Die fehlende Hälfte (aus Lisas Sicht) Teil 1

Autor: Zainab
veröffentlicht am: 17.06.2007




Seit einer halben Stunde saß ich auf diesem Stuhl, den ich seit fünf Jahren einmal pro Jahr besetzt hatte. An diesem Tag fühlte ich die Last meiner Sorgen auf meinem Herzen. Ein Kloß voll Tränen, den ich seit Tagen unterdrückte, steckte in meinem Hals. Manchmal kam es mir wie ein Traum vor und jeden Tag, wenn ich zu Bett ging hoffte ich, dass ich endlich entgültig erwachen würde. Diesen Alptraum immer wieder zu erleben, war zu schwer für meine zarte Seele. An verschiedenen Tageszeiten hatte ich das Gefühl, nicht mehr stehen zu können. Mein Körper zerbrach innerlich und ich wusste, dass ich bald völlig zusammenbrechen würde.Wieder blickte ich auf den leeren Stuhl gegenüber und starrte sehnsüchtig auf meine Uhr, in der Hoffnung, er würde doch noch auftauchen. Seit fünf Jahren feierten wir hier unseren Jahrestag und nie fehlte er. Wenn wir Zuhause auf dem Bett lagen, ich in seinen Armen, beteuerte er mir immer wieder, wie sehr er mich liebe. Niemals würde er mich alleine lassen, versprach er.
Doch, wo war er jetzt? Wieso saß er mir nicht gegenüber und stoß mit einem Glas Sekt auf unser neues Jubiläum an? Kevin war immer pünktlich, der pünktlichste, den es auf der Welt gab. Zu jeder Zeit konnte ich mich an ihn wenden, denn für ihn waren Zuverlässigkeit und Vertrauen keine Fremdwörter. Suchte ich Halt, fand ich diese an seiner Schulter. Warum hatte er mich verlassen? Er hatte es jeden Tag immer wieder geschworen.
Wir saßen an einem abgelegenen Strand - Arm in Arm. Seine Finger spielten mit meinen Haaren und seine Lippen berührten sanft meine Wange. Vor zwei Monaten lernten wir uns kennen und vor einer Woche lieben. Rein platonisch verlief unsere Beziehung, als wir an einem Ufer entlangliefen. Ein Radfahrer hinter uns klingelte so plötzlich, dass ich mich erschrak, stolperte, abrutschte und mir beim Fallen ins Wasser am Stein den Knöchel brach. Kevin sprang mir nach und holte mich aus dem Wasser. Am Ufer sah er sich mein Bein an, nahm mich auf seine Arme und trug mich zum nächsten Arzt. Dabei funkte es und ich wollte nie mehr von ihm getrennt sein.
Als es spät wurde, hob er mich auch hier wieder hoch (da ich noch immer ein Gips trug) und blickte mir in die Augen. 'Lisa, du bist wunderschön. Ich habe einen Menschen noch nie so geliebt wie dich.' Er küsste mich zärtlich. Als er mich fort trug, wusste ich, dass mich die Arme eines Engels Heim trugen.
Ich stand von meinem Platz auf, bezahlte an der Bar, nahm meine Jacke und lief ziellos die Straße entlang. Meine Gedanken streiften immer wieder nur um Kevin; dass er mich allein ließ, obwohl er immer für mich da sein wollte; dass ich nicht mehr leben wollte, weil er nicht meine Hand hielt und mich küsste.
Mir wurde schlecht; mein Magen rebellierte, weil ich seit Tagen nichts mehr gegessen hatte und mein Kopf schmerzte, weil ich so viel nachdachte. Ein Wind wehte durch mein Haar und ich begann zu frieren. Mit beiden Händen zog ich meine Jacke fester und versuchte meine Augen offen zu halten. Seit ein paar Tagen kontrollierte ich mich so sehr dabei, nicht zu weinen, weil ich dachte, dass ich Kevin dann für immer verlieren würde.
Ich lief immer weiter, bis ich außerhalb der Stadt einen Landweg entlang lief. Die Bäume schwangen langsam hin und her, was fast unheimlich aussah, wenn der Mond dahinter schien. Schwarze Wolken versteckten ihn manchmal hinter sich und der Wald wurde für diese Sekunden in Nichts verwandelt.
Ich kam an einem Zaun an und blieb stehen. Für wenige Augenblicke glaubte ich, den Atemzug eines anderen Menschen an meinem Hals zu spüren und schloss die Augen. Der Kloß in meinem Hals wurde immer dicker und stärker. Bald würde ich ihn nicht mehr zurückhalten können. 'Oh bitte, lass mich nicht weinen.' Plötzlich eine sanfte Berührung auf meinen Lippen. Schnell schlug ich die Augen auf und berührte meine Lippen, doch da war niemand. Diese Lippen waren so sanft und schmeckten süß, wie bei Kevin. Das konnte doch nicht sein. Schon spürte ich Feuchtigkeit an meinen Augenwinkel und wusste, es war bald soweit. Meine Füße führten mich ein Stück weiter, bis zu einem Stein - einem Grabstein. Ich spielte mit meinem Ehering und schluckte fest. 'Nicht weinen!', sagte ich mir selbst. Schließlich spürte ich wärme, als würde jemand mich umarmen. Der Wind sagte mir, dass ich weinen solle, um den Schmerz los zu werden. Meine Augen wurden glasig und meine Hände zitterten. Und da konnte ich einfach nicht mehr. Augenblicklich fiel ich auf die Knie, die mich nicht mehr halten wollten, weinte und hielt mich am Grabstein fest. Mit einer Hand strich ich über die eingravierte Schrift:

Kevin Peters

 20. April 1980  20. Mai 2007

In Gedenken an meinen geliebten Ehemann, ruhe in Frieden!

Vor wenigen Tagen nahm man mir bei einem Autounfall den Ehemann und somit die Hälfte meines eigenen Lebens. Diesmal wurde er in den Armen eines Engels fortgetragen und ich musste hilflos mit zusehen. Doch in diesem Augenblick spürte ich seine Gegenwart.







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