Gefangen im Schnee Teil 2

Autor: sternchen_Hannah
veröffentlicht am: 11.07.2007




Leon lief unruhig im Wohnzimmer auf und ab. Diese junge Frau machte ihn nervös. Er wollte wieder allein sein. Doch gefangen in der Schneewüste würden sie noch einige Tage - vielleicht sogar Wochen - miteinander auskommen müssen. Um die Vorräte machte er sich keine Gedanken, aber die Nähe zu ihr erdrückte ihn.
Schließlich setzte er sich an seinen Schreibtisch und begann zu schreiben. Die Tasten seines Laptops klackerten unter seinen flinken Fingern und das vertraute Geräusch beruhigte ihn allmählich. Die Geschichte floss aus seinem Innern heraus und er vergaß Zeit und Raum. Vor seinem inneren Auge entstanden Bilder von Tieren und Umgebungen. Die Dialoge reihten sich organisch in das Gesamtgeschehen und Leon freute sich, seine Bilderbuch - Freunde zu treffen und fühlte sich glücklich.
Irgendwann tauchte er wieder in der Realität auf. Die Stille, die ihn umgab, wurde hörbar und er stand auf, streckte seine steifen Glieder und zwinkerte erstaunt, als er merkte, dass es bereits dunkel geworden war. Er würde Tee kochen und dann nach seinem Gast sehen. Der Geruch frisch aufgebrühten Tees lag in der Luft und er deckte den Tisch mit Brot, Wurst und Käse. Dann ging er leise in das obere Stockwerk. Sachte klopfte er an die Tür von Jennifers Zimmer. Als sie sich nicht rührte, stieß er beunruhigt die Tür auf und trat ein. Im Zimmer war es stockdunkel und unheimlich still. Leon tastete nach dem Lichtschalter und knipste die Deckenlampe an, die den Raum in schwaches Licht tauchte. Leon stellte sich neben das Bett und beugte sich zu Jennifer. Sie lag friedlich schlafend wie ein Kind in die Decken gehüllt mit rosigen Wangen und entspannten Gesichtszügen. Leon spürte ein Ziehen in der Magengegend und er strich zärtlich eine braune Haarsträhne aus Jennifers Gesicht. Sie regte sich, drehte sich auf den Rücken und streckte die Arme unter der Decke hervor. Sie reckte sich und öffnete schließlich die Augen. Sie grinste Leon fröhlich an: 'Oh, habe ich gut geschlafen. Ich habe entsetzlichen Hunger.'
Leon betrachtete erstaunt das freche Glitzern in Jennifers Augen. Sie schien sich sichtlich zu erholen und weitere Facetten ihrer Persönlichkeit ans Tageslicht zu bringen. Blitzschnell warf sie die Bettdecke zurück und sprang mit einem Satz vor das Bett. Sie hatte die Schwäche ihres Kreislaufs nicht berücksichtigt und schwankte unsicher auf ihren wackeligen Beinen. Geistesgegenwärtig ergriff Leon ihren Arm: 'Langsam. Sie müssen sich noch in acht nehmen!', brummte er. Als sie sich wieder gefangen hatte, ließ er sie abrupt los und drehte sich um. Bei der Tür sagte er nur: 'Das Essen steht auf dem Tisch.'
Kopfschüttelnd folgte Jennifer ihrem Gastgeber. Sie fragte sich, warum er so wechselhaft war.Sie wartete seit Stunden auf ihn. Er war nach dem Mittagessen aufgebrochen, um nach der Straße zu sehen. Er hatte seinen dicken Anorak übergeworfen, die schweren Stiefel angezogen und eine wollne Mütze tief ins Gesicht gezogen. In seinem Rucksack transportierte er Tee und Socken zum Wechseln. Nun saß Jennifer am Fenster und versuchte in der Dämmerung etwas zu erkennen. Aber der Schneefall hatte noch immer nicht nachgelassen und so war jedes Ausspähen zwecklos.
Sie kochte Tee. Mit der Tasse in der Hand schlenderte sie durch das Wohnzimmer. In einer Ecke stand ein alter zerkratzter Schreibtisch, der mit Papieren, einem Laptop, Bleistiften, Radiergummis und Kleinkram übersät war. Der Tisch stand unmittelbar vor einem Fenster, so dass bei gutem Wetter die Sonne direkt auf die Platte fallen musste. Der Stuhl, der davor geschoben war, wies Spuren von Tinte und Kaffeeflecken auf. Neugierig ließ Jennifer ihren Blick über das Sammelsurium schweifen, als er an einem Stapel Schriftstücken hängen blieb. Wie von einem Sog angezogen, begann sie zu lesen: eine Kindergeschichte. Langsam sank Jennifer auf den Stuhl, stellte die Tasse ab und griff nach dem Papierhaufen. Sie zog ihn vor sich und tauchte in eine friedliche humorvolle Welt, in der Tierkinder miteinander lebten und spielten und weise Alttiere sie erzogen und liebten. Der Hauptprotagonist war ein kleiner Bär und Jennifer erkannte die Serie: ‚Petzo - Ein kleiner Bär entdeckt die Welt.' Leon war ein berühmter Kinderbuchautor! Die Minuten verrannen und wurden zu Stunden, aber Jennifer nahm von all dem nichts wahr. Sie vertiefte sich in die Geschichte und in ihrem Kopf entstanden Bilder.
Als Leon nach Hause kam, wachte sie wie aus einem Trancezustand auf und wandte ihm den Kopf zu: 'Es ist wunderschön!' Ihre Augen waren ganz glasig und ein kindliches Lächeln spielte um ihre Mundwinkel.
Leons Augen verdunkelten sich zu einem Gewittergrau. Er blieb mitten im Zimmer stehen und starrte unverwandt zu Jennifer.
Sie bemerkte seinen Blick und eine steile Falte zeigte sich über ihrer Nase.
'Was fällt Ihnen ein, in meinem Sachen zu schnüffeln?' Seine Stimme donnerte durch den Raum.
'Ich - entschuldigen Sie - ich hätte erst fragen müssen, aber ich habe die erste Seite gesehen und da - da war ich schon vertieft in Ihre Geschichte. Ich habe die Zeit vergessen!' Sie lächelte ihn entschuldigend an.
'Machen Sie das nie wieder! Haben Sie verstanden?' Sein Blick bohrte sich in ihren und sie glaubte innerlich verbrennen zu müssen.
Fluchtartig stürzte Jennifer an ihm vorbei und lief mit pochendem Herzen die Treppe hinauf, wo sie im Gästezimmer verschwand und mit zitternden Händen die Tür ins Schloss drückte.Leon war mit drei großen Schritten beim Schreibtisch. Er schob die Blätter sorgfältig zusammen und legte sie wieder auf einen ordentlichen Stapel neben den Computer. Niemals mehr würde eine Frau seine Kinderbücher belächeln! Seine kleinen Leser verstanden ihn und liebten die Protagonisten seiner Geschichten. Aber Erwachsene hatten den Blick für das Wesentliche häufig verloren und er wollte sich die Welt, die er geschaffen hatte, unter keinen Umständen zerstören lassen.
Während Leon sich umzog, das Feuer schürte und Abendbrot zubereitete, saß Jennifer zitternd in einem Schaukelstuhl, den Leon ihr am vorherigen Tag ins Zimmer geschafft hatte. Sie hatte sich in eine Wolldecke gewickelt und wiegte sich hin und er. Heiße Tränen rannen über ihre Wangen, weil sie sich so entsetzlich einsam fühlte. Sicher, es war falsch und unhöflich gewesen, in Leons Sachen zu lesen, aber sie hatte ihren Fehler zugegeben und sie verstand seine harsche Reaktion nicht. Seine blauen Augen waren fast schwarz gewesen und er hatte eine unbändige Brutalität ausgestrahlt, wie er sich vor ihr aufgebaut hatte. Was war das für ein Mann? Einerseits war er humorvoll und freundlich, wie man in seinen Büchern lesen konnte, er war fürsorglich - das hatte sie am eigenen Leib erfahren, er konnte gut zuhören und er war - verschlossen. Er gab nichts über sich selbst preis. Er lebte zurückgezogen und sie war in seine Welt eingedrungen. Jennifer hielt inne, als sie diesen Gedanken näher betrachtete. Wahrscheinlich war sie Leon eine größere Last, als sie ohnehin schon vermutet hatte. Sie musste sich unbedingt erkundigen, ob die Straßen und Wege wieder passierbar waren, damit sie ihn verlassen konnte. Ein Blick aus dem Fenster nahm ihr allerdings diese Hoffnung, der meterhohe Schnee wurde durch den starken Wind ans Fenster geweht und hinterließ seine weißen, unerbittlichen Spuren.
Sie saß im Dunkeln, als Leon leise das Zimmer betrat. Sie hatte auf sein Klopfen nicht reagiert und er hatte einfach die Tür geöffnet. Den Rücken der Tür zugewandt, wiegte sie sich im Stuhl gleichmäßig sanft hin und her. Eine warme Wolldecke lag um ihren Körper und ihr braunes Haar war zu einem Zopf im Nacken mit einem Baumwollfaden, den sie sicher irgendwo gefunden hatte, zusammengebunden. Sie rührte sich auch nicht, als die Dielen unter seinen Tritten knarrten. Leon ging zu ihr und trat neben den Schaukelstuhl.
'Ich habe Tee gekocht. Wollen Sie auch etwas essen?'
Jennifer schüttelte nur stumm den Kopf und Leon stellte die Tasse auf die Kommode. Unsicher wischte er sich die Hände an seiner Jeans ab und steckte sie anschließend in die Hosentaschen. Jennifer blickte starr geradeaus.
'Es tut mir leid, dass ich Sie so angebrüllt habe.' Seine Stimme war sanft und dunkel.Als Antwort hob Jennifer nur den Blick. Ihr Kinn begann zu zittern und sie musste sich auf die Lippe beißen, um nicht wieder zu weinen.
Leon zuckte hilflos mit den Schultern: 'Ich geh dann mal wieder. Wenn Sie Hunger bekommen, dann finden Sie in der Küche etwas. Gute Nacht.'
Jennifer nickte kaum merklich und Leon verließ mit schlechtem Gewissen das kleine Gästezimmer.
Am anderen Morgen, als Jennifer die Treppe herunterkam, hatte Leon bereits das Haus verlassen. Ein Zettel auf dem Tisch teilte ihr mit, dass er vermutlich nachmittags wieder da sein würde. Er sei auf Jagd und wolle außerdem nach den Straßen sehen. Die Einsamkeit, die die junge Frau umgab, war hörbar und spürbar und fröstelnd zog Jennifer ihren Pullover enger um sich. Nach dem Frühstück spülte sie das Geschirr, schürte das Feuer und putzte das Bad. Doch die Zeit verging nur schleichend. Sie legte ihr Bett aus - in sein Zimmer ging sie nicht -, fegte das Wohnzimmer und setzte sich schließlich erschöpft vor den Kamin. Ihr stand immer noch der lange Tag vor Augen, dessen Stunden dahin zu tröpfeln schienen. Wann würde Leon zurückkommen? Was sollte sie in der Zwischenzeit machen?
Plötzlich tauchten die Bilder, die durch das Lesen des Kinderbuches in ihr entstanden waren, wieder vor ihrem inneren Auge auf. Sie hatte früher viel gemalt, aber wegen ihres Berufes und wegen Roland die Sache aufgegeben. Ob sie es vielleicht noch beherrschte?
Jennifer schlich zum Schreibtisch, nahm von dem Stapel weißen Papiers und schnappte sich einige Bleistifte und ein Radiergummi. Grimmig dachte sie an die bevorstehende Schelte, aber der Drang, ihre Bilder entstehen zu lassen, war größer als die Angst vor einem erneuten Zornesausbruch ihres Gastgebers.
Der Bleistift flog zügig übers Blatt. Sie ließ den kleinen Bären zum Leben erstehen, gab seinen Spielkameraden ein Gesicht und malte die Landschaft und den Himmel. Sie merkte gar nicht, wie die Zeit verging. Immer wieder spitzte sie den Stift, wechselte zwischen weichen und härteren Minen und gab der gesamten Geschichte eine bildhafte Gestalt. Die Zunge konzentriert zwischen die Lippen geschoben, die Augenbrauen leicht zusammengezogen und die Füße unter den Po geklemmt saß sie am Esstisch, als Leon nach Hause kam. Sie hörte ihn nicht. Verwundert blickte Leon zu ihr hin. Sie saß über den Tisch gebeugt, aber er konnte ihr Gesicht nicht erkennen, weil eine einzelne Haarsträhne über ihre Wange gefallen war. Leise trat er zu ihr und starrte gebannt auf die Zeichnungen, die auf dem Tisch verstreut lagen. Er erkannte all seine Protagonisten und sie hatte sie mit menschlichen Zügen versehen. Petzo hatte seine Gesichtszüge! Fasziniert beobachtete Leon, wie sie eine neue Figur aufs Papier brachte und er konnte noch nicht einmal böse sein, dass sie seinen Lieblingsbleistift, den ihm ein kleiner Leser geschenkt hatte, bis auf einen Stumpen abgespitzt hatte. Das Rascheln seines Anoraks neben ihrem Ohr ließ sie aufschrecken und sie starrte Leon mit weit aufgerissenen Augen an. Er lächelte nur und griff nach einem der Blätter: 'Sie haben mich gemalt.'Eine leichte Röte überzog Jennifers Gesicht, aber sie nickte tapfer.
'Die Eule - wer ist das?'
'Das ist eine Lehrerin von mir, die ich sehr gerne gemocht habe.'
'Frau Eule stellt auch meine Lieblingslehrerin dar.' Leon legte das Blatt zurück und schaute Jennifer tief in die Augen: 'Sie haben mich besser erkannt, als jemals jemand vor Ihnen.''Ich habe nur das gemalt, was ich aus Ihrem Buch gelesen habe.' Jennifer rutschte auf ihrem Stuhl hin und her.
'Sie haben es verstanden.' Mit diesen Worten drehte sich Leon um, um sich umzuziehen und ließ eine völlig verblüffte Jennifer zurück.
Später saßen sie vor dem Kamin. Die Flammen tauchten alles in sanftes Licht und das Knacken des Holzes war das einzige Geräusch, das die Stille unterbrach. Leon wandte sich an Jennifer: 'Woher können Sie so gut malen?'
'Ich habe schon immer gerne gemalt. Schon als Kind. Und wie sind Sie darauf gekommen zu schreiben?'
Leon nahm sich Zeit für eine Antwort und Jennifer befürchtete schon, er würde sie wieder ohne Auskunft abspeisen. 'Ich habe früher auch schon geschrieben - Krimis für Erwachsene - unter einem Pseudonym. Aber irgendwann habe ich mich entschieden für die ehrlichsten aller Menschen zu schreiben, für Kinder.'
'Sie schreiben wunderbar. So, als ob Sie einem Kind persönlich die Welt erklären und selbst dabei die Welt noch einmal neu entdecken.'
Beschämt guckte Leon in die Flammen. 'Warum malen Sie nicht mehr?' Abrupt wechselte er das Thema.
'Wie kommen Sie darauf?'
'Ich nehme nicht an, dass Sie neben Ihrem Beruf Zeit dazu haben.'
'Sie haben Recht. Ich hatte das Zeichnen bereits aufgegeben, als ich die Gelegenheit gehabt hätte, etwas daraus zu machen.'
Leon hob nur fragend eine Braue.
'Mein Vater hatte für mich große Pläne. Ich sollte sein Unternehmen übernehmen, dazu musste ich Betriebswirtschaft studieren. Als ich das Studium absolviert hatte, starb er und hinterließ mir eine gut gehende Firma. Ich war verpflichtet - dachte ich.'
'Warum haben Sie sich nicht gewehrt?'
'Ich war die einzige Tochter. Meine Mutter starb, als ich noch sehr klein war und er hatte nur mich. Ich wollte ihm nicht wehtun.'
'Das kann ich verstehen. Und jetzt?' Leon blickte ihr in die Augen.
'Ich weiß es noch nicht. - Was ist mit Ihnen?'
'Ich schreibe. Und Sie sollten Kinderbücher illustrieren.'
'Das war immer mein Wunsch,' kam die leise Antwort.
'Worauf warten Sie?'
'Ich weiß es nicht.'
'Warum haben Sie Petzo meine Züge gegeben?' Neugierig forschte Leon in ihrem Gesicht.'Weil Ihr Sohn Ihnen ähnlich sehen muss.'
Leon erstarrte und Jennifer fragte sich, was sie nun schon wieder falsch gemacht hatte.'Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Aber Sie erklären doch die Welt einem Kind - und ich hatte das Gefühl, dass es Ihres sein sollte.'
'Sie haben Recht.' Leon schloss die Augen. Qualvolle Minuten, in denen das Schweigen mehr sagte als tausend Worte, vergingen. Dann endlich begann Leon: 'Ich - - war mit einer blonden schönen Frau zusammen. Sie wollte Mannequin werden. - Als sie schwanger wurde, war ich aus dem Häuschen und wollte sie heiraten. Aber sie mich nicht. Sie wollte Karriere machen. Ich hatte auch nichts dagegen. Als Schriftsteller konnte ich auch zu Hause arbeiten und mich um das Kind kümmern. Aber sie lehnte eine Heirat ab. - Ich bat sie, mir das Kind zu überlassen, sobald es auf der Welt war. Aber sie - - sie ließ es abtreiben - ohne mein Wissen und hat es mir hinterher gesagt. Sie hat mein Kind getötet!' Ein Schluchzen schüttelte Leon und Jennifer legte einfach ihren Arm um ihn, um ihm Trost und Halt zu geben.
'Ich habe meinen Sohn in meinen Büchern zum Leben erweckt und versuche so anderen Kindern die Liebe, die ich ihm nicht geben kann, zu schenken.'
'Sie machen viele Kinder glücklich.'
Leon stand auf, um Holz nachzulegen. 'Sie hat mich für meine Bücher ausgelacht.'
'Sie hat Sie nicht verstanden.' Jennifer strich ihm zärtlich über die Wange. Leon legte seinen Kopf schräg und lehnte seine Stirn an Jennifers; so standen sie eine Weile und gaben sich gegenseitig Trost und Verständnis.
Am nächsten Morgen wurde Jennifer durch einen Sonnenstrahl geweckt. Sie schwang sich aus dem Bett und lief zum Fenster. Ein atemberaubender Anblick bot sich ihr: Ein azurblauer Himmel spannte sich über die verschneite Landschaft, die am Horizont durch eine Bergkette begrenzt war. Ein Adler schwebte über einem Schneefeld und veranlasste einen Schneehasen blitzschnell die Flucht zu ergreifen. Es war ein Glitzern und Leuchten über der Landschaft, das fast unecht wirkte. Schnell zog sich Jennifer an und huschte die Treppe hinunter. Der Duft frischen Kaffees stieg ihr in die Nase und auf dem Tisch stand ein Teller mit frisch gebratenem Schinken. Das Wasser lief ihr im Mund zusammen, als sie sich auf der Bank hinter dem Tisch niederließ. Leon kam mit zerzaustem Haar aus der Küche und schenkte ihr Kaffee ein: 'Guten Morgen. Haben Sie Lust nachher ein Stündchen hinaus zu gehen?''Oh, ja!' Jennifers dunkle Augen strahlten.
'Dann sollten Sie jetzt kräftig zulangen, damit Sie bei Kräften bleiben.' Leon nahm ihr gegenüber Platz und griff im selben Moment wie Jennifer in den Brotkorb. Ihre Hände trafen sich und sie zuckten beide blitzartig zurück. Dann vernahm Jennifer nur ein Glucksen und als sie den Blick hob, löste sich ein warmes volles Lachen aus Leons Brust. Erstaunt starrte Jennifer ihren Gastgeber einen Augenblick an, ehe sie in das befreiende Lachen einstimmte.Nach dem Frühstück rüsteten sie zu einer Wanderung. Leon öffnete die Tür und ein Schwall kalter, frischer Luft strömte ihnen entgegen. Jennifer musste trotz Sonnenbrille zwinkern, der Schnee reflektierte die Sonne so stark, als würde sie direkt in Scheinwerfer blicken. Leon schulterte seinen Rucksack und schob dann seinen Arm unter Jennifers Ellbogen. Er hatte bereits vor der Hütte Schnee geschoben, so dass ein Gang zwischen mannshohen Schneemauern entstanden war. Jennifer legte den Kopf in den Nacken und stieß einen Jauchzer aus. Lächelnd zog Leon sie weiter und sie stapften durch den hohen Pulverschnee Richtung Gletscher.
Nach einer Weile blieb Leon stehen und holte sein Fernglas aus dem Rucksack. Sein Blick streifte die Bergkette vor ihnen und er beobachtete einen Adler, der majestätisch seine Kreise zog. Dann reichte er den Feldstecher an Jennifer weiter.
'Dort drüben', er wies mit einer Hand auf einen Berg, 'dort haben Sie gestanden, als die Lawine abging und dahinten', Jennifer folgte seinem Finger, 'sind Sie gelandet.'
Ungläubig starrte Jennifer auf die Entfernung zwischen dem Berg, wo sie zuletzt gestanden hatte, ihrem Fundort und dann auf den langen Weg, der zu Leons Haus führte. Langsam setzte sie das Glas ab und wendete sich ihrem Retter zu: 'Das war ein Wunder!'
Leons Augen strahlten so blau wie der Himmel: 'Ich wurde von einer höheren Macht getrieben. Ich glaube auch, dass es ein Wunder war.'
Jennifer reichte ihm das Fernglas, das Leon wieder verstaute, ehe sie ihren Weg durch die traumhafte Landschaft fortsetzten. Die Sonne wärmte ihre Gesichter und ein rosiger Schimmer überzog Jennifers blasse Wangen.
Nach etwa einer Stunde blieb Leon erneut stehen. Er tastete den Untergrund am Wegesrand ab und klopfte zufrieden auf einen Felsen. Schnell fegte er die Schneedecke hinunter, stellte seinen Rucksack ab und löste die Schnüre: 'Kommen Sie, es ist Brotzeit.'
Jennifer, die den Ausblick genossen hatte, drehte sich glücklich lächelnd um: 'Ich habe wirklich Hunger.'
Leon reichte ihr eine Schnitte, die dick mit Schinken belegt war. Belustigt beobachtete er seine Begleiterin, die genussvoll in die Stulle biss und langsam kaute. Sie hatte die Augen hinter der Brille geschlossen und streckte ihr Gesicht der Sonne entgegen. Leon setzte sich auf den Felsen: 'Nehmen Sie Platz, wir haben noch ein ganz schönes Stück Weg vor uns.'Jennifer gehorchte und hockte sich, gegen Leon gelehnt, auf die schneebedeckte Sitzgelegenheit.
Die Sonne strahlte in unvermindertem Glanz vom Himmel, als die beiden Wanderer das Blockhaus wieder erreichten. Leon wollte gerade die Haustür öffnen, als ihn ein Schneeball am Rücken traf. Langsam setzte er den Rucksack ab, drehte sich um und griff blitzschnell in den Schneehaufen neben dem Eingang. Kreischend lief Jennifer davon, bemüht selbst neue Schneegeschosse zu produzieren um Leon damit zu bombardieren. Ihre helle fröhliche Stimme mischte sich mit Leons warmem Bariton und spiegelte die Heiterkeit der Landschaft wider. Sie tollten wie Kinder im Schnee, bewarfen sich mit Kugeln oder traten gegen Schneeverwehungen. Irgendwann ließ sich Jennifer in den Schnee auf den Rücken fallen. Sie spreizte und schloss ihre Beine und beschrieb mit ihren Armen Halbkreise um ihren Körper.'Hilf mir mal auf!' Sie streckte Leon die Arme entgegen und ließ sich von ihm auf die Füße ziehen. Dann drehte sie sich um und betrachtete befriedigt ihren Engel. Leon legte sich neben die Stelle und fabrizierte ebenfalls einen Himmelsboten. Als er sich ein weiteres Mal auf den Rücken legen wollte, stürzte sich Jennifer mit einer Hand voll Schnee auf ihn und seifte ihn ein. Sie rollten sich auf der Erde und rangen miteinander, bis sie atemlos in den Schnee zurücksanken. Plötzlich lagen sie in einer engen Umarmung nebeneinander. Leon hob den Blick und seine strahlend blauen Augen bohrten sich in Jennifer braune. Die Zeit schien still zu stehen. Dann senkte er langsam seinen Mund auf Jennifers kühle Lippen, ohne den Blick von ihr zu nehmen und küsste sie zärtlich und lang.
Sie gingen Hand in Hand zurück zum Haus. Leon öffnete die Tür, stellte den Rucksack neben seine Schuhe und zog seinen Anorak aus. Jennifer schälte sich aus ihrem Skianzug und hängte die nassen Sachen über den Herd. Keiner von beiden sprach ein Wort. Langsam kam Jennifer zurück ins Wohnzimmer, wo Leon das Feuer geschürt und Holz nachgelegt hatte. Er stand auf und trat auf sie zu. Jennifer hob den Blick, ihre Lippen waren leicht geöffnet und er senkte den Kopf. Vorsichtig strich er mit seinem Mund über ihre Lippen und Wangen. Jennifer stand ganz still, fühlte der ungewohnt zärtlichen Berührung nach und genoss den Augenblick. Dann hob Leon seine Arme und streichelte sanft an ihren Armen auf und ab, während seine Lippen ihre suchten und ein behutsames Spiel mit ihnen begannen. Schließlich schlang Jennifer Halt suchend ihre Arme um seinen Hals. Seine Hände fuhren genüsslich ihre Seiten auf und ab, bis sie unter ihrer Brust verweilten. Stöhnend lehnte sich Jennifer an ihn und drängte sich gegen seinen Körper. Vorsichtig legte Leon Jennifer auf das Fell vor dem Kamin. Ihre alabasterfarbene Haut hob sich im Feuerschein von seinem gebräunten Körper ab. Er fuhr mit den Fingern die Linien ihres weichen Körpers nach und spürte ihr Herzklopfen. Sie war so zart und gleichzeitig so stark, dass es ihm fast den Atem nahm. Sie erforschten einander, gaben und nahmen in atemloser Spannung, bis sie eins wurden.
Leon wachte vor Sonnenaufgang auf. Der Platz neben ihm war leer und er war dankbar dafür. Jennifer und er waren zwei erwachsene Menschen, die die gemeinsame Zeit genießen wollten und es auch taten. Es sollten keine Versprechen oder Verpflichtungen zwischen Ihnen stehen, die ihnen Schwierigkeiten bereiten würden, sobald Jennifer abreisen konnte. Deshalb war es besser, wenn sie die Nächte getrennt schlafen würden, damit keine zu große Vertrautheit entstehen konnte. Genüsslich gähnend streckte er die Arme unter der Decke hervor, schaltete die kleine Nachttischlampe ein und guckte auf den Wecker. Mittlerweile zeigte er fast sechs Uhr an und Leon beschloss, aufzustehen, ein gutes Frühstück vorzubereiten und anschließend Holz hacken zu gehen. Während er in der Küche wirtschaftete, trat Jennifer hinter ihn und legte ihre Arme von hinten um seine Taille. Sie drückte ihr Gesicht an seinen Rücken und schnurrte wie eine Katze. Lächelnd wandte sich Leon ihr zu und gab ihr einen freundschaftlichen Kuss.
'Gut geschlafen?'
'Danke. So gut habe ich seit langem nicht mehr geschlafen. Und Du?'
'Ich habe auch wunderbar geruht. Was hast Du heute vor?' Leon drehte sich wieder um und gab Wasser in den Filter.
Jennifer schob sich die Haare aus dem Gesicht: 'Ich möchte gerne wieder raus gehen und vielleicht könnte ich ja noch ein wenig malen.'
'Prima Idee. Du findest hinten im Wohnzimmerschrank sämtliche Bände meiner Kinderbücher, falls Du Dich davon inspirieren lassen willst.'
Erstaunt starrte Jennifer Leon mit offenem Mund an. Er lächelte nur: 'Du kannst Deinen Mund wieder zumachen. Du bist der einzige Erwachsene, der meine Bücher richtig versteht, also wirst Du in den Fanclub aufgenommen und darfst auch alles lesen.'
Ein breites Grinsen zeigte sich auf Jennifers Gesicht: 'Danke. Das ist mir eine große Ehre!' Mit diesen Worten wirbelte sie herum und verschwand unter der Dusche.
Leon wunderte sich über sich selbst. Er hatte seit Jahren keinem Menschen mehr so viel Einblick in sein Leben gewährt wie dieser jungen Frau, der er das Leben gerettet hatte.Die Tage vergingen in entspannter Gleichförmigkeit ohne langweilig zu werden. Jennifer malte vormittags. Nachmittags nutzten sie das gute Wetter, um spazieren zu gehen. Leon zeigte ihr immer neue Gegenden mit wilden Tieren, die in der Bergwelt zu Hause waren. Sie staunte und konnte sich wie ein Kind freuen, sie hielt den Atem an, wenn ein Hase in der Nähe war und jauchzte hinterher, wenn sie wieder alleine waren, vor Freude auf. Wenn sie sich abends geliebt hatten, verschwand sie in ihr kuscheliges Zimmer, wo sie in Leons Büchern schmökerte oder mit offenen Augen träumte. Dann hörte sie auch das Klackern der Tastatur, wenn Leon an seinem Laptop saß und arbeitete. Sie hatten nie darüber gesprochen, aber es war wie eine Abmachung zwischen ihnen, dass sie niemals zusammen einschliefen. Jennifer fühlte sich deshalb manchmal ein wenig verlassen, aber sie ermahnte sich, sich nicht an Leon zu klammern, der ihr die schönste Zeit ihres Lebens bescherte. Wenn sie so dalag, spürte sie, dass sie wirklich glücklich war.
Es war Mitte März, als der Schnee soweit getaut war, dass ein Passieren der Straßen wieder möglich wurde. Jennifer wurde unruhig und Leon dachte, sie wolle nach Hause. Wenn es nach ihm ginge, dann konnte sie noch ein wenig bleiben, er genoss ihre Gesellschaft, wie er sich erstaunt eingestand. Er verstand aber auch ihren Wunsch in den Alltag zurückzukehren und ihr Leben wieder in die Hand zu nehmen. Er war froh, dass sie vernünftig war und keine falschen Ansprüche an ihn stellte, die er nicht erfüllen wollte und konnte.
Als er eines Morgens das Haus verließ, um die Straßen zu kontrollieren, wusste Jennifer bereits, dass der Abschied bevorstand. Sie legte sich ihren Skianzug zurecht und stellte die Stiefel ans wärmende Feuer. Dann ging sie in die Küche um zum letzten Mal für sie beide zu kochen. Am Tag zuvor hatte Leon einen Hasen geschossen, den sie nun vorbereitete. Sie schälte Kartoffeln und Karotten, würzte das Fleisch und briet es kräftig an. Dann setzte sie Kartoffeln und Gemüse auf, deckte den Tisch festlich mit Kerzen und schönen Gläsern, die sie im Wohnzimmerschrank entdeckt hatte und schürte das Feuer. Am Fenster neben ihrem Platz zeigten sich wunderschöne Eisblumen und Jennifer strich zärtlich über die Gebilde, die so verschiedenartig glitzerten und sie traurig werden ließen. Sie würde die Bergwelt - und Leon - vermissen. Schnell wandte sie sich um, schaute in der Küche nach dem Rechten und verschwand anschließend im Bad, um sich noch einmal ausgiebig zu pflegen. Sie wusch ihr Haar, cremte sich nach dem Duschen mit Leons Körperlotion ein und feilte ihre Nägel. Dann schlüpfte sie in eines von Leons Hemden und eine seiner Hosen, die sie wie immer mit einem Band festschnürte, und setzte sich mit einem seiner Bücher vor den Kamin, um auf seine Rückkehr zu warten.
Leon kam am frühen Abend zurück. Er war bis zur Straße gelaufen, dann wieder zurück und hatte die Zufahrt mit einem Schneeschieber von Hand freigeschaufelt. Seine Schultern schmerzten von der Anstrengung und seine Wangen brannten von der Kälte. Als er das Blockhaus betrat, genügte ein Blick auf Jennifer und die festlich gedeckte Tafel, um ihm zu zeigen, dass sie bereits mit ihrer Abreise rechnete. Ein Stich in seiner Herzgegend irritierte ihn und er beschäftigte sich schnell mit seinem Anorak und seinen schweren nassen Stiefeln.Sie hatte wunderbar gekocht und Leon hatte aus seinem eisernen Vorrat eine Flasche teuren Rotwein spendiert. Die rote Flüssigkeit leuchtete dunkel im Kerzenschein und Jennifers Augen hatten einen verräterischen Schimmer, den sie hinter ihren Haaren zu verstecken suchte.
In dieser Nacht schlief Leon bei Jennifer. Sie lag seitlich an ihn gekuschelt in seiner Armbeuge. Als er erwachte, lag sie noch genauso. Ihre Beine hatten seine umschlungen und ihren Arm hatte sie über seine Taille gelegte. Ihre Lippe war an seine Brust gedrückt, so dass ihr Atem gleichmäßig über Leons Haut strich. Er streichelte sanft ihren Arm und sog den Duft ihrer Haut und ihrer Haare tief ein. Es fühlte sich so gut und richtig an, wie sie da bei ihm lag. Aber dennoch war die Sache zu Ende. Jennifer würde sich ihr Leben wieder aufbauen und er musste sich aufs Schreiben konzentrieren.
Das Frühstück verlief schweigend. Jennifer starrte in ihren Kaffeebecher und versuchte die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. Leon kaute lustlos sein Brot und warf einen Blick auf ein altes Stück Zeitung, das er unter der Eckbank gefunden hatte.
Schließlich war es Zeit für die Abfahrt.
'Du musst Deine Bilder noch mitnehmen.' Leon griff nach den Zeichnungen von Jennifer.Sie schüttelte den Kopf: 'Nein, ich schenke sie Dir.'
'Du könntest sie veröffentlichen. Wenn Du willst, dann schlage ich es meinem Verlag vor.''Das ist sehr lieb von Dir. Ich möchte sie Dir aber schenken - als Dank und Erinnerung an eine denkwürdige Zeit. Du kannst mit ihnen machen, was Du willst.' Ein schiefes Lächeln huschte über Jennifers Gesicht, ehe sie sich schnell umdrehte und die Tür öffnete.
Ein heftiger Schmerz durchzuckte Leons Brust, als er auf Jennifer Rücken starrte. Ehe er es selbst wahrnahm, rief er ihren Namen und Jennifer drehte sich langsam zu ihm um. Sie blickte ihn mit ängstlich hoffenden Augen und starkem Herzpochen an. Er durfte sie nicht gehen lassen! Leon öffnete seine Arme und Jennifer stürzte sich mit einem Laut zwischen Schluchzen und Jauchzen hinein.
Tausende kleine Eissterne glitzerten im Sonnenschein, als Leon und Jennifer Hand in Hand vor die Hütte traten und der Anblick der weißen Einsamkeit sie gefangen nahm.







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