Gefangen im Schnee Teil 1

Autor: sternchen_Hannah
veröffentlicht am: 11.07.2007




Im Westen braute sich ein Unwetter zusammen, während sich im Osten der Himmel strahlend blau über den schneebedeckten Bergen wölbte. Die Luft war eisig und es roch nach Schnee. Leon hielt inne, sog genussvoll die kalte klare Luft ein und ließ seinen Blick über den vertrauten Anblick schweifen. In der Ferne funkelte das Eis des Gletschers, der von der Sonne angestrahlt wurde. Es war unglaublich still - fast todesstill. Der Schrei eines Adlers durchbrach die Stille und riss Leon aus seinem Anblick. Er setzte seinen Rucksack ab, schnürte ihn auf und entnahm ihm eine Thermoskanne mit Tee. Er richtete sich auf, schraubte den Deckel der Flasche ab und schenkte sich in einen Thermobecher die dampfende Flüssigkeit. Leon liebte die Einsamkeit der Bergwelt, die er freiwillig gewählt hatte. Die Freiheit, die ihn umgab, ließ ihn selbst freier werden.
Er setzte den Becher an seine Lippen und hielt in seiner Bewegung inne - er glaubte unterhalb des Gletschers eine Gestalt auszumachen. Konzentriert kniff er die Augen zusammen, um besser sehen zu können, aber die Entfernung war zu groß, um zu erkennen, ob es sich um einen Menschen oder ein Tier handelte. Leon ließ die Gestalt nicht aus den Augen, während er den Becher in den Schnee stellte und sein Fernglas aus dem Rucksack holte. Im Okular seines Feldstechers konnte er nun deutlich einen Menschen erkennen, der Figur und Größe nach eine Frau. Leon suchte die Umgebung der Person ab, sich fragend, ob noch andere Wanderer in der Nähe waren. Aber die Frau schien allein zu sein. Das war reiner Selbstmord. Bei den derzeitigen Wetterverhältnissen war es unverantwortlich ohne Begleitung in die Berge zu gehen!
Die Frau kam in seine Richtung, ihren Bewegungen nach zu urteilen war sie erschöpft. Sie lief leicht nach vorn gebeugt, den Kopf gesenkt und die Hände tief in den Taschen ihres Anoraks verborgen. Leon verfolgte sie durch das Glas. Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, seit er die Gestalt entdeckt hatte, aber ein Frösteln erinnerte ihn daran, dass er sich wieder bewegen musste und ein Blick zum Himmel drängte ihn zur Eile, um noch vor dem drohenden Schneesturm seine Hütte zu erreichen. Dann vernahm er das Donnern, zunächst war es nur ein unbeschreibbares Rauschen und Knistern, ehe es zu einem ohrenbetäubenden Lärm anschwoll. Leon blickte in die Richtung, aus der das Geräusch kam und - erstarrte. Oberhalb der Frau löste sich eine Schneelawine, die mit rasender Geschwindigkeit an Stärke und Gewalt gewann, ehe sie über der Frau abstürzte und sie mitriss. Leon beobachtete die Schneemasse und verfolgte, wie weit sie talwärts walzte. Dann begann er zu rennen. Er wusste selbst nicht warum, aber er lief auf die Ausläufer der Lawine zu ohne sie aus den Augen zu lassen. Seine Lungen brannten, aber er rannte mit unverminderter Geschwindigkeit - so schnell der eisige Untergrund es erlaubte - vorwärts.Jennifer stapfte durch den pulvrigen Schnee, der knirschend unter ihren Füßen nachgab. Die Hände tief in die Taschen vergraben, die Mütze ins Gesicht gezogen und den Schal um den Hals gewickelt, lief sie immer weiter und weiter. Es war ihr egal, wo sie hingelangte, am liebsten wäre sie sowieso tot. Ihr Leben hatte allen Sinn verloren - vor ein paar Tagen. Oder waren es Jahre? Sie hatte ihr Auto gepackt, sich einen sündhaft teuren Skianzug geleistet mit passenden Stiefeln dazu, und war Richtung Süden gefahren, bis sie schließlich in den Alpen gelandet war. Hier war die Luft klar, der Blick weit und sie endlich allein. Ihr Leben hatte sie hinter sich gelassen. Sie nahm nichts wahr von ihrer unmittelbaren Umgebung, außer den Geräuschen ihres Atems und ihrer Schritte. Ihre Gedanken kreisten immer wieder um die gleiche Sache - ihre Vergangenheit. Aber die war passé und Jennifer war innerlich abgestorben. Das plötzliche Rauschen über ihr riss sie aus ihren Gedanken. Ein ohrenbetäubender Lärm umgab sie und die Erde begann zu beben. Wenn sie jetzt sterben würde, dann wäre alles vorbei - und bei dem Gedanken wurde sie unter einer Schneemasse begraben und mit in die Tiefe gerissen.
Als sie wieder zu sich kam, war es stockdunkel um sie herum. Sie konnte sich nicht bewegen - ihre Arme und Beine schienen eingeklemmt zu sein und in ihrem Mund war Schnee. Dann kam die Erkenntnis: Sie war von einer Lawine erfasst worden! Plötzlich wollte Jennifer doch leben, sie wollte nicht inmitten von Schneemassen einsam sterben. Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie überlegte fieberhaft, was sie über Lawinenopfer wusste. Wie sollte sie sich verhalten? Sie atmete zunächst flach und langsam, um den Sauerstoffgehalt in ihrem winzigen Hohlraum möglichst lange zu erhalten. Die Wärme ihres Atems schmolz langsam aber sicher den Schnee vor ihrem Mund weg und der Raum wurde stetig größer. Glücklicherweise hatte sie die Arme vor ihrem Gesicht angewinkelt, so dass ein kleiner Raum zwischen ihrem Gesicht und ihren Armen entstanden war. In welche Richtung musste sie? Da fiel ihr ein, dass sie Spucke sammeln, sie zwischen den Lippen ausscheiden und fühlen musste, in welche Richtung der Speichel lief. Das Rinnsal lief ihr über die Wange in Richtung Ohr, sie lag folglich auf dem Rücken. Jennifer versuchte die aufsteigende Panik zu unterdrücken, sie lenkte ihre Gedanken praktischen Dingen zu: langsam bewegte sie ihre Finger, jeden einzeln. Dann probierte sie, eine ganze Hand zu öffnen und zu schließen. Als sie es endlich geschafft hatte, war sie völlig erschöpft und konzentrierte sich auf ihren Atem. Die Last auf ihrer Brust schien sie zu erdrücken, und doch konnte sie weiter Luft holen. Allmählich kroch die Kälte in ihre Glieder. Jennifer versuchte ihre Beine zu bewegen, doch der Schnee hielt sie in seinen eisigen Klauen. Sie wollte nicht erfrieren, sie durfte unter keinen Umständen einschlafen! Sie begann im Geiste Gedichte aufzusagen, während sie immer wieder ihre Hände bewegte und versuchte ihre Füße anzuwinkeln. Irgendwann spürte sie, dass heiße Tränen über ihre Wangen rollten und ein Schluchzer entrang sich ihrer Kehle. Sie zwang sich Kopfrechenaufgaben zu lösen, das Alphabet rückwärts aufzusagen, Hauptstädte zu den einzelnen Ländern der Erde zu bestimmen und an die Wünsche, die in ihr aufstiegen, fest zu glauben.
Leon erreichte den Schneehaufen, den er die ganze Zeit angepeilt hatte. Er ließ seinen Rucksack fallen, sank auf die Knie und begann mit bloßen Händen den Schnee abzutragen. Er wusste nicht, welche Macht ihn trieb, gerade an dieser Stelle zu suchen - oder überhaupt zu suchen. Es war Irrsinn! Wenn jemand so leichtsinnig war, wie diese Person, und allein in die Berge marschierte, dann hatte er es nicht anders verdient als verschüttet zu werden. Aber Leon konnte einen Menschen nicht seinem grausigen Schicksal überlassen, er musste helfen. Der Schweiß rann ihm übers Gesicht, sein Hemd unter der dicken Daunenjacke war nass, aber er konnte den Anorak nicht ausziehen. Die Gefahr einer Lungenentzündung war zu groß. Schließlich musste er einen Moment ausruhen. Er griff nach seiner Thermoskanne und trank in kleinen Schlucken von seinem Ingwertee. Der scharfe Geschmack belebte seine Sinne und er schob eine Strähne, die ihm ins Gesicht gefallen war, unter die Mütze. Er suchte den Schnee nach Bewegungen ab, aber nirgends war die kleinste Regung zu sehen. Hoffentlich kam er nicht zu spät. Zu allem Übel setzte auch noch Schneefall ein. Kleine sanfte Flocken legten sich auf sein Gesicht und seinen Körper, er aber kämpfte sich fieberhaft durch den Schnee, schob und grub in den Massen, vergrößerte das Feld seiner Tätigkeit und betete inbrünstig um Erfolg.
Jennifer glaubte ein Scharren zu hören. Sie wollte sich bemerkbar machen, aber sie brachte keinen Laut raus. Ihre Beine gehorchten ihr nicht mehr, sie konnte sie nicht mehr spüren, geschweige denn bewegen. Einzig ihre Hände, die eiskalt, aber noch fühlbar waren, machten ununterbrochen kleine Bewegungen. Immer wieder kamen ihr die Tränen und sie schmeckte das Salz auf ihrer Zunge. Der Raum um ihren Mund war größer geschmolzen und sie konnte sogar die Arme leicht verlagern. Vielleicht gelang es ihr so, Schnee oberhalb von sich wegzuscharren und somit den Raum nach oben hin zu vergrößern. Dann hörte sie wieder Geräusche. Sie schienen sich entfernt zu haben und sie begann verzweifelt mit den Händen zu rudern, soweit ihr Gefängnis es zuließ. Sie hoffte, dass jemand die Geräusche, die sie verursachte, hören konnte. Doch dann ließen ihre Kräfte nach und sie wurde bewusstlos.Der Schneefall wurde stärker und Leon guckte verstimmt zum Himmel: 'Musst du es jetzt so schneien lassen?' Er brummte unwirsch vor sich hin ohne seine Arbeit zu unterbrechen. Irgendetwas trieb ihn unweigerlich an. Dann glaubte er einen Schluchzer gehört zu haben. Er hielt inne und lauschte angestrengt in die Stille. Nur das Rauschen des Windes drang an sein Ohr, sonst war es totenstill. Leon schüttelte den Kopf und suchte weiter. Er spürte seine Hände kaum mehr, denn seine ledernen Handschuhe waren durchnässt und ließen Kälte eindringen. Dann hörte er wieder einen Laut. Leon beugte sich vor, schob seine Mütze hinter die Ohren und konzentrierte sich auf die Richtung, aus der er das Geräusch vernommen hatte. Sollte seine Mission glücken? Das Gefühl, kurz vor dem Ziel zu sein, verlieh ihm noch einmal ungeahnte Kräfte und er schaufelte Schnee hinter sich und starrte gebannt vor sich. Nach zwei Stunden - oder auch etwas mehr - schimmerte etwas Orangefarbenes durch den Schnee. Leon strich die weiße Masse zur Seite und entdeckte ein Bein. Blitzschnell schätzte er die Entfernung zwischen Bein und Kopf einer liegenden Person ab und begann weiter links zu graben. Der Stellung der Füße nach musste der Mensch auf dem Rücken liegen. Er klopfte der Person zwischendurch beruhigend auf den Unterschenkel und rief ihr tröstende Worte zu, aber Jennifer spürte seine Berührung nicht und seine Stimme konnte sie in ihrer Bewusstlosigkeit nicht erreichen.
Endlich fand er ihr Gesicht. Sie hatte die Augen fest geschlossen und ihr Mund war leicht geöffnet. Leon beugte sich vor und versuchte ihren Atem zu spüren. Zu seiner grenzenlosen Erleichterung streifte ihn ein warmer Hauch und er schlug der Frau leicht auf die Wange. Sie öffnete kurz die Augen, ehe sie wieder bewusstlos wurde. Vorsichtig grub Leon weiter, bis er die Glieder frei hatte und sie behutsam aus ihrem Schneebett heben konnte. Er legte sie noch einmal ab, kontrollierte, ob sie eventuell irgendwelche Brüche oder andere Verletzungen hatte und setzte seinen Rucksack auf. Dann hob er die schmale Gestalt auf seine Arme und machte sich auf den beschwerlichen Heimweg. Der Schneefall wurde stärker und der Boden war glatt und uneben. Keuchend legte er den Weg zu seiner Hütte zurück, der Wind peitschte ihm unerbittlich den Schnee ins Gesicht und seine Arme drohten unter der Last schlapp zu machen. Leon biss die Zähne zusammen und kämpfte sich durch die Naturgewalten, bis er schließlich völlig erschöpft die heimatliche Tür erreichte.
Vorsichtig legte er Jennifer auf das Fell vor seinem Kamin, legte Holz nach und lief mit zwei Eimern nach draußen. Als er die Hütte wieder betrat, schälte er sich aus seiner Jacke und seinen Stiefeln, hockte sich neben die bewusstlose Frau und zog ihr die völlig durchnässten Kleider vom Leib. Ihre Glieder waren blau verfärbt und er begann sie mit Schnee, den er in den Eimern geholt hatte, abzureiben. Der Schweiß tropfte ihm vom Gesicht vor Anstrengung aber endlich wurde ihre Haut wieder rot, die Arme und Beine schienen zu glühen und die Frau fühlte sich auch nicht mehr so kalt an. Behutsam nahm er sie auf seine Arme, legte sie in sein Bett, wickelte ihren nackten Körper in Wolldecken und deckte sie zusätzlich mit seinem Federbett zu. Dann ging er in die Küche, kochte Tee und Gemüsebrühe, ehe er sich selbst entkleidete und trockene warme Kleidung überzog. Er hing die nassen Sachen über den Herd auf die dafür vorgesehene Stange und rührte zwischendurch im Suppentopf. Als Leon ein Stöhnen hörte, ging er schnell in sein Schlafzimmer und setzte sich zu Jennifer auf die Bettkante. Er strich ihr das feuchte braune Haar aus der Stirn und betrachtete sie eingehend. Sie hatte ein schmales Gesicht mit einer kleinen Stupsnase und einem sinnlichen Mund. Ihre Haut wirkte blass und durchscheinend, doch ihre Wangen begannen zu glühen und kündigten Fieber an. Leon holte eine Schüssel mit Wasser, Handtücher und einen Becher mit Brühe. Anschließend hockte er sich wieder zu Jennifer, legte ihr die feuchten Tücher auf die Stirn und kühlte ihr Gesicht. Als sie kurz die Augen öffnete, setzte er ihr den Becher mit Suppe an die Lippen und flößte ihr einen kleinen Schluck Flüssigkeit ein, dann sank Jennifer wieder zurück in die Kissen und in ihren Dämmerzustand. Das Fieber stieg. Leon machte die ganze Nacht Wadenwickel und wechselte immer wieder die Laken und Decken. Unermüdlich kühlte er das glühende Frauengesicht und heizte die Hütte, damit der Schüttelfrost nachließ. Sie warf sich hin und her, schrie im Fieber auf und schluchzte tief in ihrer ausgedörrten Kehle. Leon streichelte ihr über die Stirn und sprach beruhigend auf sie ein. Während er um das Leben der jungen Frau kämpfte, herrschte draußen ein heftiger Schneesturm. Der Wind peitschte die kalte Masse an die Fenster, die Fensterläden, die Leon nicht mehr hatte schließen können, wurden aus den Angeln gerissen und flogen durch die Luft in die Schneewüste. Es heulte und knirschte, das Donnern einer Lawine war in der Ferne zu hören und wurde nur durch das Knistern des Kaminfeuers unterbrochen.
Gegen Morgen schien die Krise überwunden. Das Fieber sank leicht und Jennifer wurde ruhiger. Sie fiel in einen tiefen Schlaf. Erschöpft fuhr sich Leon durch die Haare und setzte sich in den Sessel neben dem Bett. Dort übermannte ihn die Müdigkeit und er nickte augenblicklich ein.
Er wachte mit steifem Nacken auf. Erstaunt stellte er fest, dass er in seinem Sessel saß, dann fiel sein Blick auf die Frau in seinem Bett und er erinnerte sich an die vorherige Nacht. Leise erhob er sich und beugte sich zu der Patientin herunter. Sie hatte immer noch Fieber, aber sie schlief ruhig und fest. Leon schlich in seine Küche und kochte sich einen starken Kaffee. Anschließend duschte er heiß und schlüpfte in warme frische Kleidung. Er musste in den Schuppen, um Holz zu holen, es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich durch die Schneemassen vor seiner Haustür zu kämpfen und den Schuppen frei zu schaufeln. Er braucht eine geschlagene Stunde ehe er das Tor des Schuppens öffnen konnte. Schwitzend trug er mehrere Körbe Holz ins Haus und inspizierte anschließend die Sturmschäden. Ein Teil der Fensterläden war abgerissen und die übrigen hingen lose in den Angeln. Später musste er die Läden befestigen und schließen, denn der Himmel versprach noch mehr Schnee. Doch zunächst musste er nach der jungen Frau sehen. Leon hoffte, dass das Fieber nicht wieder anstieg.
Als er sein Schlafzimmer betrat, schaute sie ihn mit glasigen Augen an.
'Guten Tag, können Sie mich hören?' Leon beugte sich zu ihr.
Sie wollte etwas sagen, doch sie brachte keinen Laut aus ihrer Kehle. Leon hob ihren Kopf an und setzte ihr den Becher mit kaltem Tee an die Lippen. Mit gierigen Schlücken trank die Frau und ließ sich anschließend erschöpft zurückfallen.
'Geht es Ihnen besser?' versuchte es Leon noch einmal.
Aber sie starrte ihn nur aus verschleierten braunen Augen an. Leon drückte ihr sanft die Hand und verließ das Zimmer, um sich um die nötigen Reparaturen zu kümmern.
Vier Tage und fünf Nächte hielt das Fieber an. Jennifer bekam von ihrer Umgebung nichts mit. Ihr Hals brannte und ein trockener fester Husten explodierte in ihrer Brust. Leon stützte sie und hielt ihren Kopf, wenn wieder ein Hustenanfall sie schüttelte. Ihre Augen lagen tief in ihren Höhlen und ihre Wangen waren eingefallen. Wenn sie schlief, warf sie sich häufig hin und her und weinte. Unermüdlich versorgte er die Frau und betrachtete besorgt die höher werdenden Schneewände. Sie waren von der Außenwelt abgeschnitten. Das Telefon war tot, die Wege unpassierbar und die Natur schien immer noch nicht müde zu werden, ihre wütende Macht zu demonstrieren.
Es war still. War sie tot? Sie lauschte. Hörte sich so Totenstille an? Sie fühlte ihren Körper. War er wirklich - oder nur eine Erinnerung?
Jennifer zwang sich dazu, die Augen zu öffnen. Sie lag - in einem fremden Bett. Eine dicke Federdecke bedeckt ihren Körper und neben dem Bett spendete eine kleine Lampe sanftes Licht. Sie drehte den Kopf - und erstarrte. In einem Sessel saß ein fremder Mann! Ihr Herz begann zu rasen und Panik drohte sie zu überwältigen. Sie schloss die Augen und bemühte sich ruhig zu atmen, aber ein heftiger Hustenreiz sprengte ihre Brust und sie schnappte krampfhaft nach Luft. Warme Hände hielten sie fest und stützten ihren schmerzenden Körper. Dann wurde sie wieder sanft in die Kissen gedrückt und tiefe blaue Augen blickten sie forschend an.
'Guten Morgen. Wie geht es Ihnen?', fragte der Mann mit sonorer Stimme.
'Wo bin ich?' Jennifer blickte voller Panik in das Gesicht über ihr.
'Sie sind in Sicherheit. Wie heißen Sie?'
'Jennifer. - Jennifer May.'
'Gut, Jennifer. Ich bin Leon.'
'Wie komme ich hier her?'
'Sie sind von einer Lawine überrollt worden. Aber Sie haben Glück gehabt.' Er lächelte nicht, sondern sah ihr ernst in die Augen.
In dem Augenblick fiel ihr alles wieder ein. Sie hatte unterhalb der Berges gestanden, als ein Riesengetöse sie in ihren Gedanken gestört hatte. Sie hatte sterben wollen. Aber dann in dem Schneegrab hatte sie um ihr Leben gekämpft. Leon hatte sie allem Anschein nach gerettet.'Ich habe Ihnen mein Leben zu verdanken.' Es war keine Frage, sondern vielmehr eine Feststellung, wie Leon überrascht wahrnahm.
'Ich habe versucht, Sie auszugraben - was mir auch gelungen ist. Danach waren Sie ziemlich krank - und Sie werden auch ...'- ein heftiger Hustenanfall erschütterte Jennifer und Leon nahm sie wieder in den Arm und hielt ihren Kopf und ihren Bauch. 'Sie werden auch noch einige Tage das Bett hüten müssen. Leider können wir niemanden benachrichtigen, dass sie leben und in Sicherheit sind.' Er verzog den Mund zu einem grimmigen Lächeln.'Ich brauche niemanden zu verständigen.' Ihr Tonfall und ihre verschlossene Miene machten Leon neugierig. Er forschte in ihren Zügen, aber ihre Augen verrieten nichts.
Achselzuckend drehte er sich um: 'Ich mache uns jetzt erst einmal etwas zu essen.' Damit verschwand er in der Küche und Jennifer lauschte auf die fremden Geräusche. Leon klapperte mit Töpfen und Besteck, während draußen ein starker Wind herrschte und an den Fensterläden zerrte. Fröstelnd zog Jennifer die Decke höher und kuschelte sich in das warme weiche Bett.
Sie beobachtete ihn, wie er Holz nachlegte. Nach weiteren fünf langen Tagen im Bett konnte sie heute zum ersten Mal vor dem Kamin sitzen. Der Husten klang allmählich ab und das Fieber war verschwunden. Sie trug einen dicken wollnen Pullover und eine alte Jogginghose von Leon. Die Wangen waren hohl und unter den Augen hatten sich dunkle Ringe gebildet. Jennifer hatte sich im Bad ausgiebig betrachtet, nachdem sie das erste Mal seit zehn Tagen geduscht hatte. Das heiße Wasser war über ihren Körper geprasselt und hatte sie zugleich belebt und ermüdet. Anschließend wurde sie in eine dicke Wolldecke gewickelt und vor den Kamin verfrachtet. Nun verfolgte sie Leons Bewegungen. Er hatte die Ärmel seines Flanellhemdes hoch gewickelt. Braune, muskulöse Arme kamen dabei zum Vorschein, die in schlanke, starke Hände mündeten. Seine breiten Schultern strahlten Sicherheit aus und in sein langes blondes Haar hätte Jennifer zu gerne mal hineingegriffen. Aber Leon war unnahbar. Er schenkte ihr seine Aufmerksamkeit, wenn sie husten musste oder sonst etwas brauchte, aber ansonsten war er zurückhaltend, fast schon unhöflich. Auch jetzt hockte er schweigend vor dem Feuer und schürte mit dem Haken in der Glut.
Plötzlich drehte er sich um. Seine unglaublich blauen Augen starrten sie wütend an: 'Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht, allein bei dem Wetter in die Berge zu wandern?'Jennifer musste erst einmal zwinkern, weil sein Angriff sie so überraschend traf.
'Ich, - ich wollte allein sein.' Sie schob trotzig ihr Kinn vor.
'Allein? - Und dafür geht man einfach so in die Berge!' Er trat jetzt ganz dicht vor sie. 'Ist Ihnen klar, dass Sie nicht nur sich, sondern auch andere damit in Gefahr gebracht haben?''Jetzt ist mir das klar. Aber das war nicht in meiner Absicht. Ich wollte sterben', fügte sie leise hinzu.
'Was?'
'Ich sah keinen Sinn mehr in meinem Leben.'
Der traurige Schimmer in ihren Augen ließ seine Wut verrauchen und Leon hockte sich vor ihren Sessel.
'Warum?'
'Weil mein gesamtes Leben mit einem Schlag ausgelöscht wurde.' Ihr Kinn begann zu zittern und eine dicke Träne löste sich aus ihrem Auge.
Leon fing die Träne mit seinem Daumen auf. 'So schlimm?'
'Mhm.'
'Wollen Sie es mir erzählen?' Seine unergründlichen Augen bohrten sich in ihren Blick.'Ich habe die beiden erwischt.'
Jennifer wischte sich unwirsch die Tränen mit einem Ärmel von den Wangen. Leon ließ sich auf das Fell vor dem Kamin nieder und blickte sie einfach wartend an. Bilder aus der Vergangenheit stiegen in Jennifer wie ein alter Film auf. Sie sah sich mit Roland an der Elbe spazieren gehen. Händchen haltend hatten sie Zukunftspläne gemacht. 'Ich war verlobt mit dem Geschäftsführer des Unternehmens. Mir gehörten zu der Zeit fünfzig Prozent der Firma und der Geschäftsführer verfügte über zwanzig Prozent. Der Rest gehört - auch heute noch - einer Aktiengesellschaft. Ich bin Unternehmensberaterin.' Sie starrte eine Zeit lang schweigend in die Flammen. Sie war auf Geschäftsreise gewesen und freute sich, dass sie früher als erwartet heimfahren konnte. In einer Woche würden sie heiraten und sie würden gemeinsam ein Leben aufbauen, geprägt von Geborgenheit und geschäftlichem Erfolg. So hatten sie es sich immer vorgestellt. An diesem Tag schloss Jennifer die Wohnungstür auf und roch bereits das fremde Parfum. Leise schob sie die Tür auf und schlüpfte durch den Spalt - wie ein Eindringling - dabei war es ihre Wohnung! Sie schlich auf Zehenspitzen - wie magisch angezogen - zum Schlafzimmer. Die Tür stand einen Spalt weit offen und sie hörte Rolands Stimme: 'Liebling, in einer Woche werde ich zwar heiraten, aber das ist die Basis für unsere Zukunft! Jennifer wird mir ihre Anteile der Firma übertragen, weil sie sich mit Sicherheit aus dem Geschäft zurückziehen wird. - Sie will Kinder.' Ein weibliches Kichern folgte. 'Dann gehören mir siebzig Prozent und ich habe die uneingeschränkte Macht im Unternehmen. Ich werde es leiten und Du wirst meine persönliche Assistentin.' Ein Schnurren und das Geräusch eines tiefen Kusses waren zu hören. Die Frauenstimme hauchte: 'Wir werden häufig auf Geschäftsreise gehen müssen.' 'Da hast Du Recht.'
Jennifer fuhr sich über die Augen und blickte zu Leon: 'Dann habe ich leise den Rückzug angetreten, vom Handy aus die Hochzeit beim Standesamt und beim Pfarrer abgesagt - die dreihundert geladenen Gäste habe ich Roland überlassen - habe mich in den Wagen gesetzt und bin einfach losgefahren. Erst bei der kleinen Pension ‚Sonne' unten im Ort habe ich angehalten und nach einem Zimmer gefragt.'
'Dann haben Sie sich einen Skianzug und Stiefel besorgt, um Ihrem Leben ein Ende zu bereiten?' Seine Stimme klang befremdet und vorwurfsvoll.
'Ich sah keinen Ausweg mehr. Zunächst wollte ich nur allein sein.' Ein entschuldigendes Lächeln spielte um ihren Mund. 'Dann - als die Gedanken nicht mehr aufhörten, wollte ich nicht mehr leben. Ich hörte das Donnern der Lawine und stand wie gelähmt einfach da und wartete. Als ich schließlich in der Lawine zu mir kam, kämpfte ich um mein Leben.' Sie verschränkte ihre Hände ineinander und blickte unter sich. 'Ich danke Ihnen.' Schüchtern hob sie den Blick und lächelte Leon zaghaft an.
Leon erhob sich ruckartig: 'Ich mach uns jetzt Mittagessen und anschließend werden Sie oben im Gästezimmer ausruhen.'
Leon führte sie die schmale Holzstiege in die obere Etage. Jennifer stellte fest, dass die Hütte eher ein Blockhaus war. Im Erdgeschoss befand sich das geräumige Wohnzimmer, eine praktische Küche, ein kleines Bad und Leons Schlafzimmer. Hier oben gingen verschiedene Türen von dem engen Flur ab. Vor der letzten blieb Leon stehen und öffnete sie: 'Hier ist Ihr Zimmer.'
Jennifer trat ein und staunte. Ein Himmelbett stand an einer Wand des Raumes, der im Stil der alten Siedler eingerichtet war. Um die kleinen Fenster hingen geblümte Gardinen und bei besserem Wetter musste man eine unglaublich schöne Aussicht über die Bergwelt von hier aus haben. Sie drehte sich um: 'Danke. Es ist wunderschön.'
Leon nickte nur und zog die Tür hinter sich leise ins Schloss.
Jennifer ging erst einmal auf Erkundungstour. Gegenüber dem Bett war eine schmale Tür in die Wand eingelassen. Sie stieß sie auf und stand in einem klitzekleinen Bad, von dem eine Tür wieder auf den Flur führte. Sogar eine Dusche war dort und Leon hatte weiche Handtücher auf das Waschbecken gelegt. Ein Blick aus dem Fenster zeigte ihr, dass noch keine Wetterbesserung in Sicht war und sie fragte sich, wie lange sie Leons Gastfreundschaft noch strapazieren musste. Schließlich legte sie sich in die warmen Decken des Bettes und schlief auf der Stelle ein....

Wenn ihr eine Fortsetzung wollt, dann sagt bescheid, die is nämlich schon da







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