Das Geheimnis

Autor: Oliver S.
veröffentlicht am: 03.03.2005




Niemand kannte bisher ihr Geheimnis. Seit beinahe 1000 Jahren hatte sie geschwiegen. Warum sie nun ausgerechnet bei mir ihr Schweigen brach, kann ich nicht sagen. Vielleicht sp?rte sie, dass sie bald f?r immer von dieser Welt verschwinden w?rde. Dass sie in Vergessenheit geraten w?rde, wenn sie ihr Geheimnis nicht preis gab. Ihre Geschichte w?rde sie noch einige Zeit in den Gedanken der Menschen weiterleben lassen.
Geschichten k?nnen die Zeit ?berdauern. Sie sind der Feind des Vergessens.
Sie hatte mich gebeten ihre Geschichte zu erz?hlen, wenn ihr Lebensfunke erloschen sei.Nur wenige Monate nachdem sie mir dieses Versprechen abgenommen hatte, starb sie. Den genauen Zeitpunkt kann ich nicht bestimmen, da sie nur dieses eine mal mit mir gesprochen hatte und auf sp?tere Fragen von mir nicht mehr reagierte.
Irgendwann im Winter war es wohl geschehen.
Im folgendem Fr?hjahr regte sich keine Knospe, kein Blatt entrollte sich mehr zartgr?n in die w?rmenden Strahlen der Fr?hjahrssonne.
Doch selbst im Tod strahlte sie noch Erhabenheit aus. Ein Universum f?r sich, uraltes Wissen war unwiederbringlich verloren.
Nur ihr Geschichte, die sie so lange bewahrt hatte, sollte ihren Tod ?berdauern.Nun lieber Leser, Du sollst wissen, dass diese Geschichte wahr ist. Ich habe nichts dazugedichtet oder ver?ndert, auch wenn Dir vieles daran unglaublich erscheinen mag. Und wenn Du ganz still in Dich hineinh?rst, wirst Du erkennen, dass dies alles tats?chlich so geschah; Du wirst es wissen!

Es war im Sommer. Im Sommer des vergangenen Jahres. Ich wei? nicht mehr genau wann, aber es d?rfte in der ersten Augusth?lfte gewesen sein, als sie zu mir sprach.
Das Zwitschern der V?gel hatte mich schon fr?h aufwachen lassen.
Der Morgen war noch nicht weit fortgeschritten. Drau?en herrschte noch immer dieses warme, fr?he Licht, dass Fotografen so liebten.
Meine Frau lag neben mir. Sie hatte die Augen geschlossen, schlief noch fest. F?r einige Minuten betrachtete ich ihr Gesicht, wie es so entspannt und sorglos neben mir lag. Eine Welle von tiefer Zuneigung, von Liebe durchstr?mte mich. Ich k?sste sie sanft auf den Mund und streichelte ?ber ihr Haar. Sie wachte nicht auf.
Leise verschwand ich im Badezimmer, wusch und k?mmte mich.
Ich verlies das Haus, atmete tief die frische Luft ein und beschloss einen kleinen Spaziergang zu machen.
Es war nicht das erste Mal, dass ich dies tat und oft wurde aus dem geplanten kleinen Spaziergang eine l?ngere Wanderung. Meine Frau w?rde sich keine Sorgen machen, wenn sie wach und meine Abwesenheit bemerken w?rde. Schon oft hatten wir gemeinsam Streifz?ge durch den nahen Wald gemacht und fast immer f?hrte unser Weg an der alten Eiche vorbei, deren majest?tischer Anblick uns jedes Mal aufs Neue vor Ehrfurcht fast erstarren lie?.Manchmal lie?en wir uns in ihrem Schatten auf dem moosbedeckten Boden nieder, genossen die Ruhe, das leise Wispern der Bl?tter und das Gezwitscher der V?gel.
Auch heute f?hrte mich mein Weg an der alten Eiche vorbei. Und obwohl ich sie schon unz?hlige Male gesehen und bewundert hatte, blieb ich wieder vor ihr stehen, betrachtete ihr weit ausladendes Astwerk, ihren m?chtigen, knorrigen Stamm, beobachtete das Spiel des Windes mit den Bl?ttern, welche die Sonnenstrahlen an immer wechselnden Orten den Boden erreichen lie?en.
Ich dachte an den Fr?hling, an dem ich mich in meine Frau verliebte. Ich bin mir sicher, dass ich dieses Gef?hl ihr gegen?ber zum ersten Mal genau unter dieser Eiche erlebte. Wir hatten einmal dar?ber gesprochen und sie sagte, dass es bei ihr genauso gewesen sei. Vielleicht liebten wir beide daher diesen Baum so sehr.
In Gedanken versunken streckte ich meine Hand aus, ber?hrte den Stamm und f?hlte die Vertiefungen der vom Alter rissigen Rinde.
Ich legte meine Wange an den Stamm und versuchte zum ihn zu umfassen. Nat?rlich reichte die L?nge meiner Arme bei weitem nicht dazu aus, aber es tat einfach gut dies zu tun. Ich schloss die Augen und hielt die Arme an den Baum gedr?ckt, als wolle ich ihn festhalten, am Umst?rzen hindern.
Und auf einmal h?rte ich die Stimme. Sie war tief, alt und br?chig, aber auch unendlich sanft: 'Ich m?chte Dir mein Geheimnis erz?hlen.'
Ich lie? den Baum los und blickte mich irritiert um. Nat?rlich war niemand zu sehen. Um diese Zeit begegnete ich fast nie einem Menschen hier im Wald. Als ich schon glaubte, meine Sinne h?tten mir einen Streich gespielt, h?rte ich die Stimme und die selben Worte wieder: 'Ich m?chte Dir mein Geheimnis erz?hlen.'
Und wieder blickte ich mich vergeblich nach jemandem um, der diese Worte gesprochen haben k?nnte.
'Ich habe zu Dir gesprochen' sagte die Stimme in ihrem tiefen Bass.'Wer spricht da?' fragte ich laut und lies wieder meinen Blick umherwandern.'Du hast mich soeben umarmt.'
Es dauerte einige Sekunden, bis mir bewusst wurde, dass ich ja nur diese alte Eiche umarmt hatte. Aber das konnte nat?rlich nicht sein.
Auch wenn es vielleicht irrational erscheinen mag, aber ich sprach trotzdem den Baum an: 'Sprichst Du mit mir?'
Als zuerst keine Antwort kam und ich schon begann mich einen Narren zu schelten, erklang die Stimme wieder: 'Ja, ich spreche mit Dir. Du bist der erste Mensch zu dem ich je gesprochen habe und ich m?chte Dir ein Geheimnis erz?hlen - mein Geheimnis.'Langsam begann ich an meinem Verstand zu zweifeln, aber ich dachte, am einfachsten sei es das Spiel mit zu spielen. Vielleicht lag ich ja noch in meinem Bett, schlief tief und fest und tr?umte.
Dennoch regten sich in mir Zweifel. 'Du bist ein Baum. Du kannst nicht sprechen.''Alle B?ume k?nnen sprechen. Aber sie tun es nicht. Auch ich habe noch nie zuvor gesprochen. Aber ich m?chte Dir mein Geheimnis erz?hlen. Du sollst es kennen lernen und den Menschen davon erz?hlen. Es ist mein Geheimnis. Niemand kennt es bisher. Ich bin in meiner Art einzigartig. Keine andere Eiche vermag das selbe zu tun wie ich es vermag.''Was ist das f?r ein Geheimnis? Warum willst Du es ausgerechnet mir erz?hlen?''Ich habe meine Gr?nde, warum ich zu Dir spreche. Nur so viel kann ich Dir verraten: Ich wei?, dass Du ein Freund bist und dass Du der Richtige bist dem ich mein Geheimnis erz?hlen kann und der mir versprechen wird daf?r zu sorgen, dass auch andere davon erfahren.'
' Ich...'
'Ich wei?, dass Du mich magst, dass Du Dich in meiner N?he wohlf?hlst'
'Das stimmt, ja... aber... Ehrlich gesagt, ich bin ziemlich verwirrt'
'Das ist verst?ndlich. Dennoch bitte ich Dich mir Dein Versprechen zu geben. Versprich mir mein Geheimnis unter die Menschen zu bringen. La? sie wissen was ich f?r sie getan habe, wie gl?cklich ich viele von Ihnen gemacht habe. Auch Du bist einer von Ihnen.''Ich bin auch einer von ihnen? Aber was...'
'Versprich es mir bitte und ich werde Dir alles erz?hlen.'
'Also... also gut, ich verspreche es'
'Ich danke Dir. H?re nun also meine Geschichte. Eine Geschichte, die ungew?hnlich und wahrscheinlich einmalig ist. Deshalb liegt mir so viel daran, dass die Menschen sie erfahren:

Vor fast 1000 Jahren keimte genau an der Stelle an der ich hier stehe eine kleine Eichel. Nicht eine Pflanze, die du hier im Umkreis siehst, gab es zu dem damaligen Zeitpunkt.Aber es gab andere Eichen und aus eben einer deren Fr?chte wurde ich geboren. Ihr Menschen nennt es keimen, aber es ist eurem geboren werden ?hnlicher, als ihr denkt. Aber das spielt hier und heute keine Rolle. Ich kann mich an meine fr?hen Kindheitstage, die ich als aufstrebender Spross erlebte nicht mehr erinnern. Aber es muss ein hartes Leben gewesen sein. Nur wenige Spr?sslinge schaffen es zu ?berleben und nur sehr, sehr wenige schaffen es mein Alter zu erreichen. Der Kampf um Nahrung, Wasser und vor allem Licht war gro?. Nur der, den der Zufall an der richtigen Stelle gebar, hatte eine Chance zu ?berleben. Ich kam in diesen Genuss. Fast den ganzen Tag beschien mich die Sonne, ohne dass der Boden austrocknete.
Ich wurde gr??er und gr??er. Mein ehemals zarter St?ngel wurde zu einem Stamm. Die anderen kleinen Eichen um mich herum verk?mmerten. Ich nahm ihnen das Licht und entzog ihnen die N?hrstoffe und das Wasser und wurde noch gr??er.
Das mag sich in Deinen Ohren grausam anh?ren, aber so ist das Leben unter Pflanzen. Nur der St?rkere ?berlebt. Es gibt keine Ausnahmen.
Eines Tages, es m?gen bestimmt 200 Jahre vergangen sein, bemerkten mich zwei Menschen. Ein junger Mann und eine junge Frau.
Sie blickten mich an, bewunderten meine Gr??e.
Du musst wissen, dass ich zu diesem Zeitpunkt alle B?ume in der Umgebung um ein ganzes St?ck ?berragte. Ich war wohl damals schon das, was ihr imposant nennt.
Nun, wie auch immer. Diese zwei Menschen lie?en sich im Schatten meiner dicht belaubten Zweige nieder und lehnten sich gegen meinen Stamm.
Als sie da so sa?en und miteinander sprachen, bemerkte ich, dass sich beide pl?tzlich sehr zueinander hingezogen f?hlten. Auch bevor sie sich an meinem Stamm niedergelassen hatten, waren sie Freunde gewesen. Aber nun wurden sie von Gef?hlen viel intensiverer Art ?berw?ltigt. Sie sp?rten, dass sie sich liebten.
Jetzt wirst Du denken, das war sicher ein Zufall. Das w?re auch gut m?glich. Ein P?rchen, dass sich mag, merkt an einem, ich will es mal romantischen Ort nennen, dass es sich liebt.Aber so war es nicht.
Wenige Tage sp?ter passierte es wieder. Und dann wieder und wieder.Sobald ein Mann und eine Frau sich unter meine Zweige setzten, verliebten sie sich ineinander. Ohne Ausnahme.
Es m?ssen mittlerweile Zehntausende gewesen sein, die durch mich zueinander gefunden haben. Auch Du bist einer von ihnen.
Bis heute habe ich keine Erkl?rung daf?r gefunden. Aber es scheint wohl so zu sein, dass ich die Herzen der Menschen mit Liebe erf?llen kann.

So, nun kennst Du mein Geheimnis. Denke an Dein Versprechen. Erz?hle den Menschen von mir. La? sie wissen, dass sie mit dem F?llen eines Baumes auch Liebe vernichten k?nnten.'

Ich hatte der Geschichte aufmerksam gelauscht und erinnerte mich wieder daran, wie meine Frau und ich zum ersten Mal unter dieser gewaltigen Eiche sa?en. 'Auch Du bist einer von Ihnen' hatte der Baum gesagt. Und ich erkannte, dass jedes Wort wahr war. Also versprach ich ihm noch einmal, sein Geheimnis, dass ja nun keines mehr sein sollte unter den Menschen zu verbreiten.
Meiner Frau erz?hlte ich noch am selben Tag davon und ich wei? leider bis heute noch nicht genau, ob sie mir glaubt. Aber ich wei?, dass wir uns beide lieben und unsere Liebe unter diesem Baum seinen Anfang genommen hatte.
Und ich wei?, dass ich ein Versprechen gegeben habe.
Aus diesem Grund habe ich diese Geschichte aufgeschrieben.
Selbst wenn Du sie nicht glauben solltest, hat sie Dich vielleicht zum Nachdenken angeregt.Ich wei? nicht ob B?ume eine Seele haben, aber ich wei?, dass sie Lebewesen sind und dass zumindest einer von ihnen ein Geheimnis hatte.
Wer wei?, was f?r Geheimnisse es noch gibt. Geheimnisse die vielleicht immer ein Geheimnis bleiben.









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