Blau wie der Himmel Teil 4

Autor: Sixteen
veröffentlicht am: 07.11.2008




3 - Wie Tag und Nacht -

Ich war eine Viertelstunde zu früh an der Volkshochschule, da ich beim besten Willen nicht mehr wusste, was ich in der Stadt machen sollte. Als ich in der großen Eingangshalle stand, kramte ich den Zettel heraus, den meine Mutter bei der Anmeldung bekommen hatte, und auf dem die Raumnummer stand. Nach einem kurzen Blick auf den Zettel stöhnte ich auf. Raum 408, das musste meines Wissens nach direkt unter dem Dach liegen. Vier Stockwerke ohne Fahrstuhl. Na ja, dann kam ich zumindest nicht ganz so viel zu früh.
Als ich gerade die letzten Stufen der Treppe erklomm, hörte ich schon Stimmen von der linken Seite des Flurs. Eine Frauen- und eine Männerstimme, von denen sich die eine über die unzumutbare Größe des Raumes beschwerte.
'Wie können wir in einem so kleinen Raum untergebracht sein? Ich dachte, diese Schule hätte Klasse!'
'Entschuldigen sie bitte', entgegnete die Männerstimme leicht gereizt. 'Dieser Kurs hat acht Teilnehmer inklusive Leiter , wozu sollen wir einen 30-Personen-Raum zugeteilt bekommen?'
'Tsse', ereiferte die Frau sich weiter, während ich den Flur hinunterging. 'Es ist noch nicht einmal die Hälfte der Leute da, und der Raum wirkt schon winzig!'
Vorsichtig trat ich durch die Tür. 'Äh... hallo zusammen.'
'Sehen sie?' Ohne auf meinen Gruß zu achten meckerte die Frau weiter den Mann an. Sie schien Mitte 40 zu sein, der graue Hosenanzug und die hochgesteckten haare verliehen ihr das Aussehen einer strengen Bürofrau. 'Hier ist die nächste Teilnehmerin, und es wird immer enger!'
'Klaustrophobie', entgegnete der Mann bloß. 'Dafür gibt's auch 'nen Kurs, falls sie Interesse haben.'
Grinsend streckte er mir die Hand hin.
'Hi, ich bin Till. Ich leite den Kurs.'
'Hallo. Viola', war meine Antwort.
Till war ein groß gewachsener Mann mit breiten Schultern, kurzen, rotblonden Haaren und einem breiten Lächeln.
'Viola also. Hallo noch mal. Du kannst dich schon mal hinsetzen, wenn du willst, bis alle da sind.' Er wies auf einen Kreis aus acht gemütlichen Stühlen, die im Raum standen. Eine weitere Frau saß dort, sie schien etwa Mitte zwanzig zu sein und schaute gelangweilt auf die Szene, die Till und Miss Bürofrau ihr boten.
Ich nickte Till zu und ließ mich auf einen Stuhl direkt vor einem der großen Fenster fallen. Der Raum wirkte auf mich nicht zu klein, sondern gerade richtig, um hier in gemütlicher Runde Alltagsphilosophie zu besprechen. Allerdings ließ die gemütliche Gesellschaft noch etwas zu wünschen übrig.
Ich schaute auf mein Handy, um nach der Uhrzeit zu gucken. Noch fünf Minuten bis zum Beginn des Kurses.
Wieder ging die Tür, die Till eben geschlossen hatte, auf, und ein hagerer schwarzhaariger Mann mit übergroßen Kopfhörern und einem langen schwarzen Mantel trat herein, gefolgt von einem großen, dünnen, unscheinbaren Mann, der ein Buch in den Händen hielt und angeregt las. Er hob nur einmal die Augen von der Schrift zur Begrüßung, der Schwarzhaarige knurrte ein schroffes 'Morgen.'
'Hallo', begrüßte Till wieder begeistert, während Miss Bürofrau sie mit einem abschätzigen Blick musterte.
'Guten Morgen', sagte sie spitz. 'Während der Kurse sind elektronische Geräte wie Handys und MP3-Player verboten, ich hoffe, sie sind sich dessen bewusst, junger Mann.'
Der Kerl im schwarzen Mantel grinste schief. 'Ist auch ein MP4-Player. Woll'n sie mal hören?' Er ließ sich auf den Stuhl neben ihr fallen und bot Miss Bürofrau seine Kopfhörer an, von der jedoch nur ein gepresstes 'Äh... Nein, danke' kam. So weit wie irgend möglich rückte sie ihren Stuhl von dem seinen weg.
Schwarzmantel zuckte nur mit den Schultern und setzte seine Kopfhörer auf, aus denen kurz danach wieder der scheppernde Nachklang seiner Musik drang.
Während der andere weiter las, ließ Schwarzmantel seinen Blick über die anderen Kursteilnehmer und schließlich auch mich wandern. Als ich seinem Blick standhielt, grinste er wieder und wandte sich dann an Till.
'Wie wär's, wenn wir schon ml anfangen?'
Prüfend blickte Till auf seine Uhr und meinte: 'Zeit wäre es. Nur fehlen noch zwei Leute. Lasst uns noch 5 Minuten warten.'
Ich seufzte innerlich. Konnte man nicht wenigstens mal pünktlich kommen? Außerdem erschien mir diese Gruppe sowieso recht... nun ja, interessant. Ob man mit solchen Leuten wohl gut über den Sinn des Lebens sprechen konnte? Ich konnte es mir nicht wirklich vorstellen.
Als nach einiger Zeit die beiden fehlenden immer noch nicht gekommen waren, stand Till trotzdem auf.
'Hallo noch mal. Für alle, die es eben noch nicht mitbekommen haben, ich bin Till, leite diesen Kurs und soll euch zu denken bringen. Wir fangen jetzt einfach schon mal an, die anderen können ja dann noch dazukommen. Zu meiner Person: Ich bin 36 Jahre alt, verheiratet und habe zwei süße kleine Monster zuhause. Vor einigen Jahren habe ich ein Philosophie- und Pädagogikstudium gemacht. Und jetzt bin ich hier.'
Er grinste in die Runde. Irgendwie wirkte er ja leicht verrückt.
Till setzte sich wieder hin und deutete auf den Kerl mit dem Buch, der neben ihm saß und immer noch las. 'Fängst du mal an und stellst dich vor?'
Der Mann blickte auf, leicht erschrocken, dass er angesprochen wurde, nickte, und legte sein Buch unter den Stuhl. Dann fing er mit leiser Stimme an, zu sprechen.
'I... ich bin Jens Hoffmann. Ich bin 29. Und ich... lese gern.'
Wow. Überragende Charakterisierung. Alle warteten auf mehr, aber nichts kam. Jens hob das Buch vom Boden und las weiter. Na, das konnte ja heiter werden.
Jetzt fing Schwarzmantel an, sich vorzustellen.
'Ich heiß' Silvan. Nachname ist egal. Alter eigentlich auch. Ich hör' gern und laut Metal. Und ich hasse es, wenn mir einer Vorschriften macht. Danke für den Applaus. Nächster.' Er wippte mit den Füßen im Takt seiner Musik und sah Miss Bürofrau herausfordernd an.Sie räusperte sich, rückte noch ein Stückchen weiter weg und begann geziert: ' Mein Name ist Ariane Thekla Kuhn, ich bin Sekretärin einer bekannten Innenarchitektin, bin 43 Jahre jung, eine Liebhaberin klassischer Orchestermusik und lebe absolut glücklich seit vielen Jahren mit meinem Mann zusammen, in drei Monaten haben wir silberne Hochzeit.' Sie holte Luft und sprach weiter von ihrem Leben, das scheinbar in den leuchtendsten Farben gezeichnet war und absolut perfekt war.
Bei ihr Fragte ich mich, im Gegensatz zu den vorherigen beiden Vorstellungen, wann sie endlich aufhören würde. Nach einer schier endlosen zeit beendete sie ihren Roman mit den Worten '... und hoffe auf philosophische Gespräche auf höchstem Niveau.' Dann ließ sie ihren Blick wieder leicht pikiert über Silvan und seine Kopfhörer streifen.
Niemand sagte etwas, bis Till mich ansah und meinte: 'Äh, Viola, oder? Du bist dran!''Oh!' Ich hatte gar nicht mehr daran gedacht, dass ich mich ja auch vorstellen musste. 'Entschuldigung.' Kurz räusperte ich mich. 'Also, ich bin...'
In diesem Moment ging die Tür auf und eine alte Frau mit Gehstock trat ein, gefolgt von...Von diesem verdammt heißen Kerl aus dem Café. Scheiße.
'Hallo', sagte er mit leiser, aber ausdrucksvoller Stimme, während die Frau sich schon hinsetzte. 'Entschuldigen sie die Verspätung. Der Dame hier fällt das Treppensteigen etwas schwer. Und deswegen war es ziemlich langwierig, diesen Raum aufzusuchen.'
Seine Stimme war die genaue Mischung von Männlichkeit und Sanftheit, von Selbstbewusstsein und Zurückhaltung. Als er durch den Raum auf mich zu ging, registrierte ich, dass der einzige freie platz im rum neben meinem war.
Oh. Mein. Gott.
'Hallo', sagte er beiläufig, lächelte mich kurz an und setzte sich. Ich schaute ihn an, dann aber schnell wieder weg. Von nahem sah er sogar noch besser aus. Seine Augen waren durchdringend blau. Himmelblau. An seinem Kinn wuchsen kurze stoppeln von braunem Barthaar, und an seiner Schläfe hatte er eine kleine, längliche Narbe. Wo er sich die wohl geholt hatte?
'... sich gerade vorgestellt und kann ja jetzt weitermachen.' Tills Stimme riss mich aus meinen Tagträumen. Scheinbar sollte ich weiterreden. 'Äh...', stotterte ich herum, leicht abgelenkt von dem interessierten Blick zu meiner Rechten. 'ich heiße Viola Biest. Ich bin 16 und, äh, ich mache gerne Chemieversuche. Was ich nicht mag, sind...' ich hielt kurz inne und dachte nach. '... dumme Chicksen, die sich für unwiderstehlich halten. Und Spießer.' Geschlagen sank ich in meinem Stuhl zurück. Ich musste mich wie eine Vollidiotin angehört haben. Wie eine absolut durchgeknallte Vollidiotin. Scheiße.
Ich hielt den Blick gesenkt, als der gut aussehende Typ neben mir zu sprechen anfing.'ich heiße Dorian Mokka.'
Hm. Dorian. Das klang gut.
'Ich bin 21 Jahre alt. In meiner Freizeit beschäftige ich mich mit alten Legenden und Horrorliteratur. Ich studiere auch Literatur und Geschichte.'
Geschichte klang schon wieder gar nicht gut, es gehörte nämlich nicht gerade zu meinen Lieblingsfächern. Aber Literatur war doch nicht schlecht.
'Was ich nicht mag, sind Ungerechtigkeit, Diskriminierung und Brutalität. Was ich mag...' Ich hörte, wie er schmunzelte. '... ist Schokoladenpudding.'
Wow. Das passte jetzt ja mal gar nicht ins Bild.
'Ich bin soweit fertig.'
Vorsichtig blickte ich auf und sah, wie er auf die alte Frau zu meiner Linken blickte. 'Wollen sie?'
Während sie anfing, sich als Emma Frohmann vorzustellen, hörte ich auf einmal nah an meinem Ohr eine flüsternde Stimme.
'war doch gar nicht so schlimm.'
Seine Stimme.
Ich drehte mich zu Seite und blickte direkt in Dorians Gesicht. Verdammt, diese blauen Augen glichen einem schwarzen Loch. Bevor ich ganz versank, hauchte ich: 'Was?'Er lächelte. 'Die Vorstellung. Du hast nicht komisch gewirkt, keine Sorge.'
Sein Gesicht so nah an meinem, seine leise Stimme in meinem Ohr - das brachte mich ziemlich aus der Fassung.
'Äh... also, woher weißt du...?', brachte ich hervor.
'Man hat es...' Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und brachte beruhigenden Abstand zwischen uns. 'Man hat es... gesehen.'
Peinlich berührt senkte ich den Blick. Man hatte sogar gesehen, wie doof ich mich gefühlt hatte? Scheiße. Das fing ja super an. Wahrscheinlich hielten die anderen mich für genauso unnormal, wie ich sie. Obwohl... laut Dorian hatte ich nicht komisch geklungen. Vielleicht... Nein, bestimmt wollte er nur nett sein. Umso schlimmer.
Ich seufzte auf und wandte mich wieder zu Emma, der alten Dame, die gerade von ihrer Leidenschaft zum Mühle-Spiel berichtete.
'Außerdem', setzte Emma nach einer kurzen Pause hinzu, 'besuche ich noch einen Computerkurs der Volkshochschule, weil ich mich der Jugend nicht einfach geschlagen geben will.'
Nun lagen alle Blicke auf der letzten Frau, die auch schon ganz zu Anfang, als ich gekommen war, auf ihrem Stuhl gesessen hatte.
'Ich bin Marika Adams. 22. Ich bin hier, weil ich geklaut hab und das meine Strafe ist. Keine Ahnung, was das soll. Was ich mag, sind Partys, was ich nicht mag, ist' - sie schnalzte mit der Zunge - 'Philosophie.'
Schweigen.
'Also gut.' Till stand auf und blickte mit hochgezogenen Augenbrauen in die Runde. 'das wird ein schönes Stück Arbeit mit euch. Aber wir packen das schon. Irgendwie.'
Ganz genau. Irgendwie.







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