Wie erklärt man, dass alles vorbei ist?

Autor: Lucy
veröffentlicht am: 12.04.2007




Es war ein Morgen wie jeder andere auch. Eine sehr junge Frau war mit dem Auto unterwegs zur Arbeit. Sie kannte die Straße genau. Schon seit ihrer Kindheit kannte sie diese Nebenstraßen. Und seit vier Jahren fuhr sie diesen Weg ständig und wusste jede Abzweigung, jede Abkürzung zur Stadt und vieles mehr bereits auswendig. Vermutlich kannte sie jeden Stein hier. Auch an diesem Tag ging alles zügig voran. Sie hatte keinerlei Staus, keine Sorgen oder dringende Telefonate zu führen, weshalb sie früher im Büro hätte sein müssen. Nein. Sie hatte Zeit sich Zeit zu lassen. Und das kam selten vor. Während sie also langsam die kurvenreiche Straße entlang fuhr überlegte sie sich, ob sie vielleicht auf einen Besuch bei ihrer Mutter vorbei schauen sollte? Ihre Mutter würde es freuen und auch sie könnte wie damals, sich bestimmte Dinge von der Seele reden. Aus diesem Grund entschied sie sich nach der nächsten Kreuzung die Nebenstraße entlang des Bergabhanges zu nehmen. Das würde sie nur mehr fünf Minuten Fahrt kosten, dachte sie.
Wie vorausgeplant kam sie bei ihrer Mutter an. Als ihre Mutter sie kommen sah, ging sie hinaus in den Vorgarten und begrüßte ihre Tochter herzlich:
'Wie schön dich endlich wieder zu sehen! Ich rechnete gar nicht mehr damit dich überhaupt noch einmal zu sehen!' Ihr Tochter blickte sie verwundert an und fragte: 'Wieso? Fühlst du dich nicht gut?' Ihre Mutter begann wie jäh sich über ihre körperliche Verfassung zu beklagen und geleitete sie ins Haus. Nach ungefähr einer halben Stunde bei Kaffee und Kuchen hatte die Tochter genug von der ständigen Meckerei über den schlechten Gesundheitszustand ihrer fünfundachtzigjährigen Mutter und verließ sie mit den Worten: 'Mama, ich muss weiter! Ich wollte nur auf einen kurzen Sprung zu dir, da ich mir heute ein wenig Zeit lassen kann ins Büro zu kommen. Auf jeden Fall habe ich mich gefreut, dass es dir ansonsten recht gut geht. Wir sehen uns sicher bald wieder. Ich liebe dich! Mach's gut!' Sie saß bereits im Auto als ihre Mutter hinausgerannt kam und sie anhielt: 'Hier hast du noch ein wenig Kuchen für Zuhause.' Dankend nahm ihre Tochter den Teller und legte ihn auf den Nebensitz. Sie wollte gerade losstarten, da hörte sie ihre Mutter fragen: 'Schatz, du solltest heute die Schnellstraße Richtung Stadt nehmen. Angeblich ist der Wind auf dem kleinen Landweg neben dem Bergabhang zu stark und es besteht große Absturzgefahr', erklärte ihre Mutter besorgt. Ihre Tochter zuckte die Achseln. Küsste ihre Mutter schnell auf die Wange und startete erneut den Wagen.
'Mach dir keine Sorgen um mich. Eben bin ich auch aus dieser Richtung gekommen und du weißt, besser als jeder andere, dass nicht immer alles stimmt was sie in den Nachrichten bringen', erklärte sie und verschwand ehe ihre Mutter noch etwas dazu hätte äußern können.

***

Was danach geschah ist nicht bekannt. In den Nachrichten brachten sie nur: 'Vor einer halben Stunde stürzten zwei Pkw's den Abhang an der Roadstreet hinab. Die Bergungsarbeiten sind im vollen Gange. Zwei Rettungswagen und vier Feuerwehrwagen sind momentan damit beschäftigt die Menschen aus den verhängnisvollen Fahrzeugen zu retten. Unter den Opfern befinden sich, soweit es bekannt gegeben wurde, eine 23-jährige Frau sowie eine Familie aus Stanford. Noch hofft man auf Überlebende! Die Ursache die dazu führte ist noch unbekannt. Doch es wird vermutet, dass die Geschwindigkeit mit der der Wind hier bläst an dem Unfall schuld ist. Natürlich werden wir Sie auf dem Laufenden halten! Das war….'

***

Als der Mutter vom Tod der eigenen Tochter berichtet werden sollte, schickte man einen Officer zum Haus der alten Frau. Der Officer war gerade erst aufgenommen worden im Polizeidienst und hatte wenig Erfahrung in der Überbringung von derartigen Nachrichten. So tat er sich sehr schwer als er vor der Haustür stand. Er läutete.
'Was kann ich für Sie tun? Ist etwas Schlimmes passiert?', fragte diese sofort, da sie ihn erblickt hatte. Ihre inneren Alarmglocken schrillten. Dem Officer wurde plötzlich heiß und kalt gleichzeitig. Wie überbrachte man denn so eine Nachricht? Auf dem direkten Weg könnte es herzlos klingen, aber wenn er um den heißen Brei herum sprach, würde es später denselben Effekt haben wie jetzt und womöglich würde es den Anschein machen, dass er ihr absichtlich Angst einjagen wollte. Wofür er sich demnach entschied war der erste Weg: es ihr sofort ins Gesicht zu sagen.
'Ma'am, Ihre Tochter starb vor einer Stunde an einem Verkehrsunfall auf der Roadstreet Richtung Innenstadt', begann er langsam aber beherrscht zu reden. 'Es geschah auf dem kleinen Landweg beim Abhang des Berges', fügte er unnötigerweise noch hinzu und zeigte auf das Gebirge vor ihnen. Die alte Dame sagte nichts. Ihm wurde allmählich mulmig zumute. Keine Träne, kein Geschrei und kein Wort ließ die alte Frau von sich. Sie stand nur regungslos in der Tür. Blass schien sie ihm. Und je länger er sie stumm beobachtete, desto mehr erkannte er, dass sie anscheinend damit gerechnet hatte. Und so standen sie da. Lange. Aber dann hielt er es für angebracht zu gehen, weshalb er sich verabschiedete und leichten Schrittes zum Auto ging. Froh darüber diese seltsame, ungesprächige Frau zu verlassen. Was war das nur für ein eigenartiger Besuch gewesen, dachte er während er den Streifenwagen aus der Einfahrt fuhr.

***

In ihrem Haus allein begann sie dann zu weinen. Sie klagte so bitterlich, dass es einem fast das Herz zerriss. Doch keiner hörte sie. Niemand war mehr da um sich ihrer anzunehmen. Man hatte ihr all ihre Lieben genommen.

***

Wie üblich saß sie in ihrem Wagen und fuhr in die Innenstadt in ihr Büro. Als sie dort ankam, schloss sie die Tür auf, setzte sich vor ihren Computer und machte sich Kaffee. Dieses Mal jedoch verspürte sie starke Kopfschmerzen, die sie bereits seit sie aufgestanden war quälten. Irgendwie fühlte sie sich nicht sonderlich gut.
Drei Stunden vergingen und es war nichts los bei ihr. Das Telefon klingelte nicht. Emails bekam sie ebenfalls keine. Kein Kunde ließ sich blicken. Und so gab sie der Versuchung nach, nach Hause zu fahren. Auf dem Weg dorthin dachte sie an ihre Mutter. Sie würde sich sicher auf sie freuen, überlegte sie. Dieses Mal jedoch fuhr sie auf der Schnellstraße zu ihr.

***

Mit dem Kopf auf die Arme gelehnt, welche am Tisch lagen, fand sie ihre Mutter vor. Sie hörte sie jämmerlich Schluchzen. Fast wagte sie nicht ihre Mutter anzusprechen. Aber nur fast.
'Mama, warum weinst du denn?', fragte sie in die Stille hinein. Ihre Mutter sah zu ihr hoch. Schockiert vom Anblick ihrer Tochter wich diese zurück.
'Geh weg von mir', schrie sie und schnäuzte in ihr Taschentuch, welches sie in den Händen hielt. Mit zittrigen Händen wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht. Verdattert wagte ihre Tochter nicht auf sie zuzugehen. Was war bloß in sie gefahren?
'Mama, wieso soll ich weggehen? Ich dachte, du würdest dich über meinen Besuch freuen', wisperte sie. Die ältere Frau maß sie prüfend ab. Wirklich, da stand ihre Tochter. Aber wie konnte das sein? Sie beschloss nicht darüber nachzudenken.
'Also lebst du?', fragte die alte Frau schwach. Ihr Herz blieb ihr fast im Hals stecken. So sehr fürchtete sie sich vor der Antwort.
'Natürlich', erwiderte die andere. Natürlich tat sie das, dachte sie. Was sonst? Der starre Blick ihrer Mutter machte sie unsicher. Wusste ihre Mutter von etwas wovon sie nichts wusste?
'Dann hat sich der Polizist geirrt und es warst nicht du die den Unfall hatte?', fragte sie erneut. Sie musste sich ganz sicher sein. Sicher, dass sie nicht träumte und das sie auch nicht dabei war den Verstand zu verlieren. 'JA', schrie ihre Tochter aus. Lauter als beabsichtigt. Im nächsten Augenblick tat ihr der Ausbruch ihrer Wut leid. Doch warum stellte ihr ihre Mutter auch so dämliche Fragen?
'Lass dich umarmen', sagte ihre Mutter dann glücklich. Ja, das war sie. Das war ihre Tochter. Das war sie.
Sie wollte ihre Tochter in den Arm nehmen. Sie drücken. Sie spüren. Ihr zeigen wie gern sie sie hatte. Dann jedoch passierte etwas. Sie griff durch sie hindurch und fiel zu Boden. Langsam rappelte sie sich wieder auf. Was war denn das?
'Wer bin ich?', hörte sie ihre Tochter fragen. Nun erkannte auch sie. Sie war tot. Sie war ein Geist. Aber wie? Ihre Mutter hielt ein wenig Abstand zwischen ihnen. Traurig beobachtete sie das Gesicht ihrer Tochter.
'Du bist mein Kind, Kleines', antwortete sie dann nach langer Zeit. Ihr tat das Herz weh. Wie unfair. Wie unfair das doch war! 'Was bin ich?', kam dann die nächste Frage aus dem Mund ihres Kindes. Die Mutter überlegte einen Moment.
'Du bist ein Geist, mein Schatz. Und du bist mein Kind. Du hattest gestern einen Unfall, Kind. Verzeih mir, dass ich dich nicht davor schützen konnte', winselte sie dann. Wieder rannen Tränen ihre Wangen hinab. Das war doch viel zu viel für sie.
'Wieso siehst du mich dann? Wieso hörst du mich? Und wieso bin ich noch hier? Mama, ich habe angst. Was passiert hier?', schossen noch mehr Fragen aus ihr. Sie verstand die Welt nicht mehr! Die Mutter wusste nicht was sie darauf sagen sollte. Eine Weile herrschte Stille. Dann kamen die Worte einfach so aus ihr heraus:
'Ich sehe dich und ich höre dich, weil du mein Kind bist. Angst brauchst du nicht mehr haben. Es ist vorbei. Du bist jetzt noch hier um dich bei mir zu verabschieden. Um mit mir ein letztes Mal zu lachen. Zu weinen. Und ich werde dich gehen lassen müssen! Doch weiß ich nicht, ob ich es schaffe.' Ihre Tochter blickte in ihr tränenreiches Gesicht. Ihre Mutter hatte Recht. Sie spürte es. So verbrachten sie diesen Tag damit zu reden. Sich Dinge anzuvertrauen. Über alte Zeiten zu reden. So wie es früher war. Wie sehr beide das vermisst hatten bemerkten sie erst jetzt. Am Abend hieß es Abschied nehmen.
'Mama, ich will noch nicht weg', flüsterte sie ihrer Mutter ins Ohr. Sie saßen auf der Bank vor dem Haus. Die Abendsonne sandte noch wenige warme Strahlen ein letztes Mal auf die Erde hinab bevor sie verschwand.
'Wieso habe ich nicht auf dich gehört', klagte sie dann. Ihre Mutter hatte nicht geantwortet. Sie wollte einen Augenblick lang noch etwas die Zweisamkeit zwischen ihnen genießen. Im Laufe des Tages hatte sie sich damit zu Recht gefunden. Mit der Tatsache, dass ihre Tochter ein Geist war. Aber wie sollte sie jetzt wieder ganz allein sein?
Sie schluckte schwer den Knäuel in ihrer trockenen Kehle hinunter. 'Du hast nicht auf mich gehört, weil du deine eigenen Erfahrungen machen musstest', erklärte sie dann. 'Es war Zeit für dich, mein Schatz. Auch wenn ich es nicht verstehe. Du bist noch so jung, weißt du? Doch du musstest gehen. So ist es wohl nicht gerecht, aber es gehört sich so. Wir können daran nichts mehr ändern. Aber wir beide haben etwas was andere Leute nicht haben', fuhr sie weiter mit ihrer Erklärung fort. Ihre Tochter sah sie fragend an. Da lächelte sie sanft. 'Wir haben die Möglichkeit voneinander Abschied zu nehmen! Ich kenne nicht viele Leute die solches Glück erfahren hatten', schloss sie dann. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass ihre Tochter diese Erklärung durchaus akzeptierte. Zum ersten Mal nach langer Zeit waren sie sich wieder so nah. Sie waren wieder im Einklang mit einander. Sie hatten wieder zu einander gefunden.
'Du hast heute nicht ein Mal erwähnt, dass du Schmerzen hast', sagte ihre Tochter dann wie beiläufig. Sie sahen sich an. 'Und du hast nicht nur über die Arbeit geredet wie sonst immer', erwiderte ihre Mutter darauf. Sie lachten.
Bald jedoch wurden sie wieder ruhig und starrten in den Himmel. Wolken zogen auf. 'Es wird bald regnen.' Die Mutter nickte.
'Zeit für dich zu gehen', sagte ihre Mutter, wobei sie sich fragte ob der Satz als Feststellung oder Frage gemeint war. Jetzt nickte die andere. Man hörte aus der Ferne das Summen der Grillen. Irgendwo bellte ein Hund. Sie standen auf.
'Wieso haben wir aufgehört so zu sein wie wir waren?', fragte dann die Große die Junge. Dann beugte sich die Große zu ihr und gab ihr einen Kuss. Es schien ihr als ob sie ihn der Luft gegeben hätte. Da bemerkte sie erst, dass die Gestalt ihrer Tochter immer durchsichtiger wurde.
'Hätten wir unsere Zeit mehr aufs miteinander Leben verschwendet als auf die unnötigen Dinge des Lebens wäre vielleicht etwas anders geworden', sagte der verblassende Geist ihrer Tochter. Dieses Mal kamen keiner von beiden die Tränen. Ihr Abschied war mehr gewesen als sie es sich je hätten Träumen lassen. Als das Mädchen dann ganz verschwunden war sah die Mutter hoch in den Himmel.
Plötzlich erstrahlte ein Stern am meerblauen Himmel. Wie war das noch gleich? Jeder Stern war eine gestorbene Person die geliebt worden ist, kamen ihr, die Worte ihres Mannes wieder ins Gedächtnis. Ehe er starb hatte er sie gesagt. Jetzt verstand sie.
Und beschwingten Herzens flüsterte sie dem Wind die Botschaft zu: 'Im nächsten Leben machen wir es besser, mein kleiner geliebter Schatz.'

Sie schloss die Tür des Hauses hinter sich. Ein letztes Mal in diesem Leben. Dann machte sie die Augen zu und folgte dem Beispiel ihres Mannes und ihrer Tochter ins andere Leben, dort wo sie einander wieder finden würden.









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