The Head And The Heart

Autor: tweety
veröffentlicht am: 15.05.2015


Ein letzter Mausklick und die Mail war raus. Ein wenig Angst hatte sie nun doch vor ihrer eigenen Courage. Immer wieder hatte sie es verdrängt oder vor sich hergeschoben. Damals, als Teenie, wollte sie auf keinen Fall und niemals in eine Tanzschule. Der Preis, dafür ihre geliebten Reitstunden aufgeben zu müssen, erschien ihr zu hoch. Später, während der Uni, fehlte ihr die Zeit ebenfalls. Trotzdem hatte sie immer wieder versucht, ihren Freund zu einem Kurs zu überreden. Erfolglos.
Und nun, nachdem sie nach fast 4 Jahren endlich über die Trennung hinweg ist, schickt sie die Mail ab.
Zu verlieren hat sie nichts.
Bis zum Beginn sind es noch einige Wochen. Und in diesen Wochen nimmt der Stress überhand. Eine knappe Stunde vor Beginn fällt es ihr siedendheiß ein.
Tanzstunde!
Im Eiltempo springt sie unter die Dusche, macht sich fertig und dann nichts wie los. Langsam wird sie nervös. Der Kurs ist laut Beschreibung gemischt. Singles und Paare.
Die Gruppe vor ihr ist eine fröhliche Partybande. Sie kennt niemanden, doch zu ihrem Erstaunen fühlt sie sich trotz der fremden Umgebung pudelwohl. Das Foyer leert sich, die Pause ist um. Jemand kommt auf sie zu. Der Chef. Einen Stapel Anmeldungen dabei. Und dann die Erkenntnis: die Anmeldung via Internet ist nicht angekommen. Ihr wird heiß und kalt gleichzeitig. Doch bevor sie dem Gedanken, ob ihr Traum nun weiter verschoben werden muss, nachhängen kann, wird dieser verscheucht. Erstmal abwarten, es kämen zur ersten Stunde oft viele Singles unangemeldet. Ansonsten spränge jemand aus einem anderen Kurs ein, und zur nächsten Stunde organisiere er jemanden.
Er drückt ihr einen Anmeldebogen in die Hand und lässt sie allein. Allmählich füllt sich das Foyer wieder. Lauter unbekannte Gesichter. Viele kommen paarweise, andere allein oder zeitlich versetzt. Bei vielen kann sie es nicht zuordnen, wer zusammen gehört. Verstohlen mustert sie die Gesichter der Leute um sich herum. Dabei fällt ihr Blick auf einen sympathisch aussehenden jungen Mann. "Alter schwer zu schätzen, um die 30", denkt sie.
" Wenn ich mir einen Tanzpartner wünschen dürfte: den oder keinen", schießt es ihr durch den Kopf. " Doch bei meinem Glück kriege ich aber wahrscheinlich jemanden zugeteilt, der mindesten einen Kopf kleiner ist als ich."
Die Gruppe vor ihnen ist fertig mit Tanztraining, und sämtliche Tanzschul-Neulinge versammeln sich im Saal. Eine ausführliche Begrüßung, ein Kurzrundgang durch die Tanzschule, und die Vorstellung der Tanzlehrer folgen. Dann sollen die Paare sich gegenüber aufstellen.
Zielstrebig finden sich die Paare zusammen. Sie blickt zum Saal-Eingang, fühlt sich etwas hilflos und allein. Gefühlte hundert Augen starren sie an. So kommt es ihr vor. Im nächsten Moment verschlägt es ihr fast die Sprache; kaum, dass sie reagieren kann. Der Chef kommt erneut auf sie zu, dieses Mal aber mit einem Herren im Schlepptau.
"Teufel nochmal" denkt sie, " ich hab ja alles erwartet, aber dass ich so ein Sahneschnittchen als Tanzpartner erwische... Ich glaube, ich träume." Das der Kerl zudem noch unverschämt gut tanzt, sollte sich später auch noch herausstellen.
Vor ihr steht der Traumtyp, der ihr ihm Foyer schon so sympathisch erschien.
Ihre Angst und Nervosität schwinden langsam. Bei ihm fühlt sie sich sicher und wohl, und kann sich auf den zwingend notwendigen Körperkontakt einlassen.
"Bei mindestens der Hälfte der anwesenden Herren hätte ich wohl gekniffen", überlegt sie. Doch bei ihm kann sie sich fallen lassen, fühlt sich wohl. Immer wieder kommt der Chef vorbei, fragt beide, ob alles okay sei. Sie sind das einzige Single-Paar in dem Kurs.
Die Entscheidung, den auch zusammen durchzuziehen, steht für beide sofort fest.
Und am Ende der Kursstunde sehnt sie sich bereits die Nächste herbei. Freut sich darauf, ihn wieder zu sehen.
"Du spinnst", sagt sie sich. "Du willst tanzen lernen um des Tanzens willen. Du hast Dich nicht in der Tanzschule angemeldet, um einen Kerl anzubaggern. " Doch nach einer schlaflosen Nacht weiß sie genau, dass die Raupen und Schmetterlinge in ihrem Magen nicht auf verdorbenes Essen zurückzuführen sind.
Die Wochen verfliegen rasend schnell. Sie mag ihn. Freut sich auf jede einzelne Stunde. Mehrfach tanzen sie zwei Kurse nacheinander, da der Kurs geteilt wurde. Auf seine Umarmung nach der 2. Stunde will sie nicht mehr verzichten. Sie genießt es einfach nur. Nähe. Wie sehr hat sie das vermisst. Die Woche darauf - geht er wieder auf Distanz. Sie ist enttäuscht. Und nimmt in der Folgewoche allen Mut zusammen, und umarmt ihn zum Abschied von sich aus. Es ist ein Spiel zwischen Nähe und Distanz, was von Woche zu Woche wechselt. Sie versteht es nicht. Gerade in den Stunden haben sie eine Menge Spaß, lernen schnell, und langweilen sich manches Mal fast. Sie liebt es, mit ihm zu tanzen. Besonders Blues und Foxtrott. Den tanzen beide so eng, dass man es förmlich knistern hört. Sexy. Erotik pur. Niemandem der anderen Paare kommt es in den Sinn, dass hier zwei Singles tanzen. Oftmals halten Paare im Tanz inne, um ihnen zuzuschauen. Mehrfach kommt die Frage: "Wie lange seit ihr schon zu sammen?" Und das Erstaunen auf die Antwort ist riesig. Sie sind nicht zusammen. Doch genau das wünscht sie sich mittlerweile. Und kann ihn doch so schlecht einschätzen. Immer wieder nimmt sie sich vor, nach der nächsten Stunde einen Schritt weiter zu gehen. Die Zeit verfliegt. Die letzte Stunde vergeht. Eine letzte Umarmung. So fest, dass sie ihn am liebsten nie mehr loslassen möchte. "MachŽs gut", sagt er. "Meld Dich mal wieder", presst sie leise hervor. Bemüht sich, die Tränen zurück zu halten. Und schon geht das Gedankenkarussell los. "Diese Umarmung...", denkt sie, "will er mehr? Oder war das ein Lebewohl?" Sie telefoniert mit ihrer besten Freundin. Die ganze Nacht. Die Tränen wollen nicht versiegen. "Verloren", sagt ihr Bauchgefühl. Zum Abschlussball wird sie alleine gehen. Er ist im Urlaub. Mehrfach hat sie gefragt, ob er mit ihr weiter tanzt. Immer wieder ist er ausgewichen.
Den Folgekurs lässt sie aus, springt im Anfängerkurs ein. Einen Tanzpartner für "ihren" Kurs hat sie ja nicht mehr. Kurz vor dem Abschlussball wird sie angesprochen. Vom Chef. Dass sie ihrem Traum auf dem nächsten Abschlussball begegnen wird. Sie ist fassungslos. Fragt sich, warum er mit ihr nicht gesprochen hat. 2 SMS in seinem Urlaub, dann Funkstille. Sie haben sich doch gut verstanden. "Warum weicht er mir aus? Warum redet er nicht Klartext? Wenn er nichts von mir will, kann ich das akzeptieren. Ich wünsche mir doch nur, mit ihm zu tanzen." Etwas anderes kann sie nicht mehr denken.
In ihrem neuen Tanzpartner hat sie eine liebe, verlässliche Person gefunden. Nicht ganz so locker wie ihr Traumprinz, aber dennoch ein sehr guter Tanzpartner. Wenn sie sich entscheiden müsste, mit wem sie lieber tanzt, sie könnte es nicht. Eine Kopf-Herz-Entscheidung.
Der Abschlussball. Dieses Mal mit Tanzpartner. Der Chef persönlich macht die Sitzplatzverteilung. Und allen Ängsten zum Trotz... Sitzt er am Nachbartisch. Ihr ehemaliger Tanzpartner. Kommt irgendwann herüber. Sie will nicht weinen. Will nicht zeigen, wie sehr es sie verletzt hat. Und reagiert kühl. Schon nahezu kalt.
Im nächsten Moment weiß sie, dass sie damit die Hoffnung auf einen Tanz mit ihm selbst zerschossen hat. Er geht. Sie wünscht sich nichts sehnlicher, als mit ihm zu reden. Und zu tanzen. Doch sie erwischt ihn nie allein. Bekommt Gesprächsfetzen mit. Am nächsten Morgen weiß sie, dass sie nicht länger warten kann. Schreibt eine SMS. Versucht, ihr Verhalten zu erklären. Wider Erwarten erhält sie eine Antwort. Sogar eine sehr ausführliche. In dem Moment in dem sie darauf antwortet, ist ihr bewusst, damit nun endgültig alles verspielt zu haben. Hätte sie genauer gelesen... Hätte sie wohl ab Herbst ihren Herzens-Tanzpartner wieder an ihrer Seite gehabt. Nun muss die Zeit entscheiden.
Doch auch, wenn er nun mit ihr weitertanzen wollen würde: wie sollte ihre Entscheidung lauten? Gleichzeitig mit zwei Partnern wäre unmöglich. Er hat sie einmal enttäuscht. Die Garantie, dass es kein zweites Mal passiert, bekommt sie nicht.
Zudem brächte sie es nicht übers Herz, denjenigen, der sie als Tanzpartnerin wertschätzt, für sie alles umgebastelt hat, um an ihrem Wunschtermin tanzen zu können, für sie da war, so bitter zu enttäuschen. Dann wäre sie nicht einen Deut besser als ihr Ex-Tanzpartner.
Und doch weiß sie: wenn die Situation eintreten sollte, muss sie sich entscheiden.
Kopf oder Herz.
Herz oder Kopf.
Eine Entscheidung, bei der es niemals ein Richtig geben kann.
Sie hat Angst davor, dass sie vor diese Entscheidung gestellt wird. Und gleichzeitig...hofft sie darauf.
Hofft immer noch, dass auch er sich in sie verliebt hat.

© 10.05.2015








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