Weil das Leben schön ist... - Teil 2

Autor: MaryLou
veröffentlicht am: 21.05.2013


Kapitel II
Auf dem Weg zum Fahrstuhl blieb ich an jeder reflektierenden Oberfläche stehen. Obwohl ich mich nicht unansehnlich fand, trotz türkisenen Chiffontuchs welches mein kahles Haupt bedeckte, war es merkwürdig so ganz ohne dieses weibliche Attribut zu leben. Haare waren für mich schon immer etwas Essentielles. Fast wie die Luft zum Atmen… na ja, fast. Jedenfalls fehlten sie mir ziemlich, auch wenn ich nun schon eine ganze Weile ohne lebte. In der Therapiepause waren sie nur ein paar Zentimeter gewachsen und hatten sich angefühlt, wie der weiche Flaum eines Neugeborenen. Wie ein Stück Paradies. Kaum jemand hatte dem Versuch wiederstehen können, mir den Kopf zu streicheln; eine merkwürdige, fast magische Anziehungskraft.

Vor einer großen, doppelflügeligen Glastür blieb ich ein letztes Mal stehen und betrachtete mich eingehend. Die ovale Form meines Gesichtes kam jetzt, da ich kein Härchen mehr auf dem Kopf besaß, richtig zur Geltung. Genauso die hohen Wangenknochen, die das vorteilhafteste daran waren. Ich besaß den dicken Schmollmund meiner Mutter, die ihn ihrerseits von ihrer Großmutter väterlicherseits geerbt hatte. Die eisblauen, klaren Augen aber gingen auf das Konto meines Vaters und dessen Vaters zuvor. Meine Mutter hatte mir mindestens ein dutzend Mal erzählt wie sagenhaft klein meine Nase bei der Geburt war, so klein, dass man sie nur erahnen konnte. Über die letzten 26 Jahre war dies fast unverändert geblieben. Meine Nase war zierlich und schmal geschnitten und bildete einen starken Kontrast zu meinen vollen Lippen, was jedoch, betrachtete man alles im Gesamten, ein harmonisches Bild ergab.
Haare waren im Grunde tatsächlich alles, was mir zu meinem oberflächlichen Glück fehlte. Sicherlich würde es eine Ewigkeit dauern, bis sie wieder an ihrer alte Länge und honigfarbenen Pracht gewannen; wenn ich diesen Tag überhaupt jemals erleben sollte.

Mit ein paar Handgriffen zupfte ich mein Tuch noch einmal zurecht, dessen Ende ich zu einem Zopf geflochten hatte und locker über die Schulter trug. Es biss sich ein wenig mit dem lachsfarbenen Oversize-Shirt, jedoch störte mich das nicht im Geringsten, den von Farbe konnte diese Umgebung hier nicht genug bekommen.
Meine dunkelblaue Jeans war mir, wie fast alle meine Hosen über die Zeit, eine Nummer zu groß geworden, was jedoch von dem Shirt gut kaschiert wurde, da es die markantesten Stellen geschickt überdeckte. Vielleicht sollte ich doch mehr essen, dachte ich im Stillen, während ich, mein Shirt leicht angehoben, aufmerksam meinen Hintern betrachtete. Normalerweise besaß ich eine sehr weiche Figur mit schönen Rundungen, etwas größerem Busen und prallem Po. Man konnte mich fast mit einer Kim Kardashian vergleichen, wenn auch bei weitem mit nicht so mächtiger >Fracht im Heck<.
Bisher mochte ich meine Figur immer gerne und trieb viel Sport, dabei verlor ich aber nie an meinem weichen Erscheinungsbild oder an weiblicher Form, doch im Augenblick schlidderte ich zielgenau auf eine Kleidergröße 36 zu und darauf war ich überhaupt nicht scharf.

Ein fast stummer Seufzer löste sich aus meiner Kehle, als mir bewusst wurde, dass ich mich immer mehr veränderte und loslöste von dem, was ich einst war und gleichzeitig so unendlich weit weg schien, von dem, was ich gerne wieder gewesen wäre.
Nun ja… es war nun einmal so, wie es war; alles Jammern und alle Tränen der Welt änderten daran nichts. Ich atmete tief auf, ordnete meine Kleidung und wendete mich ab von meinem Spiegelbild.
Der Weg zum Fahrstuhl führte vorbei an so manchen Gestalten und offenstehenden Krankenzimmern. Zumeist mied ich es meine Blicke schweifen zu lassen, sondern hielt sie stumpf nach vorn gerichtet, als ob die Welt links und rechts von mir nicht existierte. Auf der großen Türe welche zu der Station führte auf der ich lag, prangte ein weißes Schild mit schwarzer Aufschrift, auf dem stand:
Keine Blumen und kein Eintritt für Kinder unter 12 Jahren!
Ich erinnerte mich noch genau an den Tag als sich die Pforten dieser Welt zum ersten Mal vor mir auftaten, wie das Tor zur Hölle, das mich augenblicklich verschlucken zu wollen schien. Und dieses Schild, das sich angefühlt hatte wie das Begrüßungskomitee des Teufels höchstpersönlich. Eine schillernde Ohrfeige und pures Grauen. Entsetzlich, als ob jemand mit einem stumpfen Messer über einen Porzellanteller scharbte/kratze und dieses Geräusch, welches sich einem bis ins Mark hineinfraß, in alle Ewigkeiten wiederhallte.
Heute konnte ich darüber schmunzeln aber vor halben Ewigkeit noch, war mir so, als ob ich niemals mehr lebend einen Fuß aus diesem Gebäude setzten würde. Wie ein Verurteilter auf seinem letzten Weg zum Henker. Unmöglich das jemandem zu beschreiben, der es nicht an eigener Seele erlebt hat.
Es war merkwürdig, sobald ich die Station verließ, schien mir das ganze Universum auf einmal freundlicher gesinnt. Die Luft war plötzlich klarer und der Geruchsmischmasch aus Sterilisationsmittel und Gummihandschuhen wie weg gewischt. Die Leute machten fröhlichere Gesichter und sogar die grauen Wolken am Himmel, sahen nur noch halb so grau aus. Ein subjektiver Betrug, das war mir vollkommen bewusst. Ich befand mich immer noch am selben Ort, im Krankenhaus, auf dem riesigen Gelände der Universitätsklinik, aber alleine das Wissen darum, dass ich mich mit jedem Schritt immer weiter von diesem zentrierten Ort des Schreckens entfernte, ließ die Illusion in meiner wahren Welt Wurzeln schlagen.
Deshalb und nur deshalb, ließ ich diesen Betrug in meinen Verstand einmarschieren mit wehenden Bannern und schmetternden Trompeten. Entzückt gab ich mich meinem Betrüger hin; denn ich wollte betrogen werden, wenn es um mein kleines bisschen, inneren Frieden ging.
Allmählich drängte sich mir doch die Frage auf, was zum Henker hier eigentlich vor sich ging. So richtig hatte ich mich bisher nicht damit auseinandergesetzt. Bisher lief ich einfach nur recht kopflos aber festen Schrittes meinem Ziel entgegen. Aber was genau war das Ziel?
Was genau lief hier eigentlich ab? Ein Arzt… also, mein Arzt, hatte mich um ein… ja, ein was eigentlich gebeten? Und hatte er mich gebeten oder mich nur eingeladen?
Und warum überhaupt? Tat ich ihm so leid oder wusste er mehr als er mir sagen wollte? Vielleicht stand es so schlecht um mich, dass er mich zu einer letzten Henkersmahlzeit in Gesellschaft einladen wollte?
Meine Güte, was tat ich hier überhaupt? Was genau dachte ich mir eigentlich dabei, wenn ich überhaupt irgendetwas dachte und mein Verstand nicht zugekleistert war von Tagträumen und romantischen Phantastereien über einem Mann, von dem ich im Grunde nichts wusste. Und wie sollte ich das meinen Eltern gegeben falls erklären? Und darüber hinaus… was war eigentlich mit Matthias?
Okay nein, das war zu viel für den Moment. Fein säuberlich mit gespitztem Bleistift und Lineal, strich in den letzten Gedanken wieder aus meinem Kopf.
Ganz ruhig. Durchatmen und locker bleiben.
„Ruhebewahren ist stets die effizientere Methode“, sagte mein Vater immer.
Tief sog ich die Luft um mich ein, um sie dann langsam wieder aus meinen Lungen hinaus zu pressen. Irgendetwas war merkwürdig an der ganzen Sache, aber es würde so oder so noch an Tageslicht kommen. Im Moment jedenfalls versuchte ich mich zu beruhigen und die Nervosität, die sich feurig über mir ergoss wie heiße Lava, zu verdrängen. Nur noch wenige Schritte.

Bevor ich den Fahrstuhl erblickte, sah ich schon einen hellen Fleck am Horizont der einen kleinen Stapel gelber Akte vor sich her trug. Und dann vernahm ich diesen Duft, eine Mischung aus taufrischem Morgen, glasklarem Wasser und Freiheit, schwer zu beschreiben. Ein wundervoller Geruch.
Für den Bruchteil einer Sekunde blieb ich stehen und konnte spüren, wie mein Nervensystem regelrecht zusammenbrach. Ich zwang mich weiter zu gehen und ruhig zu atmen. Mein Herz klopfte fast doppelt so schnell und ein kühler Schauer ran an meinem Körper hinunter, zäh wie flüssiger Honig. Er überzog mich mit süßer Erregung und meine Hände zitterten.
Dann bemerkte mich die weiße Gestalt.
Mindestens 1.000.000 Mal hatte ich diesen Menschen schon gesehen und so gut wie keines dieser Male war sonderlich positiv verlaufen. Meist bestanden unsere Treffen aus einer Aneinanderreihung von Begriffen die ich nicht verstand, aus Diagnosen, Ratschlägen, aus Befunden, Bedauern und vergebenen Bemühungen. Im Grunde kannte er mich besser als die meisten Menschen um mich herum und im Falle eines Falles wusste er, welche Blutgruppe ich benötigte, auf welche Medikamente ich allergisch reagierte und wie man mein Herz wieder dazu bringen konnte zu schlagen, sollte es doch einmal versuchen den Dienst zu quittieren. Und ich war mir sicher, dass kein Mann jemals zuvor und auch nie mehr einer danach, einen solch genauen Überblick über die Phasen meiner Mensis behielt wie er. Zählte man all diese Dinge zusammen, ergab sich daraus ein wirklich erschreckendes Bild. Wenn ich ihm gegenübertrat, gab es nichts mehr das ich vor ihm hätte geheim halten können, denn er kannte mich, im wahrsten Sinne, in- und auswendig.

„Sie sind zu spät,“ erklärte er mir, noch bevor ich richtig angekommen war und lächelte.
Ich drehte mich um die eigene Achse, bis mein Blick die großen Uhr im Eingangsbereich des Gebäudes 4c fand. Und tatsächlich, ich war zwei Minuten zu spät.
Ich zuckte lässig die Schultern und lächelte zurück.
„Na ja, besser ich als sie.“
Es waren vielleicht noch zwei, drei Schritte. Direkt vor ihm und dem Stapel Schicksal dass er in Papier und Plastik gehüllt mit sich trug, blieb ich stehen.
„Na, heute viel zu tun?“
Ich warf einen andeutenden Blick auf die Akten in seiner Hand.
Der heitere Ausdruck in seinem Gesicht sank. Ein undefinierbarer Ernst kroch glühend und heiß darüber hinweg und verbrannte jede Spur der Leichtigkeit in seinen Zügen. Es fiel ihm sichtlich schwer, angemessen auf meine Bemerkung zu reagieren. Als hätte ich ihn ruckartig, aus einem Zustand der mentalen Ruhe heraus gerissen und sie grob zu Boden geworfen und danach getreten. Ich kam mir in dieser Sekunde furchtbar unsensibel vor, auch wenn im Grunde genommen genau das sein Job war; damit klar zu kommen, das jeden Tag Menschen um ihn herum einfach starben und er gegen den Tod nur kleine Schlachten schlagen und nur kleine Siege erringen konnte. Denn den Krieg, gewinnt der Tot immer!
Ich wurde etwas unruhig und drückte auf den Fahrstuhlknöpfen herum, obwohl sie alle bereits grün aufleuchteten. Es war die Geste eines kleinen, unbeholfenen Kindes und innerlich stockte mir der Atem. Unglaublich wie ich mich benahm, was war denn bloß los mit mir?
Tief ausatmend lehnte ich mich gegen die Wand, sortierte meine Gedanken und lächelte.
„Wussten sie eigentlich, dass es in Alaska einen Frosch gibt, der seine Vitalfunktionen im Winter komplett herunter fährt? Also ich meine richtig aussetzt… sein Herz hört auf zu schlagen, die Gehirnaktivität liegt bei null und er hat dann nachweisbar keinen funktionierenden Kreislauf mehr.“
Er schmunzelte.
„Nein, das wusste ich nicht.“
„Doch, es ist wirklich so. Der Waldfrosch verfällt zum Winter hin in einen komplett todesähnlichen Winterschlaf. Er produziert ein eigenes, biologisches Frostschutzmittel aus Glukose und Harnstoff und schützt damit seine Zellen vor dem Frost und somit vor dem sicheren Tod. Und wenn es dann Frühling ist, beginnt, wie von Zauberhand, sein kleines, winziges Herz wieder zu schlagen“, eine bedächtige Stille trat kurz in mich ein und mein Blick verlor sich beinahe endlos im Raum, „das ist einfach großartig. Beneidenswert.“
„Dafür haben sie ja mich.“
Seine Stimme drang wie aus weiter Ferne zu mir hindurch.
„Wie?“
Merklich verwirrt starrte ich ihn an.
„Nun ja, sollten sie einmal auf die Idee kommen, ihr Herz in den Winterschlaf zu schicken, werde ich schon dafür sorgen, dass es wieder aufwacht. Ganz ohne Zauberei.“
Okay, er war Arzt, Menschen zu retten war sein Beruf und ich war nur eine Patientin unter Tausenden seiner gesamten Laufbahn, dennoch rührten mich seine Worte auf ganz wundersame, sanfte Weise, denn noch nie im Leben zuvor bemühte sich ein Mensch so sehr um mein Herz. Und noch nie zuvor, wog es sich in solcher Sicherheit wie… in seinen Händen.
Trotz der Aussicht auf einen heftigen Regenschauer spazierten wir gemütlich quer über die grüne Anlage, um ins Casino am anderen Ende der Klinik zu gelangen. Dabei überholten uns einige in weiß gekleidete Gruppen junger Studenten, die sich angeregt unterhielten.
Wir dagegen plauderten über Belanglosigkeiten jeder Art und mussten dabei amüsiert feststellen, dass der Leiter der nuklearmedizinischen Abteilung eine erschreckend auffallende Ähnlichkeit zu dem kahlköpfigen, glupschäugigen Golem aus Herr der Ringe besaß.
Noch eine ganze Weile lang scherzten wir harmlos darüber und fragten uns, wie wohl Frau Golem aussehen musste. Dabei gab ich jedoch zu bedenken, dass Ärzte fast aussehen konnten wie sie wollten, sie waren dennoch immer die Quaterbacks auf dem Feld. Und wie man wusste, bekam der Quaterback immer die beliebteste, heißeste Braut der Schule und auf dem Abschlussball, wurden sie - sozusagen ein unausweichliches Naturgesetz – immer zum Königspaar der Highschool gewählt. So war nun mal der Lauf der Dinge. Man könnte auch sagen: Sexappeal ist studierbar und bei Risiken und Nebenwirkungen fragen sie ihren Arzt, nicht ihren Apotheker.
Obwohl unsere Gespräche recht oberflächlich blieben, erheiterten sie mich dennoch enorm.
Als wir in der Kantine ankamen herrschte ein geschäftiges Treiben und das Klappern von Geschirr vermischte sich mit dem Gewirr an Stimmen und dem dampfenden Rauschen von Kaffeemaschinen. Nirgendwo hatte ich bisher so viele ihrer Sorte auf einem Platz gesehen. Als ob man so gerade eben die berüchtigte Höhle des Löwen betrat; beinahe beängstigend.
Er deutete mir den Weg und gemeinsam drängten wir uns durch die Masse vorwärts in Richtung der Tabletts. Ordentlich reihten wir uns in die Schlange ein und begutachteten das unter grellem Licht ausgelegte Angebot an Spießen.
Letztlich entschied ich mich für Tagliatelle an Lachs in einer kalorienreichen Dillsauce, mit einem kleinen Schälchen Salat und grüner Götterspeise zum Nachtisch, die garniert war von einer dicken Sahnehaube.
Er bestellte sich eine Portion Tortellini ala Fungi mit grob gehobeltem Parmesanstücken und einem großen Teller Salat. Den Nachtisch ließ er weg.
Als wir es dann endlich noch schafften einen Sitzplatz zu ergattern, ließen wir uns zufrieden nieder und begannen gemütlich zu essen, obwohl um uns herum eine mächtige Geräuschkulisse tobte.
Ein paar Ärzte liefen vorbei, begrüßten ihn und betrachteten uns, wenn auch nur verhohlen, mit aufmerksamer Neugierde. Es störte mich wenig, wie es ihm aber damit ging konnte ich nicht sagen und aus seinem Gesicht, war absolut nichts heraus zu lesen.
„Wissen sie, man müsste meinen, all diese hochstudierten Leute hätten durch ihre Ausbildung ein gewisses Maß an Diskretion erlernt“, begann er und schob sich mit dem Messer ein großes Pilzstück auf die Gabel, „aber da habe ich mich wohl getäuscht. Das erstaunliche dabei ist, dass Diskretion eines der Hauptmerkmale ist, welche einen Arzt kennzeichnen sollten.“
„Neben dem weißen Kittel, meinen sie“, erwiderte ich kichernd und konnte mich dabei selbst gerade noch davon zurückhalten, in schallendes Gelächter auszubrechen.
Er lächelte, es war das Lächeln eines guten Verlierers, welches sein makelloses Gesicht schmückte.
„Ja, natürlich! Ich habe ganz vergessen welche Leidenschaft sie für weiße Arbeitsbekleidung hegen.“
„Oh-ha, wenn sie wüssten. Es ist mehr ein… nötiges Übel.“
„Jetzt fühle ich mich aber beleidigt“, empörte er sich mit aufgesetzter Miene.
„Nun ja, ich denke das gehört zu so etwas wie - ihrem Berufsrisiko?“
„Ja, wohl eines von vielen welches mir bisher entgangen war“, entgegnete er mir und steckte sich einen weiteren Bissen in den Mund. Ich grinste und tat es ihm gleich.
„Nun ja, wissen sie… ich wollte nicht in ihren Schuhen stecken. Ich meine, es ist ja anscheinend für die Menschheit eine arg wichtige Angelegenheit Ärzte um sich zu wissen, aber sind wir mal ehrlich. Ärzte sind ja auch nur Menschen und Menschen sind nun mal ziemlich Fehlprogrammiert. Das heißt auch, dass wir nur ein Gewisses Maß an Leid erdulden können, abgesehen von unserem eigenen. Die Logik dessen wäre also folglich, dass kein Mensch dazu geschaffen ist Arzt zu sein, denn wer bitte schafft es schon das Leid der halben Bevölkerung mit sich zu tragen, wenn wir manchmal schon total überfordert sind mit dem eigenen?“
Er blinzelte mich verdutzt an, legte das Besteck nieder und griff nach seinem Trinkglas.
„Ihre Logik ist nachvollziehbar, aber dennoch muss ich sie daran erinnern, dass man nicht alle Menschen über einen Kamm scheren kann. Eine Frau in der Steppe Afrikas verträgt mehr Leid, sei es körperlich oder geistig, als eine Deutsche Durchschnittsfrau… sollte man meinen. Aber wie bei jeder Erkrankung zum Beispiel, lehrt uns die Erfahrung, dass jeder Organismus mit einem Ausgangspunk… sagen wir zum Beispiel einer Krebserkrankung, anders umgeht als ein anderer. Dabei spielt es auch erfahrungsgemäß keine tragende Rolle, ob die betreffende Person irgendeiner bestimmten Ethnie angehört. Entscheidend ist also nicht das was, sondern das wie.“
Seine Augen funkelten auf, als ob sie mich zu einem Duell forderten.
„Nun, dass stimmt. Ich würde behaupten sie haben zu einem Teil Recht. Aber wie mich m-e-i-n-e Erfahrung lehrt, distanzieren sich Ärzte von ihren Patienten zunehmend. Ich habe mehr als einmal belauscht, wie sie sich im Flur, bevor sie ein Krankenzimmer betreten, über den Patienten als >Fall< unterhalten haben. Ich meine…“, ich setzte ab und nahm demonstrativ ein Schluck Wasser zu mir, um meinen Worten die nötige Dramatik zu verleihen, „…das ist wohl die gängigste Methode für die meisten ihres Berufsstandes, abends noch richtig schlafen zu können oder liege ich da falsch?“
Er schwieg, nahm ebenfalls einen großen Schluck aus seinem Glas, stellte es ab und blickte mich forschend an, als ob er versuchen wollte zu verstehen, wer da eigentlich gerade >wirklich< vor ihm saß. Erstaunlicherweise hielt ich dem stand und es war so als ob ich mich genau jetzt, in die stärkste Ausgabe meiner selbst verwandelte.
„Wie sie sagten, Ärzte sind auch nur Menschen. Dennoch schläft der eine nachts besser als der andere, denn der Mensch ist kein Einheitsprodukt vom Fließband. Jeder ist ein vollkommen einzigartiges Individuum. Auch wenn unsere biochemische Zusammensetzung die gleiche ist.“
Es herrschte eine Weile ein eigenartiges Schweigen, bis ich es durchbrach.
„M-mh“, nickte ich einvernehmend, „ich verstehe worauf sie hinaus wollen. Aber sehen sie es einmal so, für einen Patienten… das kann ich sagen, weil ich ja einer bin, ist es gar nicht so leicht sich damit zufrieden zu geben ein >Fall< zu sein. Es hat etwas enorm Entwürdigendes. So etwas beinah...“, ich überlegte um die richtigen Worte zu finden, „… so etwas beinah stigmatisierendes. Wenn man da liegt und sich ohnehin schon ziemlich beschissen fühlt, gibt einem einfach keinen Auftrieb zu wissen, dass man eine Nummer von vielen ist. Eine Akte von vielen, deren besagter >Fall< entweder irgendwann gelöst wird oder… als “ungelöst“ im Archiv verstaubt. Bis in alle Ewigkeit. Weil… für einen selbst, also für mich, hat mein Leben - in diesem konkreten >Fall< mein Überleben, aller höchste Priorität und da ist es einfach kein beruhigendes Gefühl… nun ja… zu wissen, dass es für mein Gegenüber nicht so ist.“
In einem Augenblick der verzerrten Wirklichkeit, suchte er meinen Blick mit fremdartiger Härte.
Er konfrontierte mich mit seinem in einer solch ungewohnten Direktheit und dennoch seltsamer Nähe. Als ob ich so gerade eben einen lodernden Feil mitten in das zerebrale Kontrollzentrum seines Geistes geschossen hätte. Seine Augen bohrten sich durch mich hindurch, durch mein Fleisch, durch jeden Muskel und jede Faser, jeden Knochen, vor zum Kern meines Daseins. Was er dort zu finden glaubte wusste ich nicht, was er suchte ebenso wenig. Nur, dass ich mich plötzlich irgendwie sehr verwundbar fühlte.
„Sie gehen sehr hart mit Meinesgleichen ins Gericht“, verkündete er nach einer gefühlten Ewigkeit, mit unverhofft ruhiger Stimme.
„Meinen sie? Weshalb?“
„Glauben sie, sie sind die einzige Patientin die ein Arzt im Laufe des Tages zu Gesicht bekommt?“
„Glauben sie denn, sie sind der einzige Arzt. Ärzte gibt es hier beinahe so viele wie Patienten. Ändert dies die Sachlage? Mhm… Ich glaube nicht.“
Er griff nach einer der weißen Servietten und wischte sich damit über den Mund; eine geradezu grazile Geste, die aber - unbeschönigt - von Wut zeugte.
„Woher wollen sie wissen, ob all ihre erdachten, netten Theorien was uns Ärzte angeht wahr sind oder nur auf ihrer eigenen, subjektiven Wahrheit beruhen. Denken sie allen Ernstes, man könnte diesen Beruf tagtäglich ausüben, wenn man nicht die Aussicht darauf hätte jemandes Leben zu retten. Wenn man nicht mit seinem Patient gleichermaßen mithoffen- und bangen könnte. Auch wenn unsere Hoffnung… nun ja, sagen wir begrenzter ist als die der Patienten. Sprechen sie einem Arzt etwa seine Menschlichkeit ab?“
Auch wenn ich nicht gewollt hatte, dass unser Gespräch solche Ausmaße annahm, konnte ich bei bestem Willen nicht mehr zurück.
„Genau das Gegenteil ist der Fall. Denn das ist ja der Grundkern unseres Problems. Wäre der Arzt weniger Mensch, wäre er mehr in der Lage der Wahrheit ins Auge zu blicken. Dann müsste er sich nicht verstecken hinter gelben Akten und weißen Kitteln und Fällen und Nummern und Lehrbüchern. Sondern er wäre einfach nur… na ja Arzt. Und wie ich bereits mehrfach erwähnt habe, ist die Prämisse eines Arztes seine Menschlichkeit, die ihm im Weg steht… die ihm regelrecht verbietet, sich dem Leid seiner Patienten zu stellen, weil er sonst daran zu Grunde gehen würde. Ich sehe eher so: Arzt zu werden ist schon schwer, Arzt zu sein noch viel mehr!“
Stille. Etwas gezwungen stocherte ich in meinen Nudeln herum und versuchte mir ein paar auf die Gabel zu wickeln.
„Ich glaube sie halten mich jetzt für verrückt oder so. Das verstehe ich auch… aber, es handelt sich ja hierbei nur um meine eigene bescheidene Meinung. Ich habe ihn nur die Gründe erläutert, warum ich nicht in ihren Schuhen stecken wollte. Ärzte sind eigentlich etwas fürs Märchenbuch… quasi nicht lebensfähig, wenn man so will. Nur ein Bruchteil von ihnen hält wirklich was aus und der größte Prozentsatz ist schon verloren, noch bevor er das Studium antritt. Arzt zu werden ist keine Sache des Verstandes oder des Geldes oder… ich weiß auch nicht, aus welchen Gründen Leute auch immer so Ärzte werden. Es ist vielmehr eine Sache des >wie viel und wieweit<. Wie viel kann ich ertragen, bis ich darunter zusammenbreche und wie weit komme ich dann, ohne dass es die anderen bemerken. Und ab d-i-e-s-e-m Punk… werden d-i-e Ärzte geschaffen, die sich nur noch über Fälle und Nummern unterhalten. Verstehen sie, das ist doch das Paradoxem schlechtweg hin. Der Punkt ab dem sie ihre sogenannte Menschlichkeit verlieren, ist der Punkt, ab dem sie überhaupt Ärzte sein können, das ist doch verrückt… wie kann jemand ohne Menschlichkeit solche menschlichen Nöte lindern. Ein Mensch ohne Menschlichkeit k-a-n-n kein Arzt sein, aber gleichermaßen ist ein Arzt mit ihr… nicht… na ja, überlebensfähig. So seh‘ ich das jedenfalls“
Er sagte nichts, sondern blickte mich unverwandt an. Es fühlte sich an, als ob meine Haut in Flammen stand. Ich spürte die Verlegenheit die durch mich hindurch kroch und mir die Kehle zuzuschnüren versuchte.
„Wissen sie… ich denke, sie sind einfach zu klug für ihr Alter.“
Ein besänftigender Ausdruck trat in sein Gesicht und plötzlich brach die eiserne Mauer zwischen uns und Wärme zog ein.
Vollkommen unerwartet begann mein Herz auf einmal heftig zu springen und meine Brust fühlte sich zu eng an, um es noch in sich halten zu können. Ich spürte wie ich rot wurde und kämpfte mit diesem Muskel, dessen wilde Kontraktionen mich geradewegs in den tiefsten Abgrund der Scharm stürzen ließen.
„Na ja, der eine nennt mich gescheit, der andere neumalklug. Beides auf seine Weise schmeichelhaft“, erklärte ich und rang nach jedem Wort.
„Sie sind wirklich… eine ausgesprochen eigenartige, junge Frau. Wenn ich ehrlich bin, bisher habe ich noch nie jemanden wie sie getroffen.“
Ob positiv oder negativ gemeint, sicher war ich mir nicht.
Er beugte sich vor und lehnte die Elenbogen auf die Tischkante. Mit verschränkten Händen vor sich, schaute er mich an.
„Auch wenn ich finde, dass ihr Urteil über meinen Berufstand dennoch zu hart ist, trägt es eine eigenartig Wahrheit in sich, auch wenn sie ziemlich abstrakt ist.“

Was zum… meine Knie zitterten obwohl ich saß. Mein Brustkorb hob und sank sich verdächtig schnell und ich konnte regelrecht das Blut in meinen Ohren rauschen hören. Um ehrlich zu sein, ich fühlte mich als sei ich geradewegs dabei einen epileptischen Anfall zu bekommen oder… als hätte ich sie einfach nicht mehr alle beisammen.
Im Versuch nicht dabei zu zittern, führte ich die aufgewickelten Nudeln in meinen Mund und begann zu kauen. Er schmunzelte und sah mir dabei zu, als ob ich zuvor per Werbung dazu aufgerufen und limitierte Eintrittskarten verkauft hätte.
„Wollen sie das nicht mehr essen?“ Mit der Gabel in der Hand deutete ich auf seinen noch halbvollen Teller und den nur angeknabberten Salat. Er schüttelte den Kopf.
„Nein, soviel Hunger habe ich gar nicht mitgebracht. Dafür hab ich aber eine reichhaltige Konversation genossen.“






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