Mick Jagger

[Aus "The Rolling Stones" erschienen zur ´98 Tour]


Von seinem vordergründigen Medienimage profitieren die Rolling Stones bis heute. Er gilt in den Augen der Öffentlichkeit als im höchsten Maße wild, exzessiv und verrucht, obwohl er tatsächlich ein Ausbund an Disziplin ist und nur selten über die Stränge schlägt. Seine energetische Show wird mit ihm als Person gleichgesetzt, denn so wie er sich gibt und aussieht, muss es, so die naheliegende Vermutung, auch hinter der Bühne oder bei ihm zu Hause zugehen. Jaggers Facetten sind demgegenüber so vielschichtig wie die Farbschattierungen eines Regenbogens.

Seine Bühnenpräsenz ist primär der Dreh? und Angelpunkt aller Betrachtungen. Die Stones ohne Richards sind nahezu unvorstellbar, aber ohne Jagger völlig undenkbar. Er gibt den Stones das Besondere, das absolut Einzigartige. Seine Stimme lässt sich aus Tausenden heraushören und seine Performance ist erstens unverwechselbar und zweitens seit Urzeiten unerreicht. Niemand kann ihm auf der Bühne das Wasser reichen, noch nicht einmal ansatzweise. Und das, obwohl er älter und nicht jünger wird, In seinen riesigen Fußstapfen ist noch keiner klargekommen. Seine zahlreichen Imitatoren sind im Laufe der Zeit entweder bald wieder in der Versenkung verschwunden oder sie konnten mangels Kondition und Inspiration ihrem Vorbild nicht länger nacheifern. Das schier Unglaubliche am Bühnen ? Jagger ist die Tatsache, dass er auch nach 36 Jahren nicht abgebaut hat, sondern immer besser geworden ist. Wer Jagger heutzutage on stage wirbeln sieht, würde alles vermuten, nur nicht, dass der Mann mittlerweile Mitte 5o ist.

Wer nun der Frontmann der Rolling Stones wirklich ist, weiß kaum jemand. Im Laufe der Zeit ist zig Mai versucht worden, hinter seine Fassade zu steigen. Es gehört zu Jaggers hervorstechendsten Eigenschaften, keine Einblicke in sein Innenleben zu gewähren, schon gar nicht der Öffentlichkeit. Ganze Horden von Journalisten haben versucht, Jagger transparenter zu machen, überwiegend ohne Erfolg. Hat er es mit Vertretern der üblichen Popjournalie zu tun, macht er sich oft und gerne einen Spaß daraus, mit möglichst vielen Worten möglichst wenig auszusagen. Wenn ihm gelegentlich der Sinn danach steht, beginnt Jagger interessante Statements von sich zu geben. Weit das eigentlich gar nicht beabsichtigt ist, zügelt er sich noch während der Aussagen selbst und hängt nur noch Banalitäten dran. Ist sein Gegenüber nicht unterbelichtet, kann es passieren, dass er sich zu substanziellen Äußerungen hinreißen lässt, doch auch dann schwenkt er blitzartig wieder um, vernebelt, legt falsche Fährten. Kaum jemand wechselt so dreist das Thema wie er oder tut so, als wenn er nichts wüsste, Ein typisches Beispiel hierfür ist ein Interview, das Jagger 1977 der ZDF?Sendung "Aspekte" gab. Alle Welt sprach damals von Punk, nur er nicht. Er behauptete, davon noch nie im Leben gehört zu haben. Johnnie Rotten? Wer ist das? Er brachte den Interviewer schier zur Verzweiflung. Als das Gespräch nach einer Weile notgedrungen abgebrochen wurde, die Kamera aber weiterlief, sah man einen Jagger auf dem Sofa sitzend, die eine Hand vor dem Mund, fast tosprustend, mit der anderen Hand winkend "bye, bye!" Die war er los, der nächste bitte!

Jaggers Herkunft und Jugendzeit lässt gewisse Rückschlüsse auf seine heutige Persönlichkeit zu. Er stammt wie Richards aus Dartford, einer Kleinstadt südlich von London. Viel mehr Gemeinsamkeiten verbinden die beiden allerdings nicht. Im Gegensatz zu Richards wuchs Jagger in einem für englische Verhältnisse untypischen Mittelklassemilieu auf. Man lebte nicht in Saus und Braus, aber auch keineswegs in Armut. Die Familie von Basil (Joe) und Eva Jagger funktionierte auch und vor allem zwischenmenschlich, Michael (war der erste Sohn der Jaggers, vier Jahre nach ihm wurde Bruder Chris geboren. Jagger verlebte eine behütete Kindheit. Das Verhältnis zu seinen Eitern blieb überwiegend konfliktfrei. Mick Jagger hatte keine gravierenden schulische Probleme. Er war intelligent, schafft die gestellten Anforderungen mühelos, ließ aber schon bald Zeichen e ausgeprägten Einzelgängers erkennen. Er suchte förmlich das Besondere. Interessierte sich eine Mehrheit irgend etwas, dann kam das für ihn Sicherheit nicht in Frage. War etwas unbekannt, dann konnte es sein Ding werden, zumindest war das die Grundvoraussetzung. Diese früh entwickelte Affinität zu special unknown things prägte vor allem auch seinen Musikgeschmack. Was im Radio lief und von allen nachgepfiffen wurde, ließ ihn kalt. Dadurch, dass Klein-Jagger zu in der Nähe von Dartford stationierten US-Soldaten Kontakt bekam, geriet er mit dem schwarzen Blues in Berührung. Das traf seinen Nerv. Fortan unterschied er zum Erstaunen seiner Altersgenossen "Schwafelpop a la Elvis" von ,"echter Musik", wobei es ihm darauf ankam, dass die Sache "so schwarz und undefinierbar wie möglich sein musste." Jagger besaß bereits mit 9 Jahren ein ausgeprägtes Talent, Stimmen zu imitieren, belustigte mit dieser Fähigkeit ganze Familienabende. Das kam ihm zupass als er damit begann, Bluesnummern nachzusingen. Die Mehrzahl seiner Freunde konnte seine Extravaganzen nicht nachvollziehen. Nur ganz wenige teilten seine Vorlieben. Es entstand ein kleiner Kreis von Bluesenthusiasten. Jagger schrieb wegen seiner Leidenschaft an "Chess Records", um an der Quelle die raren Tonträger direkt zu bestellen.

Jagger frönte zwar seinen geschmacklichen Vorlieben, isolierte sich jedoch nicht gegenüber Gleichaltrigen. Er sah die Dinge pragmatisch, lebte zunehmend in seiner Welt, ließ aber den Kontakt zur Außenwelt nicht abreißen. Sein schulischer Weg nahm weiter seinen Lauf, allerdings baute er leistungsmäßig ab. Er versuchte mit so wenig Einsatz wie möglich durchzukommen, da ihn vieles nicht mehr tangierte. Er äußerte Berufsziele wie Diplomat, Politiker oder Journalist, um "eine Menge Geld zu verdienen". Nach dem Abitur schrieb er sich in der renommierten London School of Economics ein. Sein Weg schien mehr oder weniger vorprogrammiert. Studium, Job, Familie, außergewöhnliche Hobbys hätten die Inhalte seines Lebens sein können, ja sogar müssen.

Das zufällige Zusammentreffen von Jagger und Richards auf dem Bahnhof von Dartford gilt als die Geburtsstunde der Rolling Stones. Sicherlich war diese Begegnung von schicksalhafter Bedeutung. Beide kannten sich von ganz früher, hatten aber überhaupt keinen Kontakt mehr zueinander. Jeder für sich befand sich auf dem Weg zu seiner Hochschule. Jagger zur London School Of Economics und Richards zu seiner Kunstschule. Richards hätte den upper class-Typen vermutlich nicht angesprochen, wenn dieser nicht ein paar merkwürdige Platten unter dem Arm gehabt hätte. Das ungleiche Paar stellte im Zug eine verblüffende Übereinstimmung in Sachen Musik fest. Hieraus ergab sich, dass Richards zukünftig bei Jagger und Dick Taylor, dem späteren Macher der "Pretty Things", regelmäßig vorbeischaute. Es gab nämlich eine Art Band, die mehr oder weniger scherzhaft herumnudelte. Richards wiederum hatte sich gerade die ersten Griffe auf einer Gitarre mühevoll erarbeitet und war wild entschlossen, Musiker zu werden.

Dass Jagger in einer Band mitmischte, war absolut kein Zeichen dafür, dass er eine Musikerlaufbahn einzuschlagen gedachte. Er spielte kein Instrument, sondern imitierte Bluessänger. Wohl aber reizte ihn ungemein das Gefühl, mit anderen Leuten etwas zu machen, was nicht jeder tat. Die Frage für Jagger war nur, ob dies für ein angemessenes Auskommen jemals reichen könnte. Dass das garantiert nicht geht, stand für Jagger in Dartford vollkommen außer Frage. Spaß machte es aber, also begann er damit, eine seiner hervorstechendsten Eigenschaften langsam aber sicher auf die Spitze zu treiben: Zögern, abwarten, Hintertüren offen lassen, Risiken vermeiden, um Nachteilen aus dem Weg zu gehen. Er lavierte, zog zwar mit Richards zusammen nach London, da dort die Szene war, aber dort war auch seine Schule. Jagger/Richards bezogen eine Wohnung in der Edith Grove, die zur Keimzelle der Stones werden sollte.

Eines Tages trafen die beiden immer noch grünen Jungs Brian Jones, der Jagger/Richards meilenweit voraus war. Zwar war Jones nur knapp ein Jahr älter, aber was dieser Typ mit gerade mal 19 Jahren schon alles erlebt hatte, reichte im Normalfall locker für ein ganzes Leben. Obendrein besaß er ein profundes musikalisches Wissen und beeindruckte auch dadurch mächtig. Die Begegnung mit Jones war mindestens genau so wichtig und wegweisend wie das Treffen am Bahnhof. Auch Jones zog in die Edith Grove. Dort begann eine knochenharte Phase. In Dreck und Müll, ohne Heizung sinnierte man über eine glanzvolle Bandkarriere. Sie hausten wie die letzten Penner, schmiedeten aber Pläne für das ganz große Ding.

Jagger blieb vermutlich skeptisch, träumte aber mit. Gleichzeitig führte er sein Studium unverdrossen fort. Für Jagger war es symptomatisch, dass er trotz aller Besessenheit erst dann die London School of Economics drangab, als sich ein Erfolg der Band abzeichnete. Und trotzdem: Eine Fluchtmöglichkeit hielt er sich weiter offen. Er ließ sich für ein Jahr beurlauben, hätte nachher wieder einsteigen können, wenn es schief gegangen wäre. Innerhalb der formierten Band spielte er zunächst nicht die Hauptrolle. Die wirklich treibende Kraft war Brian Jones, dessen exponierte Stellung von Jagger akzeptiert wurde. An Richards imponierte ihm der gnadenlose Durchsetzungswille.

Jaggers spätere Dominanz innerhalb des Bandgefüges resultierte aus seiner Bühnenshow, die ihn nach und nach zum Mittelpunkt machte. Früh hatte er gemerkt, dass es ihm gelingt, ein Publikum zu fesseln, wenn er aus sich herausgeht, sich bewegt, die Musik optisch darstellt. Je aktiver er auf der Bühne wurde, um so frenetischer die Publikumsreaktionen. Seine Wandlung zum "bewegten Mann" resultierte gleichermaßen aus Kalkül und Emotion.

Im Laufe der Jahre kamen bei Jagger immer wieder bestimmte Persönlichkeitsmerkmale und Eigenschaften mal stärker, mal schwächer zum Ausdruck. Nie wurde aber eine Facette ganz abgelegt, höchstens zeitweise überlagert. Er war nach den ersten Erfolgen der Stones bereit, die auf sie niederprasselnden Anfeindungen in Kauf zu nehmen, da er sich auf der anderen Seite seine intellektuelle und materielle Unabhängigkeit durch die Gruppe beschaffen konnte. Zumindest sah es schwer danach aus, dass sich diese Traumziele realisieren lassen könnten. Dementsprechend ließ er den Künstler aus sich heraus, arbeitete an sich und seiner Stimme. Seine Energien hatten ein klares Ziel bekommen. Wenn der Zug nun also in diese Richtung abgefahren war, durfte er nach Jaggers Verständnis auch nicht mehr entgleisen. Erfolg, falls vorhanden, musste konserviert bzw. durfte auf gar keinen Fall fahrlässig aufs Spiel gesetzt werden. Man bediente eine bestimmte Klientel und die durfte man nicht enttäuschen. Nicht zuletzt hieraus ergab sich seine "Medienpolitik". Die Handlungen mussten mehr oder weniger eindeutig sein, die Musik und die Texte auch, aber alles was darüber hinaus ging, musste sicherheitshalber im dunkeln gelassen werden, jedem sollte die ihm passende Interpretation möglich sein.

Das jagger'sche Bürgerschreckimage ergab sich von selbst. Es kam zustande, obwohl er weiterhin seine bürgerlichen Seiten pflegte. Seine Eltern besuchte er weiterhin, er suchte Abwechslung bei ganz normalen Freunden und lebte längst nicht so ausgeflippt wie seine Kollegen Jones und Richards, die durch das verdiente Geld in den Stand versetzt wurden so richtig die Sau rauszulassen. Natürlich trank er, natürlich rauchte er viel, natürlich kiffte und kokste er. Trotzdem eskalierte das nie so sehr, dass er den Überblick verlor. Er behielt sich unter Kontrolle, ganz bewusst.

Als die Drogenprozesse liefen, das Ende der Rolling Stones durchaus real wurde, somit auch seine Existenz auf dem Spiel stand, geriet Jagger aus den Fugen. Zeitweilig wird er alles bereut haben. Als er aus dem Richtermund hörte, dass er in den Knast wandert, brach er im Gerichtsaat fast zusammen, weinte. Richards blieb demgegenüber absolut cool und bereute natürlich absolut nichts. Der Kelch ging am Ende an ihm vorüber, aber er war geschockt. Seine Lehre daraus lautete, dass die Stones so groß sein müssen, dass sie nicht mehr angreifbar sind. Diesem Ziel hatte sich fortan alles unterzuordnen.

Das Verhältnis zwischen Jagger und Jones war anfangs fast herzlich, obwohl Jones mehr zum Vollblutmusiker Richards tendierte. Als Jagger/Richards damit begannen, auf Drängen von Oldham Songs zu schreiben, entsprang das einer schlichten Realitätseinschätzung. Jones konnte das nicht und selbst wenn er es gekonnt hätte, wäre eine Zusammenarbeit mit ihm an seine Disziplinlosigkeit gescheitert. Anders als bei Richards trennten Jones und Jagger keine privaten Probleme. Als es mit Jones dem Ende entgegenging, er aus der Band geworfen werden musste, schlugen wieder zwei Herzen in Jaggers Brust. Er gehörte nun mal dazu, war immer noch ein Faktor, wenn es um die Identifizierung mit den Stones ging und seine großen Verdienste waren unbestritten. Jagger hatte gleichermaßen moralische Bedenken als auch ganz sachliche Einwände, denn was wäre wohl gewesen, wenn er alleine Erfolg gehabt hätte, er mit einer neuen Band das eigene Fanpotential abgeschöpft hätte? Letzten Endes musste die Trennung aber sein, weil sich die Stones sonst in der USA die Tür zugemacht hätten. Er brachte es trotzdem nicht fertig, Jones die Entscheidung alleine beizubringen. Er fuhr mit Richards und Watts zu ihm. Entgegen der vorherigen Absprache sagte er aber bei dem Trennungsgespräch fast nichts. Richards führte das Wort und servierte Jones eiskalt ab.

Die Umstände, in die die Stones Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre hineingeraten waren, brachten bei Jagger vergessen geglaubte Eigenschaften wieder an den Tag. Er war genau so wie die anderen auf Allen Klein reingefallen, der ab 1966 die finanziellen Geschicke der Stones treuhänderisch managen sollte. Nur Wyman äußerte damals Bedenken gegen die Person Klein. Jagger ließ sich aber blenden. Der Deal mit Klein besagte, dass sämtliche Einnahmen zunächst zu ihm nach New York fließen, wo er auch die Gelder der Beatles verwaltete. Klein verkaufte dies als besonders cleveren Trick, um den englischen Fiskus alt aussehen zu lassen. Die Stones hatten Verträge unterschrieben, die sie förmlich entrechteten. Die Unsummen flossen nach New York, aber es kam nichts retour. Wegen jedem Penny durfte die Band Telegramme schicken, bitten und flehen. Tröpfchenweise gingen dann Schecks in London ein. Der ehemalige Wirtschaftsstudent Jagger merkte, dass er da einen gigantischen Fehler begangen hatte. Wieder war das Gesamtwerk massiv bedroht. Fuchsteufelswild ob der Ohnmacht gegenüber Klein, sann Jagger nach einer Lösung und setzte Himmel und Hölle in Bewegung. Er schlüpfte in die Rolle des Geschäftsmannes, tauchte bei Anwälten, Steuerberatern und Bankern auf und verschaffte sich in diesen Kreisen Respekt. Jagger lernte schnell und fand Freunde, so z.B. Prinz Ruppert von Löwenstein, einen deutschstämmigen, aristokratischen Finanzmanager aus der obersten Etage des internationalen Bankgeschäfts. Löwenstein war zunächst belustigt wegen des Kontakts zu einem vermeintlich ausgeflippten Popstar, merkte aber bald, dass der Mann erstaunliche Seiten aufweist. Außerdem ging es um so beachtliche Summen, bei denen man zumindest mal hinhört. Löwenstein hatte es nicht nötig, jemanden zu prellen und seither ist er die graue Eminenz im Hintergrund der Stones, der ihre monetären Angelegenheiten in ständiger Abstimmung mit Jagger koordiniert. Trotzdem, auch die seriöseste Beratung und das Einschalten der besten Anwälte konnte nicht verhindern, dass Allen Klein nahezu ungeschoren davonkam. Ein Prozess, der gegen ihn in den USA angestrengt wurde, kam nicht zum gewünschten Ergebnis, sondern fand per Vergleich sein vorzeitiges Ende. Die Stones konnten nur einen Bruchteil der geforderten Summen einstreichen. Bis heute hält Klein sämtliche Leistungs- und Urheberrechte aller Stonessongs vor 1971 und kassiert entsprechend munter und unvermindert ab.

Auch das war ein Schock, der ganz tief saß. So etwas durfte sich unter gar keinen Umständen wiederholen. Jagger füllte ab 1970 quasi die Funktion eines Stones - Aufsichtsratsvorsitzenden aus. Alle wichtigen Entscheidungen laufen seither über ihn und Löwenstein.

Diese Dinge mussten klar und seriös geregelt sein, denn weitere Probleme standen an. Ab Anfang der 70er Jahre wurde nämlich alles anders. Die Zeitstimmung änderte sich und die Band musste ihren Status verteidigen. Richards versank immer mehr in seinen Drogenproblemen und entwickelte sich fast zu einem zweiten Brian Jones. Bei Richards dachte er jedoch nie ernsthaft daran, ihn rauszuschmeißen. Statt dessen nahm er die Zügel in die Hand und entwickelte zukunftsträchtige Marketingstrategien für die Stones. Hierzu gehörte auch die Gründung eines eigenen Labels, das die Unabhängigkeit des Unternehmens Rolling Stones maßgeblich förderte. Seither hat die Band in Person von Jagger einen Manager, der alle Tricks kennt, der alles am eigenen Leib erfahren hat und dem keiner was vormachen kann. Die kalte Businesswelt beherrscht Jagger seither so perfekt wie kein anderer Rockstar.

So sehr der Stones - Frontmann in die Welt der Bilanzen, Aktien- und Wechselkurse auch einzutauchen vermag, irgendwann wird er der Sache auch wieder überdrüssig, wandelt sich zurück zum Musiker, Performer, Familienvater oder auch zum rumstreunenden Vagabunden. Er selbst sagte dazu während eines der wenigen inhaltsreichen Interviews: "Viele können schwer damit umgehen, dass ein und derselbe Mensch sehr unterschiedliche Seiten haben kann. Du kannst Familienvater sein und doch auch gelegentlich ausgehen und verrückt spielen, wütend werden und dich betrinken. Du kannst daraufhin wieder auf die Straße treten und völlig nüchtern sein. Ich finde das Leben nicht so simpel, dass da jeder nur diese eine überschaubare Persönlichkeit haben muss." Und bei anderer Gelegenheit: "Mir macht's Spaß, die eigene Persönlichkeit zu wechseln. Ich muss wie ein Chamäleon sein, alleine um meine eigene Identität zu wahren." Jagger hat es damit wohl exakt auf den Punkt gebracht.

Zu seiner Persönlichkeit zählt eben auch eine konventionell/konservative Seite, die kaum bekannt ist, die er aber nicht verhehlt. Er ist kricketbegeistert, lässt kein gutes Spiel aus, er interessiert sich für Antiquitäten und klassische Literatur, er beschäftigt sich mit Geschichte und er verfolgt das politische Geschehen. Letzteres mal mehr, mal weniger angewidert. Jagger spielte einige Male durchaus ernsthaft mit dem Gedanken, politisch aktiv zu werden. Mit Tom Driberg, einem Labour-Abgeordneten, der 1976 verstarb, führte er hierüber lange Gespräche. Durchringen konnte er sich zu nichts, weil es erstens unwägbar war und zweitens längst nicht den Spaß machen konnte, den er als Popstar nun mal genoss.

Wenn Jagger oft zögerlich oder unentschlossen erscheint, so hat das vor allem damit zu tun, dass ihn zwar vieles interessiert, er aber das Interesse wieder verliert, wenn er die Dinge unter der Oberfläche wahrnimmt, bestes Beispiel hierfür ist Politik. Je mehr er darüber weiß, um so mehr ekelt ihn die Sache insgesamt an. Hinzu gesellen sich seine sonstigen Charaktereigenschaften, die fast alle nur bis zu einem bestimmten Punkt reichen und sein Gesamtbild entsprechend indifferent wirken lassen. Jagger gilt als grundsätzlich geizig, der trotz aller Millionen den Pfennig dreimal umdreht, bevor er ihn ausgibt. Aber: Er unterstützt ca. 6o unbekannte Musiker mit hohen, regelmäßigen Zuwendungen, über die niemand spricht. Er geht in seiner Familie auf und leistet sich dann und wann trotzdem die dollsten amourösen Abenteuer und bringt alles in größte Gefahr.

Dass er weiter unvermindert seine unvergleichlichen und anstrengenden Stonesshows macht, hat nur noch ganz am Rande etwas mit Geld zu tun. Nötig hat er es seit mindestens 20 Jahren nicht mehr, sich der Gefahr auszusetzen, die eigene Legende zu beschädigen. Er macht es trotzdem. Dass er es noch kann, hat sicherlich mit Disziplin zu tun, aber nicht nur. Seit Anfang der 8oer Jahre hat er keine Zigarette mehr geraucht und schon lange vorher keine Drogen mehr angerührt. Vor und während einer Tournee trinkt er keinen Tropfen Alkohol, sonst schon, manchmal sogar über den Durst. Jagger joggt täglich zig Kilometer und hält sich mit einem ausgetüftelten Programm fit. Die Anforderungen, die an ihn gestellt werden, sind schwer zu erfüllen, aber es gelingt. Dank dem, was er auf der Bühne ausdrückt, unterliegt er dem Zwang, nicht nur zeitlos zu wirken, sondern ein ewig jugendliches Phänomen glaubhaft darzustellen. Schon vor Jahren hätte er seinen Bühnenstill schrittweise dem Alter anpassen können, ohne Gefahr zu laufen, dafür kritisiert zu werden. Statt dessen geht er aber von Tournee zu Tournee weiter. Warum nur?

Sicher dürfte sein, dass er sich nicht quälen muss, um die Gigs zu absolvieren. Dank seiner körperlichen Fitness braucht er kein Sauerstoffzelt und keine tagelangen Ruhepausen. Wäre dem so, würde es von einem Tag zum anderen keinen Bühnen - Jagger mehr geben. Das wäre er sich selbst schuldig. Die Aussicht aber, irgendwann keinen Applaus mehr zu bekommen, kein vollbesetztes Fußballstadion mehr in einen Hexenkessel zu verwandeln, das schreckt.

Ihn treibt sicherlich auch an, dass er seine Leistungsfähigkeit selbst am besten beurteilen kann und somit in der Lage ist, immer wieder aufs Neue alle Welt in ungläubiges Staunen zu versetzten, wenn er wahlweise die erhofften oder befürchteten Erwartungen übertrifft. Das ist für ihn ein sagenhafter innerer Vorbeimarsch.

Um so lange wie möglich weitermachen zu können, ist er bestrebt, alle analytischen Gedanken zu dem Thema zu umgehen. Je mehr darüber auch von seiner Seite aus nachgedacht werden würde, desto früher könnten ihn unnötige Selbstzweifel beschleichen. Jagger lebt demzufolge einzig und alleine in der Gegenwart, denn eine Beschäftigung mit der Vergangenheit kann belasten, aber eine Beschäftigung mit der Zukunft erst recht. Er ignoriert diese Dinge schlicht und einfach und fährt bisher ausgesprochen gut damit.

Jagger hatte speziell Anfang der 80er Jahre versucht, sich emotional von den Stones zu lösen, weil er unüberwindliche Hindernisse auftauchen sah. Er glaubte zu wissen, dass die Stones nicht mehr in der Lage sein würden, die immer schneller wechselnden Trends unbeschadet zu überleben, wenn sie sich nicht beständig wandeln. Richards hielt vehement dagegen und wollte auf gar keinen Fall vom Pfad der Tugend abweichen. Also koppelte er sich von der Band ab, strebte eine Solokarriere an, nicht zuletzt auch um den anderen zu demonstrieren, dass er vollkommen unersetzlich und außerdem als einziger in der Lage ist, Mittel und Wege zu finden, um on top zu überleben. Es wurde ihm allerdings zu anstrengend und an Richards These, dass man nicht nach links und rechts zu schauen braucht, war irgendwie doch was dran. Also näherte er sich wieder an und brachte sich noch stärker als vorher ein. Jagger hatte erkannt, dass das Arbeiten am einmaligen Nimbus der Rolling Stones lohnender ist als alles andere. Somit dürfte gesichert sein, dass die Stones bis ins nächste Jahrtausend hinein auf mindestens gleich hohem Niveau weitermachen werden.


© rockundliebe.de - Impressum Datenschutz