Weirdly - Teil 19

Autor: blue-haze
veröffentlicht am: 30.05.2014


19. Jeder Tod bedeutet einen Abschied

Vielleicht ist es gut so, wie alles gekommen ist. Auch wenn es mir das Herz zerbricht.
Aber es ist wohl das Beste so.

Es ist ziemlich spät und bereits dunkel, als ich nach Hause gehe. Kenan geht mit zwei, drei Metern Abstand hinter mir her, und die Männer haben ihn wohl nicht gleich gesehen. Sie greifen an und Kenan geht dazwischen. Es kommt zu einem heftigen Kampf. Der letzte Trifft ihn am Kopf und flieht. Kenan geht zu Boden. Ich rufe die Polizei knie mich zu Kenan. Er atmet noch und ist offenbar nur bewusstlos.
Ich ziehe das blaue Fläschchen aus meiner Tasche und ringe mit meiner Entscheidung.

Wenn ihr das Schicksal eines Menschen in eurer Hand hieltet...
Vielleicht bilde ich mir zu viel darauf ein zweimal gestorben zu sein und erlaube mir deshalb Schicksal zu spielen.
Habe ich ihn damals wirklich gerettet, um jetzt sein Leben auszulöschen?
Manchmal muss man sterben um ein neues Leben beginnen zu können.
Wenn ihr sein Leben ändern könntet...
würdet ihr es tun?
Auch wenn es bedeutet, dass ihr aus dem Leben dieses Menschen verschwinden müsst...
Vielleicht ist es falsch...
vielleicht ist es verachtenswert die Entscheidungen eines Menschen nicht zu respektieren...
Doch mir ist eine Sache klar geworden: Als ich Kenans Leben gerettet habe, habe ich ihn eigentlich getötet... ob ich ihn auf die Art reanimiere? Das wird sich zeigen.

Einge Minuten sitze ich nur da, mit Kenans Kopf auf meinem Schoß. Als ich in der Ferne jedoch die Sirenen höre, nehme ich meinen Mut zusammen und träufle die Flüssigkeit in seinen Mund.
Als die Polizei und der Krankenwagen ankommen, wacht Kenan benommen auf und kann sich an nichts erinnern.
An nichts.
Ich erzähle dem Arzt von dem Schlaf auf den Kopf und er diagnostiziert eine Amnesie.
Verwirrt sitzt der Mann, den ich so sehr liebe auf diesem Stuhl in diesem sterilen Raum und fragt mich, was los ist.
„Hallo Kenan. Mein Name ist Akira“, stelle ich mich vor.
„Du kennst mich?“
Ich nicke.
„Du hast einen Schlag auf den Kopf bekommen, weil du mir geholfen hast. ...Tut mir leid, was passiert ist.“
Ich weiß nicht, ob es der Schlag auf den Kopf war, oder ob das Zeug von Nana gewirkt hat. Ich werde es wohl nie erfahren.
Als ich mit ihm nach Hause fahre, erzähle ich ihm, dass wir Freunde sind und er momentan bei uns wohnt.
„Habe ich keine Familie?“
Bedauernd schüttle ich den Kopf. War es falsch von mir? Ihm alle Erinnerungen zu nehmen, damit er einen neuen Anfang machen kann...

Die folgenden Tage lasse ich Kenan Zeit, sich an seine neue Situation zu gewöhnen. Ich ertaste seine Gefühle und erkenne Anfangs nur Verwirrung.

Bald beginnt er mehr mit mir zu sprechen. Wir gehen viel spazieren, es gefällt ihm wohl draußen zu sein. Was mich überrascht ist, dass ich bald ein neues Gefühl bei ihm wahrnehme. Keine Trauer über das Vergessene. Sondern Erleichterung. Ob sein Unterbewusstsein weiß, dass das Vergangene zu vergessen im Moment nicht das Schlechteste ist?
Wir sitzen auf einer Schaukel auf dem Spielplatz und sagen lange nichts.
Ich bin es, die die Stille beendet. „Darf ich dich um etwas bitten?“
Verwundert sieht Kenan auf.
„Bitte trauere nicht um das Vergessene, sondern betrachte das Ganze als Chance auf einen Neuanfang.“
„War mein altes Leben so verkorkst?“
„Nein... nein...es war eigentlich gut... denke ich...“ Ich ringe nach den passenden Worten. „Ich glaube nur, du hast irgendwann eine Sache so sehr betrachtet, dass du vergessen hast, dass es noch mehr zu sehen gibt.“
„Verstehe...denke ich zumindest“
„Du hast gerade deinen Abschluss gemacht und hast Bewerbungen für Colleges geschrieben und ich glaube, du hattest Pläne... ich weiß nicht, ob du sie gerne umgesetzt hättest... ich bitte dich nur... überlege dir, ob du es möchtest... ich glaube dein Herz wird es dir sagen, auch wenn du dich nicht erinnerst.“
Nach einer Weile füge ich noch etwas hinzu:
„Was ich mir mehr als alles andere wünsche, ist dass du das tust, was dich glücklich macht.“
Ich streiche mit meiner Hand über die Kette an meinem Nacken und nehme sie ab – zum ersten Mal, seit ich sie angelegt habe – und lege sie in seine Hand.
„Weil ich dank dir weiß, was Glück ist.“

Zu sterben bedeutet Abschied von jemandem zu nehmen. Ich habe einen geliebten Menschen umgebracht und wusste, dass ich mich von ihm verabschieden werden muss.
Aber sterben bedeutet auch sich von etwas...von jemandem loslösen zu können... und das bedeutet frei zu sein. Und wenn ich nach seinen Gefühlen taste, wie er da zwei Monate später mit seinem Koffer in der Tür steht und sich von meinem Dad, Ashley, Tyler und Fluffy verabschiedet... dann fühle ich, dass er sich wirklich frei fühlt.
„Vergiss nicht, dass du bei uns immer ein zu Hause finden wirst, Kenan, okay,“ sagt mein Vater, als er ihm die Hand zum Abschied reicht. Kenan nickt und bedankt sich. Es wirkt nicht förmlich, sondern aufrichtig und vertraut.
Als alle sich verabschiedet haben, gehe ich zögernd auf ihn zu.
Ob er mich hassen würde, wenn er die Wahrheit wüsste?
Vielleicht wird er sich irgendwann wieder erinnern... was wird er dann von mir denken?
Wird er dann überhaupt noch wissen wer ich bin?
Wird er mich irgendwann einfach vergessen? Besonders dann, wenn er sich nie wieder erinnern sollte.
Die Tür hinter mir fällt zu und ich stehe alleine mit Kenan auf der Veranda.
„Also dann...“ Mutig zwinge ich meine Mundwinkel sich zu heben.
„Ja...“
„Versprichst du mir, zu versuchen glücklich zu werden?“
Er nickt. „Ich gebe mein Bestes.“
„Schreib uns wenigstens mal eine Postkarte, okay?“ Noch klingt meine Stimme sehr kontrolliert.
Wieder nickt er. Ich traue mich nicht nach seinen Gefühlen zu tasten, weil ich fürchte, dass ein Gefühl nicht dabei ist, das ich jetzt gerne spüren möchte. Aber ich bin selbst schuld.
„Wirst du mich vermissen?“ Von der unteren Stufe, blickt er zu mir auf.
Ich merke, wie der Klos in meinem Hals verhindert, das Wort anständig heraus zu bringen, also nicke ich nur und verkneife mir die Tränen und beiße mir auf die Unterlippe, die zu beben anfängt.
„Ab-“ Ich räuspere mich. „Aber ich freue mich für dich“, mehr als ein Flüstern kriege ich nicht zustande.
In seinen Augen funkelt etwas. Etwas das ich das Letzte mal vor Jahren gesehen habe. Und dieses aufgehauchte Lächeln in seinem Mundwinkel... Es zwingt mich, mich für ihn zu freuen, anstatt egoistisch daran zu denken, er könnte mich vergessen.

Er steigt noch einmal die beiden Stufen hoch und umarmt mich zum Abschied. Ich kämpfe darum mich nicht an ihn zu klammern und habe hoffentlich die richtige Balance eines freundschaftlichen Abschiedes gefunden.
Dann löst er sich und ich bin fast enttäuscht.
Als er beginnt an seinem Lederarmband zu nesteln, sehe ich ihn fragend an.
„Ich...ich würde gerne deine Kette noch behalten...aber...“ er nimmt das Armband ab und nimmt mein Handgelenk. Er wirkt etwas verlegen, als er weiter spricht. „Ich fände es schade, wenn du mich vergessen würdest.“
Würde ich nicht, du Vollpfosten!
Natürlich sage ich das nicht.
Als er die Stulpe abstreift und die Narbe betrachtet, weiß ich nicht, wie ich reagieren soll. Was er wohl denkt?
Mit dem Daumen streift er darüber und wirkt nicht schockiert, wie ich es erwartet habe, sondern eher ...versonnen... „Die kenne ich...“
Ich nicke.
Er schnallt das Armband um mein Handgelenk und sieht mich mit einem warmen, zärtlichen Blick an. Er streicht mir eine Haarsträhne hinters Ohr und streift dabei wie zufällig mit seinen Fingern über meine Halsbeuge. „Machs gut, Akira.“
„Du auch...“







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