Rache ist süß - Teil 3

Autor: Aline
veröffentlicht am: 12.08.2013


Zwei Stunden später wachte Anna auf. Besser gesagt, sie wurde aus der Ohnmacht geschrien.
Als sie ihre Augen aufriss und zunächst desorientiert im Raum umherschaute, blieb ihr Blick an der Person hängen, die direkt vor ihr stand und sie mit einem hysterischen Wortschwall attackierte, der allerdings keinen Sinn ergab.
Sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass es die ältliche Maria Palm war, eine Nachbarin von Juliana.
Juliana!
Schlagartig war sie hellwach und fuhr kerzengrade hoch, woraufhin sie sich wieder schmerzhaft zusammenkrümmte. Durch die verdrehte, unbequeme Position, in der sie gelegen hatte, tat ihr Rücken jetzt höllisch weh.
Sie schaute auf ihre Handgelenke, die von roten Striemen geziert wurden.
Langsam wurde ihr Kopf klarer und sie verstand Teile der Sätze, die ihr Maria Palm regelrecht entgegenschmiss.
„Mein Gott, was ist nur passiert… Mädchen, geht es dir gut?...Ich rufe die Polizei“
Ihr Blick glitt an der pummeligen Frau vorbei, die direkt vor ihr stand.
Später wünschte sie sich, niemals aufgewacht zu sein und sich so den schrecklichen Anblick, der sich ihr nun darbot, erspart zu haben.
Während Maria Palm immer hysterischer wurde und schließlich aus dem Zimmer eilte, kam Anna der Anblick ihrer toten Schwester immer mehr wie ein Alptraum vor.

Die folgenden Ereignisse nahm die junge Frau wie durch einen weißen Schleier wahr.
Polizisten kamen. Man redete auf sie ein, doch die Worte klangen wie eine fremde Sprache. Sie wurde abgeführt, in einen Streifenwagen gesetzt, zur Polizeiwache gefahren.
Während sie in dem kalten Verhörzimmer saß und immer noch versuchte, zu verstehen, wurde sie durch die Spiegelscheibe beobachtet.
„Haben Sie sie identifizieren können?“, fragte Polizeioberkomissar-POK- Werner seinen Gesprächspartner. Dabei musterte der alte Bär durch die Scheibe das Objekt ihres Dialoges. Die junge Frau sah aus, als hätte sie Schlimmes gesehen.
„Ja, sie…äh…sie ist die Schwester des Opfers. Ihr Name ist Anna Rurmann“, antwortete Werners Polizeipartner Jonas Seifert und reichte ihm Annas Ausweis, den er in ihrer Jackentasche gefunden hatte.
Dieser warf einen kurzen Blick hinein, um ihr Alter festzustellen, und gab ihn wieder zurück.
„Die Ärmste“, seufzte Jonas unvermittelt. „Sie steht unter Schock.“
Werner hörte das aufrichtige Mitleid aus seinen Worten und warf seinem Partner einen verstohlenen Blick zu.
Jonas war vierundzwanzig Jahre jung, hatte gerade mit dem Polizeidienst angefangen und ließ sich noch von Gefühlen leiten. Dies hatte Werner in seinen neununddreißig Jahren Berufserfahrung längst abgelegt. Irgendwann war ihm klar geworden, dass seine unzähligen Fälle ihm gar keine Zeit ließen, mit allen Opfern Mitleid zu haben. Vielleicht wurde man in diesem Job stumpfsinnig, er wusste es nicht. Aber vielleicht war er auch einfach zu lange POK gewesen.
Er hob seinen mächtigen, behaarten Arm und legte ihn auf Jonas Schulter.
Warum hatte man den Jungen ausgerechnet ihm zugeteilt? Von einem alten Bären wie Werner konnte er zwar viel Berufliches lernen, aber im Gefühle zeigen war er eine Niete.
„Gehen wir rein“, brummte er und führte seinen Partner zu dessen erstem Verhör.

Annas Blick klärte sich etwas, als sie die beiden Männer den Raum betreten sah. Trotz ihres offensichtlichen Schocks fiel ihr sofort der große Altersunterschied auf. Der Blonde konnte nicht älter als Mitte Zwanzig sein, der behaarte Dicke mit dem Schnurbart hingegen hatte die sechziger bestimmt längst hinter sich gelassen.
Seine Mimik war kalt und professionell, doch seine Augen blickten sie warm an. Dem Jüngeren jedoch konnte sie das Mitleid sofort ansehen.
Sie erhob sich von ihrem Stuhl und fragte sich, ob das alles ein Alptraum war und sie gleich aufwachen würde.
„Setzen Sie sich ruhig“, sagte der Bär mit brummiger Stimme. Er und sein Partner nahmen ihr gegenüber selbst Platz.
Anna sank schlaff zurück auf den Stuhl, ihr wurde klar, dass zwischen ihr und den Polizisten ein Metalltisch stand. Er war vielleicht einen halben Meter breit, doch ihr kam er vor wie ein riesiger Abgrund; sie auf der einen Seite, und alle Übrigen auf der anderen.
Wo war Simon, ihr Freund? Wo waren tröstende Worte, wo liebende Wärme?
Die Angst vor dem Alleinsein packte auf einmal zu, so kalt und plötzlich, dass sie in Tränen ausbrach.
Der junge Polizist vor ihr wollte aufstehen, doch der Bär hinderte ihn daran. Sie ließ den Tränen freien Lauf, wollte sie auch gar nicht zurückhalten, weil sie fürchtete, sie würde sonst daran ersticken.
Ein weißes Stück Stoff kam in ihr tränenverschleiertes Blickfeld. Der junge Mann reichte ihr ein Taschentuch.
Sie nahm es dankend an, wischte sich die Augen und riss sich zusammen.
„Verzeihung“, brachte sie leise hervor.
„Aber wofür denn-?“, wollte der Blonde sagen, wurde jedoch von dem Alten unterbrochen. „POK Werner mein Name, wir wurden von der Nachbarin Ihrer Schwester gerufen. Bitte schildern Sie uns, was passiert ist“, forderte er sie auf, geübt, routiniert.
Anna erinnerte sich nur allzu lebhaft an…das, was geschehen war. Sie musste sich zusammennehmen, um nicht erneut in Tränen auszubrechen.
„Er…er hat mich gefesselt“, sagte sie mit brüchiger Stimme. „Er stand da und- und im nächsten Moment hatte er mich gefesselt. Mein Gott…er war doch so freundlich!“
Die Tränen liefen ihr trotz guter Vorsätze erneut über die Wangen.
„Wer ist ‚er‘?“, fragte Werner.
„Er…er sagte, sein Name wäre Nick“, antwortete Anna, nachdem sie sich an die Szene im Flur zurückerinnert hatte.
„Nachname?“
Sein Nachname?
Sie überlegte fieberhaft. Mentor, Melchior, Major…
„Malchus!“
Werner hob eine Augenbraue. „Nick Malchus?“
Sie nickte. Der Bär sagte irgendwas von Überprüfen zu seinem Partner, der daraufhin den Raum verließ.
Werner wandte sich wieder der jungen Frau zu.
„Ich weiß, dass das hier nicht leicht für Sie ist“, sagte er. „Aber Sie müssen mir sein Aussehen schildern, und was genau passiert ist.“
Anna seufzte. Sie wünschte sich so sehr, sich an nichts erinnern zu können. Aber leider hatte sie die furchtbare Szene in Julianas Wohnzimmer noch genau vor Augen.
Sie wischte sich die Tränen auf ihren Wangen noch einmal weg und erzählte dem Polizisten alles.

„…dann muss ich bewusstlos geworden sein. Als ich aufwachte, war er weg.“
Stille trat ein, als die junge Frau geendet hatte. Werner empfand eine leichte Bewunderung für sie. Ihre Schwester war vor weniger als vier Stunden ermordet worden und trotzdem schaffte sie es, das Geschehene so klar und genau widerzugeben.
Er nickte und ließ sich das, was sie ihm gerade erzählt hatte, noch einmal durch den Kopf gehen.
Aus seiner jahrelangen Erfahrung heraus, mit der er ihre Erzählung analysierte, konnte er mit Sicherheit sagen, dass es sich bei dem Täter um einen Psychopathen handelte, hierbei wahrscheinlich auf junge Frauen ausgerichtet.
Werner kannte den perfiden Wunsch nach Macht und Überlegenheit. Er hatte diesem Verlangen zu oft ins hässliche Gesicht geschaut, hatte zu oft Menschen verhaftet, die diese Begierde tief in sich trugen. Sie kannten ihre Opfer nicht, suchten sie meist völlig spontan aus und führten ihre Tat kaltblütig durch.
Werner war zwar nicht in der Lage, sich in die kranken Köpfe dieser Menschen zu versetzen, aber er konnte sich vorstellen, dass das Morden eine Art Befriedigung für sie war, die durch nichts anderes ersetzt werden konnte.
Mitten in seinen Überlegungen öffnete sich die Tür.
Jonas kam zurück, ein paar Unterlagen in der Hand.
„Und?“, fragte Werner. „Was rausgefunden?“
„Oh ja, und zwar etwas sehr Unerwartetes.“
Er setzte sich neben seinen Kollegen und reichte ihm die Blätter.
Auf dem einen war die Frontalfotografie einer jungen Rothaarigen abgebildet, auf dem anderen die dazugehörigen Daten.
Als Werner auf den Namen der jungen Frau sah, verstand er sofort.
„Sara Nicki Malchus?“, brummte er. „Das Mädchen wurde doch letzten Monat tot in ihrer Wohnung gefunden.“
Jonas nickte bedächtig. „Und zwar mit durchgeschnittener Kehle. Es müssten Ihnen jetzt zwei Dinge auffallen.“
Werner war klar, was sein Partner für Dinge meinte. Aber der armen jungen Frau am anderen Ende des Tisches ging es scheinbar nicht so.
„Wovon reden Sie?“, fragte sie mit vom Sprechen etwas kratziger Stimme. Ihre Augen waren ganz rot gerieben, in ihnen schimmerten Tränen.
Werner verlagerte sein massiges Gewicht auf die Mitte des Stuhls und reichte ihr die Papiere.
„Mein Kollege hier hat nach Nick Malchus geforscht…“
„…allerdings nichts gefunden“, führte Jonas den Satz zu Ende.
„Wie?“, sagte Anna und sah ihn perplex an.
„Es existiert niemand mit diesem Namen. Die junge Frau auf dem Bild heißt Sara Nicki Malchus. Er hat einfach ein Wort und einen Buchstaben weggelassen.“
„Ein Pseudonym, wenn man so will“, meinte Werner. „Bei Sara und bei Ihrer Schwester waren die Todesumstände und die Todesursache genau gleich. Deswegen können wir annehmen, dass der Mörder vorhat, noch mehr Menschen auf diese Weise zu töten. Er nimmt einfach die Namen seiner weiblichen Opfer an.“
Anna schluckte schwer, das Bild des letzten Opfers verschwamm vor ihren Augen. „Ein Serienkiller?“ Es war kaum mehr als ein Flüstern.
Werner nickte. „Sieht so aus. Wir brauchen unbedingt eine Personenbeschreibung von Ihnen…Sie erinnern sich doch noch an sein Aussehen?“
Oh ja. Anna nickte langsam. Sie würde dieses Gesicht niemals wieder vergessen können. Niemals.
Sie schaute auf die Uhr an der Wand. Halb zwei Uhr nachts.
Sie war so furchtbar müde und sehnte sich nach einer Umarmung, einem tröstenden Wort. Doch gleichzeitig war sie froh, dass ihre Eltern nicht mehr lebten. Sie hätten den Tod ihrer ältesten Tochter nicht verkraftet.
„Bitte…“, sagte sie rau. Werner und Jonas unterbrachen ihr angeregtes Gespräch.
„Können Sie jemanden anrufen?“
Nein, bestimmt nicht. Nicht um zwei Uhr mitten in der Nacht.
„Natürlich“, antwortete Werner wie selbstverständlich. Er hatte erwartet, dass die junge Frau jemanden zu sehen wünschte. „Wen?“
Sie zögerte kurz, als wäre sie sich nicht sicher. Als Jonas jedoch einen Stift hervorholte, um sich die Nummer zu notieren, diktierte sie sie bereitwillig.
„Die Nummer ist von Simon Wieskötter, meinem Freund.“
Werner war zwar nicht der feinfühligste Mensch, aber er merkte, dass Jonas beim Notieren kurz innehielt, als sie das Wort Freund nannte, und auch nur langsam weiterschrieb, als passte es ihm nicht, diesen Namen zu Papier zu bringen.
Er seufzte unmerklich. Jonas musste noch so viel lernen; unter anderem zum Beispiel sich nicht in die Angehörige eines Mordopfers zu verlieben.
Aber Werner hoffte, dass es so weit noch nicht gekommen war.
Sein junger Kollege erhob sich gerade und verließ zum zweiten Mal den Raum, um besagten Freund anzurufen.
Werner sah der jungen Frau ihm gegenüber an, wie erschöpft sie war. Noch stand sie unter einem leichten Schockzustand. Der würde aber bald abklingen, und dann würde die Trauer mit eiserner Faust zuschlagen.
Deswegen war es wichtig, so viele Informationen wie möglich jetzt zu erfragen.
„Sie müssten mir nun eine Personenbeschreibung geben“, sagte er und drückte auf einen Knopf am Tisch. Daraufhin ertönte ein Rauschen aus der Sprechanlage, ein knappes ´ja´ erklang.
„Schicken Sie bitte Herrn Johannsen rein.“
Anna rieb sich die Augen. Sie glaubte immer noch, dass dies ein fürchterlicher Alptraum war, aus dem sie bald aufzuwachen hoffte.
Die Tür öffnete sich, aber nicht ihr Freund, sondern ein untersetzter dünner Mann mit einem Block in der Hand trat ein.
Er machte einen müden Eindruck, was Anna nur allzu gut nachvollziehen konnte.
„Das ist Georg Johannsen, unser Phantomzeichner“, sagte Werner.
Der Zeichner nahm Platz und zum zweiten Mal an diesem Tag musste Anna widerwillig eine ausführliche Beschreibung abliefern.






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