden, um ihr zu helfen!'
Ich packte mit meiner Hand seine Hand, die auf meinem Mund lag und versuchte sie runterzunehmen. Er gab nach, schaute mich aber immer noch argwöhnisch an.Ich hob meine Hände wie zum Schwur. 'Ich verspreche dir, ich werde mit niemandem darüber reden, wenn du es so möchtest…' - 'Danke.'
Trotzdem war ich mir noch nicht ganz sicher, ob er nicht doch ein Hirngespinst von mir sein könnte. Natürlich, seine Hand hatte sich ziemlich echt angefühlt, aber sonst? Im Endeffekt war mir wieder eingefallen, was er damit meinte. Natürlich stand es auch im Buch von meiner Urgroßoma. Alles was er mir erzählen würde, wüsste ich. Also konnte ich mich nicht davon überzeugen ob ich nicht doch nur träumte.
Von dieser Situation doch ziemlich überfordert ließ ich mich wieder auf den Boden fallen und starrte auf das Fenster, das immer noch weit offen stand.
Pete's Gesichtzüge waren freundlicher geworden und er setzte sich nun mir gegenüber. Ich kaute auf meiner Unterlippe, wie ich es immer tat, wenn ich nachdachte.
'Du…du siehst irgendwie immer noch nicht von mir überzeugt aus…', setzte er leise an.Ich sah ihn an. Konnte ich mir so ein Gesicht wirklich ausdenken? War meine Fantasie fähig dazu? Ich bezweifelte es. Außerdem war er auch älter als im Buch stand. Dort war er vielleicht 12 oder 13. Der Junge mir gegenüber jedoch müsste 15 oder 16 sein. Das passte doch nicht. Vielleicht träumte ich wirklich und hatte mir einfach ein Gesicht von einem Jungen genommen, der mir gefiel und ihn etwas älter gemacht. Das würde ich meiner Fantasie noch zutrauen.
Er starrte mich an und wartete offensichtlich darauf, dass ich etwas sagte.
'Ehm…naja…du musst zugeben, dass es doch ziemlich abwegig ist, dass eine Person aus einem Buch auftaucht.' - 'Glaub mir!', er sagte es schon fast flehend.
'Nehmen wir mal an, ich glaube dir jetzt. Wie kommt es, dass du doch älter geworden bist? Ich mein, du warst doch jünger oder nicht?'
Er blickte mich an. 'Naja…ich…ich weiß es ehrlich gesagt nicht genau. Ich war manchmal hier um dir zuzusehen. Aber eigentlich nie lange. Dann, wenn ich wieder im Nimmerland war, war ich immer ein Stück gewachsen oder wirkte älter oder so…Dabei will ich doch gar nicht erwachsen werden! Aber…es macht Spaß dich zu beobachten! Du bist irgendwie ganz anders als Wendy und Jane. Aber irgendwie bist du auch genauso wie sie…', er war in Gedanken vertieft als mir was einfiel: 'Wie kommt es, dass du meine Mutter nie erwähnst? Warst du nie hier bei ihr?' Diesmal schaute er mich nicht an, als er mir antwortete. 'Doch war ich…aber sie war anders...' Ich merkte, wie das Gespräch ins Traurige ging und das wollte ich nicht. Schnell versuchte ich ein anderes Thema.
'Und äh…kannst du auch wirklich…fliegen?', fragte ich ihn, wobei ich mich nach Vorne beugte und das entscheidende Wort ehrfürchtig flüsterte.
Er grinste breit. Sehr breit. Und schon drehte er eine Runde um meine Lampe an der Decke.'Frage geklärt?!', lachte er. Ich nickte langsam und musste auch grinsen. Ich stellte mir vor, wie das für einen Außenstehenden aussehen musste.
'Wo…wo ist eigentlich Glöckchen?' Kaum hatte ich das gefragt, kam auch schon etwas Kleines, Leuchtendes und Glitzerndes durch das Fenster geflogen und hielt direkt neben Pete's rechtem Ohr an.
Glöckchen gestikulierte wild zu Pete und warf ab und zu einen Blick zu mir.
'Was sagt sie?', fragte ich, so neugierig wie ich nun mal war. 'Ehm…' - 'Ja?!' - 'Ach ist eigentlich unwichtig…', sagte er nur ausweichend. 'Jetzt sag doch bitte!' - 'Sie ist eifersüchtig.' Verwirrt blickte ich zwischen ihm und Glöckchen hin und her. 'Eifersüchtig? Wieso denn?' - 'Ach ist nicht schlimm, das hat sie öfter.' 'Hä?!' 'Ihr gefällts nicht wie ich auf Mädchen wirke.' 'So? Wie wirkst du denn auf Mädchen?' Also an Selbstbewusstsein mangelte es ihm auf keinen Fall. Er grinste und trat so nah an mich heran, dass nur noch wenige Zentimeter zwischen meiner Nase und seinem Kinn waren. Wie immer fing mein Herz schneller an zu klopfen und ich wurde rot. Meine übliche Reaktion auf Jungs. Zumindest Jungs, die nicht hässlich waren.
Nun grinste er noch breiter als er es sowieso schon tat.
'Siehst du?!' Nun, im Grunde nicht, aber ich wusste was er meinte.
Ich räusperte mich und trat vorsichtshalber einige Schritte von ihm zurück.
'Ich weiß noch, wie Glöckchen sich mal aufgeregt hat, als Wendy mir einen Kuss gegeben hat…' Ich musste lachen. Natürlich kannte ich die ganzen Geschichten in und auswendig. 'Pete, falls du es immer noch nicht begriffen hast, sie hat dir einen Fingerhut gegeben!' 'Ja das weiß ich mittlerweile auch, aber sie hat mir, nachdem wir Hook vorerst besiegt hatten, einen richtigen Kuss gegeben.'
Das warf mich doch etwas aus der Bahn. Das stand gar nicht in den Geschichten. Nirgendwo erwähnt, da war ich mir sicher.
So kam es, dass wir noch die ganze Nacht auf meinem Fußboden saßen und flüsterten, denn wir wollten ja niemanden wecken.
Als ich dann auf meiner Uhr sah, wie spät es war, fiel mir ein, dass ich ja zur Schule musste. Widerstrebend verabschiedete ich mich von Pete.
'Kommst du denn noch mal vorbei?' - 'Vielleicht.' Er zwinkerte mir noch zu und flog dann zum Fenster hinaus, dicht gefolgt von Glöckchen, die mir noch die Zunge herausstreckte.







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