Heb den Kopf und sag mir, dass du eine Grenze siehst! - Teil 4

Autor: Celithizia
veröffentlicht am: 08.09.2014


Kapitel 3

Am Montag ging es mir schon wieder besser. Ich konnte zur Vollversammlung gehen.
Nach der Wochenauswertung ging es zu den Todesgebeten.
Doktor Limes begann:
„Diese Woche haben uns zwei Kinder Gottes verlassen. Sarah King und Lisa van Mauritio. Beide hatten einen schweren Kampf hinter sich bringen müssen und erlangten nun Erlösung. Sarah King starb im Alter von 14 Monaten und Lisa van Mauritio musste uns im zarten Alter von 18 verlassen. Erhebt euch.“
Die ganzen Menschen erhoben sich und es wurde ein kurzes Gebet gesprochen, dann setzten sich alle wieder.
„Nun sagen die Therapeuten etwas. Frau Doktor Beatrix.“
Sie las den gleichen Text wie immer vor. Dass wir alle Kinder Gottes sind und nun für das kleine Kind ein neuer, besserer Abschnitt beginnt. Ich hörte nicht zu.
Dann war der Puppendoktor dran.
„Ich würde gern eine Patientin sprechen lassen.“, kündigte er an. Bei Mädchen war das okay einfach einen Patienten oder eine Schwester zu beauftragen im Fall eines Todes etwas zu der Person zu sagen. Ich wusste genau, dass er mir damit etwas auswischen wollte, aber da hatte er sich geschnitten.
Limes: „Ja natürlich.“
Genver: „Miss Dara Liman.“
Einige Köpfe drehten sich zu mir. Julian saß einige Reihen vor mir, doch er bewegte sich keinen Zentimeter. Wieso auch? Zu diesem Namen hatte er kein Gesicht.
Ich schritt vor zum Podium und legte mir passende Worte im Kopf zurecht.
Man gab mir den gleichen Zettel, wie Doktor Beatrix, doch ich schüttelte den Kopf.
Limes drehte sich zu Genver, welcher eine Reihe hinter ihm saß.
„Sie kann nicht lesen?“
„Doch.“, mischte ich mich ein, „Aber ich will nicht.“
Ein entsetzter Limes drehte sich um. Oh ja. Wie konnte es eine Frau wagen sich in ein Gespräch einzumischen?
Ich ging ans Podium und schaute mich um. Fast alle Blicke hafteten an mir.

„Ich beginne mit einem Zitat von Marcus Aurelius:
`Nicht den Tod sollte man fürchten, sondern dass man nie beginnen wird, zu leben.`
Hatte Lisa gelebt? Kann man nach 18 Jahren von einem Leben reden? Oder nach 14 Monaten?
Wenn wir alle Kinder Gottes sind, wieso behandelt er uns dann nicht auch alle gleich?
Wie kann Gott entscheiden, wem es auf dieser Welt besser gehen soll und wie könnt ihr euch danach richten? Wenn jeder weiß, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Wie könnt ihr es wagen über uns zu urteilen, die, die ihr ebenfalls nur die Kinder Gottes seid. Wie könnt ihr den Wert des Menschen bestimmen ohne beides genau zu kennen oder zu benennen?
18 Jahre ist kein Leben. 18 Jahre ist ein Lebensabschnitt.
Und zum Schluss ein Zitat von Jean Cocteau: `Man schließt die Augen der Toten behutsam; nicht minder behutsam muss man die Augen der Lebenden öffnen`
Danke.“

Dann ging ich zurück zu meinem Platz. Im Saal war eine tiefe Ruhe eingetreten, bis Boris anfing zu klatschen.
Er hatte natürlich kein Wort verstanden, aber ich bekenne sein Mitgefühl an.
Dann erhob sich Doktor Limes: „Das ist eine ungehobelte Frechheit. Es steht ihr nicht zu solcherlei Äußerungen zu tätigen. Ich bewundere zwar ihr Auswendiglernen, denn ich bin sicher, dass sie das hier niemals selbst verfasst hat. Vor allem nicht in dieser kurzen Zeit. Eine schöne Darstellung. Als hätte ein einfaches Mädchen, wie sie so viel Intelligenz. Lachhaft. Ich möchte das Mädchen trotzdessen bitten diesen Saal zu verlassen und verhänge zudem noch 4 Tage Ausgangssperre. Guten Tag“
Jap. Herr Limes sprach nicht wirklich mit uns Frauen; er redete mit uns in der dritten Person Singular.
Ich stand auf und verließ den Raum, während man vorn schon wieder zur Tagesordnung überging.
Wenn ich gewusst hätte, welche Auswirkungen dies alles hatte, dann hätte ich doch nie, NIEMALS so etwas von mir gegeben. Aber Hellseher gibt es nun mal nicht.

Also ging ich auf mein Zimmer. Ein besseres Leben konnte ich mir gar nicht vorstellen. Das Essen wurde mir gebracht und ich durfte rumliegen und nachdenken.
Ich musste nach dem Abendessen gleich eingeschlafen sein, denn als ich aufwachte war es stockdunkel. In der hintersten Ecke meines Unterbewusstseins hörte ich ein klopfen, was mich wohl aufgeweckt hatte.
„Dana?“, fragte eine Stimme.
„Ich heiße Dara.“
„Schön dich kennenzulernen.“
Langsam sickerte mein Bewusstsein zu mir durch. Jemand war in meinem Zimmer.
Voller Adrenalin schoss ich auf und verfrachtete mich in die hinterste Ecke des Bettes.
„Alles in Ordnung? Man sieht hier ja gar nichts.“
Julian. Er schaltete das Licht ein und ich schützte meine Augen vor dem Licht.
„Was willst du denn hier?“, fragte ich leicht säuerlich.
„Entschuldige falls ich dich geweckt haben sollte.“
Meine Augen gewöhnten sich schnell an das Licht und nun guckte ich ihn an. Er stand am Lichtschalter und sah peinlich berührt aus.
„Also was willst du?“, fragte ich nochmals.
„Ich weiß es nicht.“
„Wie du weißt es nicht?“
„Naja ich hätte nicht gedacht, dass ich dein Zimmer finde. Also habe ich den Plan nicht wirklich bis zum Ende bedacht.“
„Was war denn der Plan?“
„Ich wollte nur wissen wie es dir geht.“
„Ganz toll. Danke der Nachfrage.“
„Ich fand deine Ansprache vorhin wirklich mehr als beeindruckend. Du wusstest nicht, dass dein Therapeut dir diese Aufgabe übergibt, nicht wahr?“
Ich antwortete nicht.
„Selten beziehungsweise nie habe ich ein Mädchen kennengelernt, die auch nur annähernd an deine Intelligenz rankommt.“
„Wie alt bist du?“
Er war über meine Frage überrascht, da ich noch nie Interesse an seiner Person gezeigt hatte.
„19“
„Dann beruht dein Wissen auf nicht mal annähernd so viele Fakten, dass man Vergleiche ziehen kann.“
„Urteile nicht über einen Menschen den du nicht kennst. Auch im geringen Alter kann man viele Erfahrungen sammeln“
„Natürlich, aber aus Erfahrungen kann man in 19 Jahren keine Erkenntnis machen.“
„Ist Erkenntnis nicht relativ? Was für mich eine Erkenntnis ist, ist für dich vielleicht eine Aufgabe die du zu lösen nicht vermagst, weil sie dir als unnötig erscheint.“
„Matt.“
Ich musste mich ehrlich geschlagen geben. Der Junge war extrem clever. Er guckte mich interessiert an, als er sagte: „Ich wusste nicht, dass dies ein Duell auf geistiger Ebene war. Ansonsten wäre ich ganz Gentleman gewesen und hätte die Lady gewinnen lassen.“
„Und dann wäre es kein Duell mehr gewesen.“
„Da hast du wohl Recht.“
„Willst du dich setzen? Wenn ich schon mit deiner Anwesenheit klarkommen muss, dann möchte ich doch wenigstens eine gute Gastgeberin sein.“
Auf meinem Bett war sowieso genug Platz und er setzte sich mit einem Sicherheitsabstand von 50 cm neben mich.
„Darf ich dich was fragen?“, fing ich langsam an.
„Natürlich. Alles was du willst.“
Ich nickte dankend.
„Wie ist die Welt da draußen?“
Er überdachte meine Frage ziemlich lange und ließ sich Zeit eher er mir antwortete.
„Es ist schwer für mich dir das zu erklären.“, meinte er schließlich.
Eine leichte Enttäuschung überkam mich und ich ärgerte mich ein Stück meiner Neugier mit ihm geteilt zu haben, als er hinzufügte: „Versteh mich nicht falsch Dara, aber für mich ist das, was du wissen willst nur allzu normal. Ich würde die für dich wichtigen Dinge vielleicht vergessen, weil sie für mich zum Alltag gehören. Ich würde dich mit meinen Ansichten verschrecken. Du solltest dir die Welt, wenn du sie kennenlernst selbst mit deinen eigenen Eindrücken füllen. Und nicht mit meinen.“
Ich war fasziniert. Dieser Junge war beeindruckend und ich konnte ihn nur anstarren. Für anderes war ich nicht in der Lage.
„Natürlich würde ich die Welt gern mit dir neu entdecken. Also… ich würde sie dir gern zeigen.“, fügte er hinzu.
„Das wird nicht funktionieren.“
„Aber wieso nicht?“
„Ich bin seit neun Jahren hier und ich bezweifle, dass ich jemals hier herauskomme.“
„Erzähl mir von hier. Was machen sie mit dir?“
Sollte ich ihm erzählen was ich dachte? Sollte ich meine düsteren Gedanken mit ihm teilen?
„Wieso sterben hier monatlich so viele Menschen?“, fragte er etwas leiser.
Er versuchte sich mein Vertrauen zu ergattern damit er heraus bekam, was hier schief lief.
Aber zu welchem Zweck? Mit meiner negativen Einstellung hatte ich sogleich Bilder im Kopf, wie ich die Klinik verrate, wie ich mich selbst verrate. Sofort stellte sich meine Meinung auf Argwohn um.
„Ich weiß es nicht.“, sagte ich schließlich.
„Ich glaube, dass du es sehr wohl weißt. Beziehungsweise glaube ich, dass du sehr viel denkst. Aber es ist in Ordnung. Du musst deine Gedanken nicht mit mir teilen, wenn du nicht willst. Es ist deine freie Entscheidung.“
Jetzt ließ er mir die Wahl. Ich hatte davon gelesen. Zwar nur in einem Roman, aber die Szene war einprägsam gewesen. Man wollte etwas herausfinden und gibt demjenigen die Chance selbst zu wählen. Das ist seelische Erpressung. Da war ich mir sicher, aber ich würde auf sowas nicht herein fallen. Niemals.
„Ich bin müde und hätte gern etwas Ruhe.“
Er verstand und ließ mich in Frieden.






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